"Mir geht nichts über mich" oder: Wie viel Moral ist verzichtbar?"

Von Angelika Brauer · 25.10.2006
1844 verstörte Johann Caspar Schmidt unter dem Pseudonym Max Stirner nachhaltig die Auffassung von Moral: In seinem Werk "Der Einzige und sein Eigentum" legt er seine Auffassung dar, dass jeder Mensch nicht einer Moral gehorchen soll, sondern nur seinem Willen. Wer der Natur gemäß egoistisch lebe, sei dadurch automatisch gut, weil das Leiden der anderen dem eigenen Glück im Wege sei.
"Was soll nicht alles meine Sache sein? Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit. Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein. Pfui über den Egoisten, der nur an sich denkt! Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche Sache 'des Menschen'. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw., sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist - einzig, wie Ich einzig bin."

Er hat nur ein einziges Buch geschrieben. Aber mit diesem einzigen Buch, das Johann Caspar Schmid unter dem Pseudonym Max Stirner veröffentlicht, beginnt 1844 die Geschichte einer bis heute andauernden Verstörung:

"Ein Werk der Leidenschaft und surrealistischen Einbildungskraft."
"Das anarchische Produkt eines Sonderlings."
"Eine abstruse Apotheose."
"Praktischer Unsinn."
"Eine Sensation."
"Moralischer Nihilismus."
"Ein Traum, der so alt ist wie die Menschheit."


"Der Einzige und sein Eigentum" - heißt das Buch, das, kaum auf dem Markt, auch schon beschlagnahmt und verboten wird. Allerdings hebt der Minister des Inneren schon nach einer knappen Woche das Verbot wieder auf:

"Von dem Buche ist wahrhaftig keine nachteilige Wirkung auf die Leser zu erwarten. () Es wird auf Abscheu stoßen. Die religiös-sittliche Ansicht des Lebens kann kaum wirksamer gefördert werden als durch Bekanntmachung dieses niedrigen und beschränkten Standpunktes."

Jochen Knoblauch: "Es gibt schon Leute - klar, die sind total verschreckt bis angewidert: 'Kann man so nicht sagen! Das geht so nicht!'"

Winfried Schröder: "Auf der anderen Seite macht Stirner uns auf vieles aufmerksam, was seine Zeitgenossen nicht gesehen haben. Etwa darauf, dass scheinbar altruistisches, selbstloses Verhalten oftmals einen egoistischen Kern hat."

Wir sollten es krasser sagen: Aus seiner Sicht wird alles Handeln durch unser Eigeninteresse bestimmt. Kurz: Menschen sind von Natur aus Egoisten.

"Wen aber denkst Du Dir unter dem Egoisten?"

Seltsames Buch, auch in stilistischer Hinsicht. Einerseits ein ungezügelter Redefluss - mehr als vierhundert kompakte Seiten. Andererseits diese Sorgfalt, mit der Stirner, der Schüler Hegels, die Begriffe präzise klärt. Was also verstehen wir unter einem Egoisten?

"Einen Menschen, der, anstatt einer Idee, das heißt einem Geistigen zu leben und ihr seinen persönlichen Vorteil zu opfern, dem letzteren dient. Ein guter Patriot zum Beispiel trägt seine Opfer auf den Altar des Vaterlandes."

Winfried Schröder: "Es gibt eine Opferideologie, die im 19. Jahrhundert beginnt, die dem Individuum jeden Wert nimmt: Du bist nichts. Die Volksgemeinschaft ist alles! Da hält Stirner dagegen."

"Darum verachtest Du den Egoisten, weil er das Geistige gegen das Persönliche zurücksetzt und für sich besorgt ist, wo du ihn einer Idee zuliebe handeln sehen möchtest."

Jochen Knoblauch: "Wenn man engagierte Christen sieht, dann könnte man auch davon ausgehen, dass sie egoistisch handeln: sozial gegenüber ihren Mitmenschen - in der Hoffnung natürlich, dass sie als Christen in den Himmel kommen. Da könnte man jetzt auch sagen: das ist eine egoistische Handlung, eigentlich. Ja, aber das würden sie natürlich nie zugeben, weil Egoismus ist als Begriff derart negativ besetzt..."

"Weil er ablassen möchte, Egoist zu sein, sucht er in Himmel und Erde umher nach höheren Wesen, denen er diene und sich opfere; aber so viel er sich auch schüttelt und kasteit, zuletzt tut er doch alles um seinetwillen und der verufene Egoismus weicht nicht von ihm. Ich nenne ihn deswegen den unfreiwilligen Egoisten."

