Mission, nicht Missionierung

Von Eva Wolk |
Die Pastoral ist das, womit sich der Pastor, übersetzt "der Hirte", vorwiegend beschäftigt: Seelsorge im weitesten Sinn. Die Citypastoral, eine neudeutsche Wortcollage, ist eine Reaktion der Kirchen auf die Jahre nach 68, als die Schäfchen ihrer Kirche den Rücken kehrten. Die erste Citypastoral hieß noch anders, nämlich "Kirche für die Stadt". Und diese Stadt, die vor fast 35 Jahren als erste die Seelsorge modernisierte, war Hamburg.
Hamburg Anfang der 70er-Jahre. Magere Zeiten für die Gotteshäuser. In den fünf großen Hamburger Hauptkirchen ist viel Platz – im doppelten Sinn: Allein in die größte, St. Michaelis, passen 2500 Menschen. Lange her, dass sie voll war. Auch St. Petri, St. Katharinen, St. Jakobi und St. Nikolai leeren sich mehr und mehr. Der promovierte Theologe Klaus Reblin ist um diese Zeit Hauptpastor der Kirchengemeinde St. Katharinen und Mitinitiator der Initiative "Kirche für die Stadt", wie die Citypastoral in Hamburg bis heute genannt wird.

"Entstanden ist es aus `ner schwierigen Situation der Hamburger Hauptkirchen. Die Gemeinde, die am Ort, unter dem Kirchturm wohnt, das sind heute nur noch 300. Vor 30 oder 40 Jahren waren das noch etwa 30.000! So schnell hat sich das vermindert. Und aus dieser Situation heraus ist dann die Frage entstanden: Was fangen wir eigentlich mit den großen Kirchen an? Und dann haben wir uns – die Hauptpastoren dieser Innenstadtkirchen – zusammengesetzt und haben ein Konzept erarbeitet – mit Predigten, mit Laienpredigten, mit Veranstaltungen, mit Festen, mit kleinen Diskussionen, mit Vorträgen, mit Gottesdiensten und so fort. Inzwischen gibt es kaum eine große Stadt in Deutschland, die nicht irgendwie ein solches Projekt macht."

Was heute Citypastoral, Kirche für die Stadt, Citykirche oder Offene Kirche heißt, hat eine Vorgeschichte, die bis ins Mittelalter zurückreicht.
"Die Franziskaner und Dominikaner waren ja die ersten Orden, die ihre Niederlassungen, ihre Klöster in den Städten bauten. Die haben gesagt: Wir wollen so dicht wie möglich bei den Menschen sein. Und so ist im Grunde "Kirche für die Stadt" im Mittelalter – im Hochmittelalter und im Spätmittelalter – eine Sache der Mönche gewesen. Die kümmerten sich um die Armen, um die Kranken, um die Bettler. Dann kam natürlich die Reformation: Luther mit seiner berühmten Schrift "De Votis Monasticis", "Über die Mönchsgelübde", in der er die Meinung vertrat, dass man einen Menschen nicht lebenslang binden kann – das widerspricht der evangelischen Freiheit; außerdem wird man durch ein Mönchsgelübde nicht frömmer als andere Leute auch – was dazu geführt hat, dass die Klöster leergefegt wurden, so dass sich die Reformatoren die Frage stellten: Was muss eigentlich jetzt für die sozialen Belange der Stadt getan werden? Und da haben die Reformatoren sogenannte Kirchenordnungen verfasst …"

"Christliche Ordnung der ehrbaren Stadt Hamburg" hieß die Kirchenordnung von 1529, die Johannes Bugenhagen für die Stadt an der Elbe aufschrieb. Sie enthielt nicht nur ein Reglement für das kirchliche Leben, sondern durch praktische Hinweise und Vorschriften auch eins für das Sozialleben in der Gemeinde. 1848 schuf dann der Hamburger Theologe Johann Hinrich Wichern mit der "Inneren Mission", der späteren Diakonie, einen Meilenstein in der Geschichte der Sozialarbeit der evangelischen Kirche. Der Begriff "Diakonie" bezeichnet zunächst ganz allgemein den Dienst am Menschen im kirchlichen Rahmen. Die Citypastoral ist eine moderne Form davon.

"Manche Menschen - und es sind nicht wenige - kennen Glauben heute nur noch vom Hörensagen, tragen gar vielfache Zerrbilder von Kirche in sich und vermögen nicht mit zu vollziehen, dass der Glaube Hilfe zum Leben sein könnte. Für solche Menschen behutsam präsent zu sein, als Ansprechpartnerin und Ansprechpartner verfügbar zu sein, dies ist eine zentrale Intention der Citypastoral."

