Missbrauchsopfer wurden früher "nicht ernst genommen"

Jürgen Lemke im Gespräch mit Joachim Scholl · 24.03.2010
Der Therapeut des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerkes Berlin, Jürgen Lemke, begrüßt die neue Qualität der Debatte über sexuellen Missbrauch. Es meldeten sich heute Opfer zu Wort, die aus der Mitte der Gesellschaft stammten und eine Stimme hätten, sagte Lemke.
Joachim Scholl: Hat die sexuelle Liberalisierung der Nach-68er-Zeit den Missbrauch von Kindern begünstigt? Wahr ist jedenfalls, dass seitdem pädophile Vereinigungen offen für ihre Veranlagung geworben haben, sich auch als verfolgte, unterdrückte Gruppe stilisierten und den Sex mit Kindern als Fortschritt propagierten. Im Studio ist jetzt Jürgen Lemke. Er ist Therapeut beim Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerk in Berlin. Er kümmert sich um Missbrauchsopfer, und Jürgen Lemke hat auch an dem Buch mitgewirkt "Es geschieht am helllichten Tag: Die verborgene Welt der Pädophilen und wie wir unsere Kinder vor Missbrauch schützen". Guten Morgen, Herr Lemke!

Jürgen Lemke: Guten Morgen!

Scholl: Die 1970er- und 80er-Jahre lassen sich auch als fortschrittliche Zeit beschreiben, Herr Lemke, in der die deutsche Gesellschaft sexuell freier wurde. Haben Pädophile dieses Klima ausgenutzt, um ihr Anliegen gewissermaßen gesellschaftsfähig zu machen?

Lemke: Die kurze Antwort darauf ist, ja. Aber ich möchte betonen, was jetzt auch des Öfteren in den Medien zu lesen oder zu hören ist, dass es grober Unfug ist zu behaupten, dass diese pädosexuelle Anlage, dass Menschen mit einer pädosexuellen Anlagen durch diese sogenannte sexuelle Revolution 68 so mehr geworden sind. Also ich behaupte, die Herausbildung einer pädosexuellen Anlage hat also nichts mit 68 zu tun. Aber was mit 68 zu tun hat, das ist, wie mit dieser Anlage, mit dieser sexuellen Orientierung dann umgegangen wird. Und das ist auf jeden Fall anders nach 68.

Scholl: Wie wurde dann sozusagen das begründet, also mit welchen Argumenten wurde da gearbeitet, also dass Sex mit Kindern ja auch so etwas wie Fortschritt sei?

Lemke: Also wissen Sie, es ist immer wieder zu hören gewesen, dass es in der Sexualität keine Grenzen geben darf. Und Sexualität ist frei, und das bedeutet, dass auch Kinder eine selbstständig oder selbstbestimmte freie Sexualität leben dürfen, und den Kindern ist sozusagen in den Mund gelegt worden, dass sie auch das Recht haben mit Sexualität mit Erwachsenen. Also die pädosexuellen Bedürfnisse sind in die Kinder hineininterpretiert worden.

Scholl: Wie haben die Pädosexuellen-Vereinigungen – also Sie sagen pädosexuell, wir sagen pädophil, das ist eine andere Gewichtung – wie haben die das aber sozusagen auch öffentlich gemacht, wo fand diese Philosophie Widerhall und wie?

Lemke: Na ja, diese Philosophie fand zunächst Widerhall bei den 68ern, die also sehr politisch radikal die Forderung umsetzten und die überhaupt nicht nur Grenzen in der Sexualität hinwegfegten, sondern auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Und in dem Moment – man muss ja davon ausgehen, dass das eine sexuelle Orientierung ist, dass diese Menschen sich an kindlichen Körpern sexuell erregen, dass die in dem Moment sagt, ja, auch wir haben sozusagen Rechte und die formulieren wir, die setzen wir durch. Und es gab so gesehen erst einmal keinen Widerstand innerhalb dieser Bewegung. Und im Laufe der Zeit kam es dann auch zu organisatorischen Gründungen und Zeitschriften et cetera.