Jochen Knoblauch: "Das ist ein Aufruf gegen die Lüge! Indem er sagt: 'Ja, bekennt Euch doch zu den Sachen, die ihr machen wollt und schiebt nicht ständig irgendwie irgendwas vor - das Vaterland oder die Religion oder sonstwas', ja."

"Schüttelt das ab! () Suchet euch Selbst, werdet Egoisten, werde jeder von Euch ein allmächtiges Ich. Oder deutlicher: Erkennet Euch nur wieder, erkennet nur was Ihr wirklich seid, und lasst Eure heuchlerischen Bestrebungen fahren, eure törichte Sucht, etwas Anderes zu sein, als Ihr seid."

Jochen Knoblauch: "Warum sollte man sich denn ausgerechnet auch auf Gott verlassen?"

Winfried Schröder: "Die Antwort, die uns immer gegeben wird: Wir müssen die Vorstellung einer göttlichen Autorität haben, um verständlich zu machen, warum wir bestimmte Regeln befolgen sollen. Das Sollen kann nur gedacht werden als Befehl einer Autorität. Und es muss eine wirkliche Autorität sein, und zwar Gott. Man sollte aber einmal fragen: Was heißt das eigentlich, wenn wir sagen, dass Gott die Quelle der moralischen Regeln ist? Die Quelle überhaupt aller Regeln ist, die befolgt werden sollen. Was folgt daraus? Und da gibt uns die Bibel einen ausgesprochen plastischen Aufschluss in der Geschichte von Abraham und Isaak. Da wird erzählt, dass ein unschuldiges Kind, Isaak, geschlachtet werden soll, weil Gott das verlangt."

Weil Gott das auf grausame Weise erprobt: Wie weit geht der Gehorsam des Menschen? Abraham, den er vom befohlenen Mord erst in der letzten Minute befreit, nimmt in seinem Namen ein schweres Opfer auf sich. Dasselbe gilt für die Terroristen, die sich auf seinen Auftrag berufen, wenn sie Flugzeuge als Bomben in Hochhäuser steuern. Es ist gefährlich, sich ausschließlich auf Gott zu verlassen. Aber es fällt auch nicht leicht, die Verantwortung nur beim Menschen zu sehen. Die radikale Wende fällt Feuerbach zum Beispiel schwer:

"Der alte unheilvolle Zwiespalt zwischen Diesseits und Jenseits muss aufgehoben werden, damit sich die Menschheit auf sich selbst, auf ihre Welt und Gegenwart konzentrieren kann. () Dabei müssen wir an die Stelle der Gottesliebe die Menschenliebe als die einzige, wahre Religion setzen, an die Stelle des Gottesglaubens den Glauben des Menschen an sich selbst."

"Hat man da nicht wieder den Pfaffen? Wer ist sein Gott? Der Mensch? Was ist das Göttliche? Das Menschliche! () Überhaupt bewirkt Feuerbach nur eine Umstellung von Subjekt und Prädikat..."

Er verlagert "das Jenseits in Uns", soll das heißen.

"Das Jenseits außer Uns ist allerdings weggefegt, und das große Unternehmen der Aufklärer vollbracht; allein das Jenseits in Uns ist ein neuer Himmel geworden und ruft Uns zu erneutem Himmelsstürmen auf..."

... den Himmel stürmen, um alles zu zerstören, was als "Geistiges", als Idee, als Bestimmung des Menschen - größer sein soll als das einzelne Ich:

"Fort denn mit jeder Sache, die nicht ganz und gar Meine Sache ist! () Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche Sache 'des Menschen'. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw., sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist einzig, wie ich einzig bin."

"Mir geht nichts über Mich!"

"Stirners einprägsame Formeln werden oft zitiert; sie stehen für den rohen Egoismus bzw. Nihilismus; für den Klassiker der Egozentrik..."

Seine Philosophie wird vereinfacht, weil seine Sprache dazu verführt: Sie ist draufgängerisch, auftrumpfend, laut.

"Wie sollte Ich's nicht in aller Grellheit auszusprechen wagen? Ja, Ich benutze die Welt und die Menschen!"

Seine Melancholie wird überhört.

"Stell Ich auf Mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem Vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt, und ich darf sagen: ich hab' mein Sach auf Nichts gestellt."

Jochen Knoblauch: "Seine Beziehung zu Frauen war problematisch, sein Versuch, sich ökonomisch selbständig zu machen, ging schief. Und wie man's ihm wahrscheinlich auch letztendlich gegönnt hat, ist er ja einsam und allein gestorben."