So formulierte der Freiburger Weihbischof Paul Wehrle den Kern der Citypastoral in den Freiburger Texten 2002. Und genau diese Intention wird heute in Hamburg umgesetzt mit der "Kirche für die Stadt". Die Hauptkirche St. Petri, älteste Pfarrkirche in Hamburg, steht mitten in der City. Eine "Alltagskirche", wie Hauptpastor Christoph Störmer sie liebevoll nennt. Denn im Unterschied beispielsweise zum Michel – der Symbolkirche der Stadt, die täglich Busladungen voller Touristen aushalten muss – ist St. Petri mehr eine Anlaufstelle, wo Menschen beim Shoppen eine Pause einlegen, nach der Arbeit vorbeischauen – eben die Alltagshetze unterbrechen. Die Unterbrechung sei die kürzeste Definition von Religion, formulierte der Theologe Johann Baptist Metz. Ein beeindruckender Satz – der einen ganz bestimmten Aspekt der Citypastoral genau trifft. Christoph Störmer:

"Diese Hauptkirche St. Petri steht nun mal an der Einkaufsmeile. Und das ist das Pfund, mit dem wir wuchern müssen. Wir haben auch nur hundert Gemeindeglieder, die hier wohnen im Umfeld – weil sie weitgehend entvölkert ist, die Innenstadt – aber gleichwohl haben wir täglich 1000 bis 1500 Besucher in der Kirche. Es gibt einen Raum der Stille, eine Cappella – "Cappella" heißt ja "das Mäntelchen", wo sich Menschen drin bergen. Es gibt eine Barbara-Kapelle, wo täglich Menschen ihre Gebete aufschreiben. Es gibt eine Marienstatue – viele Menschen denken, oh, das ist eine katholische Kirche hier. Wir sind also eine in vielfacher Hinsicht "aufgeschlossene" Kirche: täglich geöffnet und aufgeschlossen für alle Konfessionen. Also auch eine russische Ikone findet sich bei uns …"

Reblin: "Vor drei oder vier Jahrzehnten war es so, dass die evangelischen Kirchen im Grunde während der Woche zu waren. Die wurden geöffnet am Sonntag für den Gottesdienst. Das hat sich ja total verändert – 'Kirche für die Stadt' heißt, dass die Kirchen offen sind, und zwar den ganzen Tag, die ganze Woche durch, und dass man kommen kann, sich hinsetzen kann, zuhören kann – aber dann kann man im Grunde auch einfach wieder gehen! Man muss sich da nicht binden. Und diese Offenheit, die halte ich bei 'Kirche für die Stadt' für das Allerwichtigste."

Und sie kommt an, diese Offenheit – das eine oder andere Mal auch auf unwillkommene Art und Weise. Sie können schon nerven, die spontanen Besucher, die Christoph Störmer "religiöse Autisten" nennt.

"Also das ist manchmal aber auch dramatisch, finde ich: Dass also Leute mitten in einen Gottesdienst reinlatschen und sich überhaupt nicht kümmern, dass da eine Gemeinde singt und betet, sondern treten nach vorne und zünden eine Kerze an am Lichterkreuz, und nicht nur eine, manchmal auch zehn Kerzen, und latschen mitten durch die Gemeinde wieder nach draußen. Und wenn man sie dann fragt, merken Sie nicht, dass hier ein Gottesdienst … Wieso, ich darf doch hier beten, oder darf ich das nicht! – Also der Autismus an dieser Stelle ist auch dramatisch. Aber dass man nicht zugetextet wird vom Pastor, sondern dass man selbst aktiv ist wiederum, dass ist die andere Seite der Medaille. Und da was zu entwickeln, wo Menschen einerseits ein Stück Bindung und Geborgenheit erleben – dafür steht dieser alte Korpus der Kirche mitten in der Stadt – und gleichzeitig ein großes Stück Freiheit erleben: Dass ich nicht gleich eingefangen werde, gefragt werde, bin ich Mitglied der Kirche? Selbst die Ehrenamtlichen in der Kirche und im Beratungszentrum werden nicht gefragt, ob sie Mitglieder der Kirche sind. Das entwickelt sich manchmal."

Ohne das Engagement dieser Ehrenamtlichen könnte St. Petri eine so vielfältige Citypastoral kaum auf die Beine stellen. Zum Beispiel die Formen ganz konkreter Hilfeleistung, oft auch mit Unterstützung anderer Sozialstellen oder der Hamburger Wirtschaft.

"Die Petri-Kirche hat das größte Beratungs- und Seelsorgezentrum, soweit ich weiß, sogar bundesweit. Man muss sich das vorstellen ähnlich wie bei der Telefonseelsorge: Man kann hier jederzeit reinschneien tagsüber und hat ein Team von drei bis fünf Leuten dort sitzen, von denen man sofort in einen Extra-Raum geführt werden kann und dann seine seelischen, seine familiären, seine Einsamkeitsprobleme, seine Eheprobleme erörtern kann … Also "hier wirst du geholfen", wie man so schön sagt heute – sofort, anonym, ohne Wartezeit …"

Und was bringt das Alles der Kirche? Die Citypastoral könne von "diskreter missionarischer Präsenz" sein, so schreibt Paul Wehrle in den Freiburger Texten. Wie ist das in der Stadt, in der die Citypastoral vor fast 35 Jahren ihren Ursprung hatte? Ex-Pastor Reblin und Pastor Störmer freuen sich über den Erfolg ihrer "Kirche für die Stadt". Sie wird angenommen. Und weiter? Gar nichts weiter, antwortet Klaus Reblin.