Scholl: Nun kann man sagen, dass sich also ein solches Klima ausgebreitet hat in, ja, den linken Zonen der Gesellschaft, also die Kinderladenbewegung, die Ökobewegung, überall, wo sozusagen Fortschritt, Avantgarde gesellschaftlich propagiert wurde. Wie tief hat das denn aber auch ins bürgerliche Milieu gereicht? Gab es da überhaupt keine, ja, keine Stoppschilder, keine Warnsignale, wo man sagte also, hört mal zu, so geht es aber nicht?

Lemke: Ja, das hat sehr tief – ich nehme an, mit bürgerlichem Milieu meinen Sie Konservative, konservative Schichten. Also diese konservativen Schichten haben schon sehr wohl ausgedrückt, dass es ihnen großes Unbehagen bereitet, was da passiert, aber sie waren wie überrollt. Es war also eine sehr ich möchte mal sagen schlagkräftige Bewegung, und ich bezeichne ja also die Pädosexuellen oder Pädophilen, wie Sie sagen, als Trittbrettfahrer, die also aufgesprungen sind auf diese Bewegung, die ja also Homosexualität befreite und die auch Alten Sexualität zusprach, überhaupt jedem Menschen.

Scholl: War die Reformpädagogik jener Jahrzehnte solcher Art auch infiltriert?

Lemke: Also ich denke, dass also grundsätzlich in geschlossenen Systemen, wo so Machtverhältnisse ganz stark ausgeprägt sind, dass in diesen geschlossenen Systemen, wo auch Nähe sozusagen ist, und das ist ja auch bei der Pädagogik erforderlich, dass die immer gefährdet sind und auch waren und auch vorher, also Jahrhunderte oder Jahrtausende vorher, schon Brutstätten der sogenannten Kinderliebe waren, Knabenliebe waren, dass die immer gefährdet sind.

Scholl: Der historische Kontext des Missbrauchs. Im Deutschlandradio Kultur ist der Therapeut Jürgen Lemke zu Gast. Wenn man das lange Schweigen der Opfer anschaut, das nun auch beständig thematisiert wird, hat das auch mit jenem Zeitgeist von damals zu tun, wenn man ihn so charakterisieren will, hat dieses Klima die Missbrauchten stumm gemacht?

Lemke: Also ich denke schon, denn dass sich jetzt erst, also nach so vielen Jahren, nach Jahrzehnten, also Menschen aus der Mitte der Gesellschaft klar äußern, dass sie das auch schon damals als Missbrauch empfunden haben, bloß sie nicht in der Lage waren, sich zu wehren, weil, ja, weil sie überrollt worden sind und manipuliert worden sind. Ich denke, das ist ein entscheidendes Wort. Das hängt damit zusammen. Aber ich habe aus der Praxis, oder ich erinnere mich an eine Mutter, die damals zugesehen hat und auch akzeptiert hat, dass ihr Sohn eine Beziehung mit einem Lehrer hatte und sich immer unwohl fühlte dabei und aber sich nicht wagte, sozusagen dagegen zu rebellieren oder dagegen zu sprechen, weil sie nicht eine altmodische Mutter sein wollte, und erst in den 90er-Jahren, als sich dann auch langsam eine Bewegung dagegen formierte, den Mut gefunden hat, das zu tun.

Scholl: Als Sie 2007, Jürgen Lemke, mit Manfred Karremann das Buch "Es geschieht am helllichten Tag" in Berlin vorstellten, gab es wütende Proteste bei dieser Veranstaltung. Sie wurden beschimpft, eine Stinkbombe wurde geworden, das war gerade mal vor drei Jahren. Man glaubt ja nicht, dass also das damals noch sozusagen ein Klima in irgendeiner Weise präsent sein konnte, dass also, ja, diesen Missbrauch in irgendeiner Weise rechtfertigte, begünstigte, oder?

