Mischung aus Cartoon und Familiensaga

"Medicine River" ist der Name einer fiktiven Kleinstadt in der kanadischen Provinz Alberta, direkt an der Grenze zu den USA. Die Hauptthemen der weitgehend indianischen Bevölkerung sind die örtliche Basketballmannschaft und die Frage, wer die nächste Pizza holt. Der Roman könnte durchaus in Deutschland spielen.
Seine Vorfahren waren Deutsche, Griechen und Indianer vom Stamm der Cherokee. Thomas King, der in den USA geborene und in Kanada lebende Schriftsteller, ist Professor für Kreatives Schreiben und indianische Literatur und ein mediales Multitalent. Er arbeitete jahrelang bei einer Comedy-Soap im kanadischen Rundfunk mit, hat ein Filmdrehbuch und acht Bücher geschrieben: Kurzgeschichten-Bände, ein Kinderbuch und fünf Romane; drei, -zwei davon Kriminalromane-, erschienen bisher auch in Deutschland. Nun ist ein weiterer Roman von Thomas King bei uns erschienen. "Medicine River" ist sein Titel.

"Medicine River" ist der Name einer fiktiven Kleinstadt in der kanadischen Provinz Alberta, direkt an der Grenze zu den USA, zum Bundesstaat Montana, noch in der Prärie, aber schon am Fuße der Rocky Mountains. Die Hauptthemen der weitgehend indianischen Bevölkerung von "Medicine River" sind die örtliche Basketballmannschaft, in der alle männlichen Protagonisten mitspielen, und dann die Frage, wer die nächste Pizza holt. Der Roman könnte durchaus in Deutschland spielen.

In "Medicine River" leben die beiden Hauptfiguren des Romans: einmal der Ich-Erzähler Will Redmann, ein Berufsfotograf, und dessen engster Freund Harlen Bigbear, eine Klatschtante voller Ideen, die aber selten funktionieren.

Thomas King erzählt episodisch, die Haupterzählstränge erschließen sich erst sukzessive; dem Leser sei empfohlen, die ersten 50 Seiten, wenn möglich, in einem Zug zu lesen, um einen Überblick zu bekommen. Zwei Erzählebenen schälen sich heraus: einmal die retrospektive Beschreibung der Kindheit des Ich-Erzählers, und auf der anderen Seite die 13 Monate gelebte Echt-Zeit des Ich-Erzählers, - ein glücklicher Eigenbrötler, ständig auf der Flucht vor der Nettigkeit seines besten Freundes Harlen und auf der Flucht vor zwei Frauen.

"Medicine River" ist typisch für indianische Literatur. Der Leser lernt, wenn eine Episode beginnt, so kann er nie wissen, was dabei herauskommt: Schwachsinn, Tragödie, Unwichtiges oder genialer Geistesblitz. Permanente Überraschung ist ein Strukturprinzip dieses Romans wie auch der indianischen Literatur schlechthin: Philosophie, Psychologie, Ironie und große Gefühle in einer Comic-Kleinstadt-Kulisse.

Da kommen dem Ich-Erzähler beim Nachdenken über eine bestimmte Frau immer zwei Bilder in den Kopf: das Bild des Comic-Elefanten "Horton", der versucht, ein Ei auszubrüten, und das Bild eines Atomkraftwerks.

Oder da versucht Chaot Harlen, den Ich-Erzähler davon zu überzeugen, ein kaputtes Kanu zu kaufen. Argument: wie unsere indianischen Vorfahren! Antwort: Unser Stamm hat nie Kanus gehabt! Sie kaufen das Boot und gehen unter.

Obwohl ein Meister der literarischen Techniken, setzt King große Sätze bewusst sehr sparsam ein: "Wir zogen das Kanu durch das dunkle Wasser, zurück ins Licht." Oder: "Die Wahrheit ist wie ein ungezähmtes Pferd."

"Medicine River" ist ein skurril-schnurriges Meisterwerk, ein Füllhorn, ein Buch voller wunderbarer Dialoge mit einem schwejkschen Grundton und der Ruhe Mark Twains - eine Mischung aus Cartoon und großer Familiensaga. Thomas King macht süchtig. Seine Figuren, -"Trickster", wie die Indianer solche Figuren nennen-, vergisst man nicht.

Rezensiert von Lutz Bunk

Thomas King: Medicine River
aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Cornelia Panzacchi, A1 Verlag, München 2008, 264 Seiten, 19 €