"Ich glaube, dass bei 'Kirche für die Stadt' es nicht darum geht, Menschen wieder einzufangen, die fortgelaufen sind."

Störmer: "Das deutsche Wort Mission ist ein bisschen diskreditiert – das englische oder amerikanische klingt viel besser: 'You´ve got a mission'. Also was ist unsere Mission, was ist unsere Berufung, was ist unser Anspruch – und der ist nicht in erster Linie, Menschen einzugemeinden, sondern Menschen zu begleiten, ihnen als Passagieren auf diesem Raumschiff Erde immer wieder eine Gaststätte zu sein – ein 'spirituelles Gasthaus', sagen wir manchmal, sind wir. 'Anderort' – es hat mal irgendjemand den Begriff 'Anderort' geprägt. Hier ist Kommerz, hier ist Rathaus, hier ist Kultur in der Stadt, und die Menschen sind in Hektik – und die Kirche ist ein 'Anderort' …"

Ohne die festen Mitglieder müsste das spirituelle Gasthaus freilich irgendwann dichtmachen. Die Citypastoral braucht ganz einfach ein Dach überm Kopf – die Hardware, wie Pastor Störmer es ausdrückt.

#"Dazu gehört eine stämmige Kirche, die Mauern hat, und die versorgt werden muss, damit die Fenster nicht rausfliegen beim Sturm oder die Ziegel vom Dach und so. Also braucht es auch einen festen Stamm von Leuten, die sagen: Ich bin Mitglied – mit Selbstbewusstsein. Es gibt die Sympathisanten, die sagen, ich unterstütz´ die Arbeit der Kirche, und das tun ja ganz viele. Die diskreditier´ ich halt nicht als Karteileichen-Christen. Das sind Menschen, die einfach ihre Kirchensteuer zahlen und sagen, die Kirche macht gute Arbeit. Und deshalb gehen wir auf die Menschen zu und fragen dann aber nicht: Bist du Mitglied der Kirche? Wer ins Beratungs- und Seelsorgezentrum kommt, wird nicht 'eingemeindet'."

Bei der Citypastoral, der "Kirche, die nach draußen geht", wird umgekehrt ein Schuh draus: Die deutliche Botschaft, dass es ums Begleiten und Unterstützen oder einfach um das Angebot der Offenen Tür geht, kommt an, und manchmal führt das Annehmen und die Nutzung dieses Angebots zum Eintritt in die Kirchengemeinschaft.

Störmer: "Das ist unglaublich, was Menschen erleben in der Kirche. Also unsere Gottesdienste sind nur mäßig besucht, aber was Leute in den Briefen schreiben, wie sehr ihnen hilft, dass sie täglich diese Kirche besuchen können …"

"Sehr geehrter Herr Pastor Störmer, als im letzten Spätsommer mein Lebensgefährte plötzlich durch einen bösartigen Hirntumor aus seinen gewohnten Lebenszusammenhängen gerissen wurde, habe ich ein halbes Jahr lang den Leidensweg seiner Krankheit und sein Sterben begleitet. In dieser schweren Zeit ist die Petri Kirche für mich zu einem Ort der Zuflucht, der Besinnung, des Friedens und der Kraft geworden. Jeden Tag habe ich die Hör-Zeit-Andachten besucht. Immer wieder haben Worte, die dort gesprochen wurden, mein Herz und meine Seele berührt, haben getröstet und Wege aufgezeigt, mit dem Leben besser fertig zu werden. Sehr wichtig war auch, dass diese Kirche ein Ort war, wo ich so sein durfte wie ich war: traurig, verzweifelt, verloren."

Störmer: "Auch die Marienfigur zum Beispiel. Da war ein Vater vor einiger Zeit hier, der hatte ein zweijähriges Kind, das eine schwere Herzoperation brauchte, und wo er in ganz großer Sorge war, ob er das tun soll oder nicht. Und er war wochenlang mit der Maria im Gespräch, sagte er, und hat irgendwann das Gefühl gehabt: Sie guckt mich an und macht mir Mut zu dieser Operation. Und dann sind die in die USA gefahren – und er ist dann auch in die Kirche eingetreten. Also wir sind auch ne Kircheneintrittsstelle, wo Menschen eintreten aufgrund einer persönlichen Lebenssituation und nicht, weil es tradiert ist. Und das ist das Wichtigste, denk´ ich, was wir theologisch heute tun müssen und auch tun: Dass wir aufgeschlossen sind. Also jeder kennt die Petrus-Witze, dass man vor der Himmelstür erst Mal gefragt wird, ob man würdig ist, eingelassen zu werden. Wenn aber auf Erden schon die Leute immer gegen eine geschlossene Kirchentür rennen, dann ist das ein schlechtes Signal."