Lemke: Ja …

Scholl: Wie haben Sie sich das erklärt?

Lemke: War schon überraschend, und es war überraschend und nicht überraschend, weil ja schon im Vorfeld der Herr Karremann attackiert worden ist. Da gab es in München schon eine Anzeige und er ist bedroht worden. Und wissen Sie, was mich eigentlich wundert – also das wunderte mich nicht, dass es da dieses Theater gab –, aber was mich wundert ist, dass die Medien überhaupt nichts aufgegriffen haben, dass das … Also ansonsten sind sie an jeder Ecke, wo irgendwo eine Stinkbombe geworfen wird, aber als da eine geworfen wurde oder offiziell wir dort vorne beschimpft wurden, unterbrochen wurden, das interessierte die Medien nicht.

Scholl: Nun könnte man sagen, gut, die aktuelle Missbrauchsdebatte hat dem Spuk nun all sein Ende bereitet. Ist das so?

Lemke: Dem Spuk ein Ende bereitet, weiß ich nicht so ganz, was Sie mit dem Ende und Spuk meinen.

Scholl: Na ja, also jetzt, glaube ich, kann keine pädophile Vereinigung Netzwerk noch auftreten und sozusagen ihr Anliegen vortragen und sich als verfolgte Gruppe und sagen, ihr müsst aber auch Verständnis haben für uns auftreten, oder?

Lemke: Ich denke, dass ganz entscheidend ist, dass Menschen sich zu Wort melden, die verdrängt hatten aus Gründen, die wir erst schon genannt haben, und die jetzt klar sagen, ich fühlte mich damals so, so und so, und ich wusste aber damals nicht, dass man das Missbrauch nennt, oder es ging mir einfach nur schlecht. Und dass das Menschen sind, ja, wie gesagt aus der Mitte der Gesellschaft, die auch eine Stimme haben, und nicht … Es gab ja immer mal im Laufe der Jahre, ob in dem Medium oder im anderen, gab es Äußerungen von Opfern, aber wissen Sie, das waren dann oft Menschen, die in der Psychiatrie waren oder die im Gefängnis saßen, und die wurden, ja, man las das und hörte sich das an, aber so wirklich ernst genommen wurden sie nicht. Und jetzt – und das ist das, was Sie höchstwahrscheinlich mit Ende des Spuks meinen – jetzt wird ernst genommen, was gesagt wird, und es ist auch eine Menge an Aussagen da oder eine Masse sage ich mal erreicht, die nicht mehr vom Tisch zu fegen ist.

Scholl: Und ich meine, es herrscht nun, glaube ich, jetzt auch der durchgehende Konsens, dass sexueller Missbrauch einfach ein Verbrechen ist, ja? In dem Sinne, dass also jetzt auch Sex mit Kindern in keiner Weise irgendwo pädagogisch, reformpädagogisch oder sonst wie philosophisch quasi, philosophisch gerechtfertigt werden kann.

Lemke: Mich wundert nur, dass das, was in den USA 2002 lief mit der katholischen Kirche, dass das also damals in Deutschland, ja, ach das ist in den USA, oder dann anschließend in Irland, ach das ist in Irland, und vor der eigenen Tür hat man auch damals noch nicht gekehrt. Und das hat sich jetzt verändert, und das ist grundsätzlich neu, dass Opfer eine Stimme haben. Wobei ich hinzufügen darf, ich arbeite ja seit vielen Jahren gruppentherapeutisch mit pädosexuellen Männern, die straffällig geworden sind, es ist etwas, was sie nicht selbst aussuchen, und jetzt nur draufschlagen, bringt auch nicht so viel.

Scholl: Das war Jürgen Lemke. Er ist Therapeut beim Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerk. Das Buch "Es geschieht am helllichten Tag: Die verborgene Welt der Pädophilen und wie wir unsere Kinder vor Missbrauch schützen" ist im DuMont-Verlag erschienen. Danke, dass Sie da waren, Jürgen Lemke!

Lemke: Bitte!
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