Frischer Wind am Jüdischen Museum
Das Jüdische Museum in Frankfurt hat eine neue Leiterin. Es sind große Fußstapfen, in die Mirjam Wenzel als Nachfolgerin von Raphael Gross tritt. Ihre bisherige Arbeit und Vita lassen neue Impulse für die Museumsarbeit am Main erwarten.
Es war einmal – es war einmal eine Zeit, da Juden in der deutschen Nachkriegsrepublik ihre verschämt in Zellophan geschlagenen Sidurim mutig in Schaukästen frisch eröffneter Museen packten, und das westdeutsche Publikum nahm mit Interesse wahr, dass es eine Jüdische Kultur in Deutschland gab. Ghettoholzmodelle folgten, vergilbte Photographien, Deportationslandkarten und in den 1980ern wurde am Main das Judenghetto und der Bühnenantisemitismus von Rainer Werner Fassbinder entdeckt, das Jüdische Museum brachte die privaten Farbaufnahmen von SS-Schergen aus dem Ghetto Litzmannstadt. Soweit die Renaissance der Exponate zu Beginn.
Dann kam Daniel Libeskind. Er präsentierte in seinem Entwurf des Jüdischen Museums zu Berlin, dass nichts da war, wo einst was war. The Void – Im Bau der Riss, den Jeder/Jede für sich füllen muss. Keine Gewissheit weit und breit. Und die Erkenntnis wuchs, dass die Erinnerung stets neu geboren wird. Oder wie es Mirjam Wenzel fasst:
"Der Holocaust ist nicht darstellbar."
"Was wir nicht zeigen" heißt die Reihe des Jüdischen Museums von Berlin im Netz, in der die nominierte Direktorin des Jüdischen Museums am Main die Paradoxie der Holcaustforschung für die Museumsarbeit folgendermaßen fasst:
"Die Fotos, Briefe, Zeichnungen und Berichte aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern legen zwar Zeugnis von dem ab, was geschah. Es wäre aber vermessen zu sagen, das wir als Rezipienten verstehen könnten, welche Erfahrungen sie eigentlich bergen."
Erinnerungsgeschichten der Verschwundenen
Unter der Ägide von Raphael Gross hat man sich am Main noch lange an dem abgearbeitet, was da einst war, von an persönliche Gegenstände gebundenen Erinnerungsgeschichten nicht-jüdischer Zeitgenossen an die Verschwundenen bis zu Grabsteinen der Antike und den Bestattungsbeigaben mutiger Juden in Zentraleuropa.
Mit dem Abgang von Raphael Gross an die Hochschule Leipzig wird nun eine neue Ära eingeläutet. Als Leiterin der Medienabteilung des Jüdischen Museums Berlin hat Mirjam Wenzel neue Wege zur "Undarstellbarkeit des Holocaust" beschritten. In der Dauerausstellung des Jüdischen Museums Berlin inszeniert sie die Verstörung der historischen Überlieferung durch den Einsatz neuer Medien:
"Lewandowskis Gallery of the missing umfasst mehrere zerfetzte Textfragmente, die dem Betrachter akustisch zugänglich gemacht werden, wenn er sich den Glasskulpturen, die über die Dauerausstellung verteilt stehen, nähert."
Mirjam Wenzel kommt von der FU Berlin. Sie ist ein Kind des Internets, im Netz vertreten auf Facebook und auf der Lobbyseite LinkedIn. Ihre Tweets zeugen von einer selbstverständlichen Präsenz im Internet. Fleißig ist die Stipendiatin, deren Arbeiten im Villigster Forschungsforum und von der Friedrich Ebert Stiftung aufgelistet sind.
Stattliche Liste von Publikationen
Stattlich ist die Liste ihrer Artikel und Publikationen. Studiert hat Mirjam Wenzel in den 1990ern im frisch vereinten Berlin, nichts Jüdisches. Literatur- und Theaterwissenschaft und Politologie an der Freien Universität. 2001 geht die Literaturwissenschaftlerin und Politologin als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an das Institut für Deutsche Philologie der Ludwig Maximilians Universität und promoviert 2008 in München, wechselt aber schon 2007 zur Medienabteilung des Jüdischen Museums in Berlin.
In den Büchern, die sie verfasst, beschäftigt sie nicht der Holocaust, sondern seine Rezeption, nicht das Ereignis, sondern der Vergleich: 2009 in "Gericht und Gedächtnis – Der deutschsprachige Holocaust-Diskurs der Sechziger". 1996, in ihrer ersten Publikation, schreibt sie für die FriedrichEbert Stiftung "Über die Frauenbewegung in Israel". 2003 schreibt sie "Über die Rolle des Nationalsozialismus und der Shoah in der heutigen israelischen Gesellschaft". Über "Eichmann, Hanna Arendt und das Theater in Jerusalem"hat sie gearbeitet, über den Zwist zwischen Lyotard und Theodor W. Adorno und die Aufarbeitung von Auschwitz.
Im Jüdischen Museum in Berlin ist Mirjam Wenzel an der multimedialen Ausrichtung von Ausstellungen in Zusammenarbeit mit dessen pädagogischer Direktorin Cilly Kugelmann beteiligt. Insofern ist zu erwarten, das sich das Jüdische Museum zu Frankfurt am Main in seinen Fragestellungen wie seinen Ausstellungsformen weiter öffnen wird. Mirjam Wenzel wird die Digitalisierung der Exponate weiter entwickeln und das Cross Over der Installationen als Museumsdirektorin weiter treiben.
Neue Formen der Museumsarbeit
Der Kerngedanke von Noch-Direktor Raphael Gross, mit der verdoppelten Ausstellungsfläche im derzeit errichteten Erweiterungsbau künftig über einen "Jewish Space" zu verfügen, der differenziert, wie lokal und professionell bewirtschaftet werden kann, also einen Raum, in dem man jüdische Kultur und Geschichte erleben und anhand digitalisierter Dauerleihgaben pädagogisch nutzen kann, enthält mit der forcierten Einbeziehung der Neuen Medien für die Orientierung des Jüdischen Museum am Main eine nicht zu unterschätzende Brisanz.
Ja, es sind große Fußstapfen, in die Mirjam Wenzel nun tritt. Doch da die 42-jährige Medienpädagogin bisher im Jüdischen Museum in Berlin nur als Teamplayerin Erfolge zeitigen konnte, wird sie den Schulterschluss mit dem Leipziger Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur von Raphael Gross und die Abstimmung mit anderen Häusern suchen. Neben der Jüdischen Sammlung der Frankfurter Universitätsbibliothek und dem Fritz Bauer Institut, den bisherigen Ansprechpartnern, ist im Sinne der verstärkten IT-Präsenz des Jüdischen Museums Frankfurt eine weitere Öffnung zu erwarten.
Ja, es ist eine gute Wahl, eine Wahl, die den Weg einer jungen Generation als Impulsgeber verstärkt und neue Formen der Museumsarbeit am Main verspricht. Am 1. Januar 2016 tritt Mirjam Wenzel die Leitung des Hauses an.