Winfried Schröder: "Er hatte eine gute Idee. Und die bestand darin, Frischmilch in Berlin zu verkaufen. Aber die Ausführung, die war dann etwas unglücklich. Er hat nämlich keine gekühlten Milchbehälter gehabt. Zog da also mit dem Pferdewagen durch die Stadt, die Milch wurde sauer und fand keine Abnehmer."

Sohn eines Flötenmachers. Beschädigte Kindheit. Geglückte Schulzeit. Arbeit als Lehrer an einer Berliner Mädchenschule. Nach der Veröffentlichung des "Einzigen" nur noch Repliken und verstreute Schriften...

"An der Märzrevolution 1848 in Berlin nimmt er offenbar keinen Anteil. Er gerät zweimal in Schuldarrest, stirbt am 25. Juni 1856 in Berlin und wird auf dem Kirchhof der Sophiengemeinde beigesetzt."

Wenn er verzweifelt war, was geht's uns an? Warum sollten wir's nicht im Klartext sagen? Wir wollen nur wissen, ob wir sein Denken heute noch brauchen können.

"In der Tat gibt es eine anhaltende Nachwirkung der Motive seines Denkens: von Nietzsche bis zu Adorno, von Sartre bis zu Marcuse..."

Der Philosoph Bernd A. Laska, der sich seit Jahren für Stirners Werk engagiert, sieht das Grundmuster der Wirkungsgeschichte in der Zwiespältigkeit, die mit der Faszination des Bösen verbunden ist: es zieht an - und schreckt ab.
"Niemand wollte Stirners Schritt über die Neue Aufklärung hinaus mitvollziehen. 'Sein Nihilismus' durfte nicht die Konsequenz aufklärerischen Denkens sein. Derart alarmiert war man blind dafür, dass Stirner bereits Wege 'jenseits des Nihilismus' eröffnet hatte."

"Ich bin nicht Nichts im Sinne der Leerheit, sondern das schöpferische Nichts, aus welchem Ich selbst als Schöpfer Alles schaffe."

"Solche Thesen sind uns gar nicht so fremd. Der Existentialismus hat diese absolute Ungebundenheit des Individuums behauptet und auf die Formel gebracht: 'Der Mensch schafft sich selbst'."

Christa Hackenesch: "Eben: Die Existenz geht der Essenz voran. Das bedeutet ja nur - in Anführungszeichen - , dass ich mein Wesen selber schaffe, indem ich mir Gestalt gebe."

"Der alte unheilvolle Zwiespalt zwischen Diesseits und Jenseits" muss nicht mehr aufgehoben werden. Im zwanzigsten Jahrhundert ist der Mensch auf sich allein verwiesen.

Christa Hackenesch: "Nicht das Bewusstsein, nicht das Denken ist es, was Menschen für Sartre zum Menschen macht - sondern Freiheit. Und er sagt: Freiheit ist nicht eine Eigenschaft des Menschen, sondern wir existieren als freie Wesen und können dem auch gar nicht entkommen. Deshalb diese etwas pathetische Formel: 'Wir sind verurteilt, frei zu sein'."

Verurteilt - von wem? Der Himmel ist leer.

Christa Hackenesch: "Also Menschen haben Angst! - vor ihrer Freiheit. Wenn sie begreifen, dass nichts sie trägt - als nur sie selbst. Diese Freiheit ist eine andauernde Zumutung. Es gibt nichts, was mich tragen könnte. Ich muss das alles selber schaffen."

Ein Münchhausenkunststück: lebend das eigene Leben entwerfen, verwerfen, gestalten... Das Ich als Schöpfer seiner selbst. Dieser Anspruch, der für den Einzelnen zur Herausforderung wird, ist es, der Sartre mit Stirner verbindet. Die Nähe ist deutlich; aber auch deutlich begrenzt.

"Man erkennt es nicht in der ganzen Fülle des Wortes, dass alle Freiheit wesentlich - Selbstbefreiung sei..."

Winfried Schröder: "Wir sind dressiert; unsere Lebensführung, unsere Zielsetzungen sind reglementiert. Wir sind also alles andere als frei. Worauf es ankommt, ist: dass wir uns frei machen!"

Von göttlichen Geboten, staatlichen Gesetzen, moralischen Normen. Stirner setzt realistischer an; und er bringt - anders als Sartre - auch das Ziel der Selbstbefreiung auf den Begriff:

"Ich habe gegen die Freiheit nichts einzuwenden, aber Ich wünsche Dir mehr als Freiheit; Du müsstest nicht bloß los sein, was Du nicht willst, Du müsstest auch haben, was Du willst. Du müsstest nicht nur ein 'Freier', Du müsstest auch ein 'Eigner' sein."

Der "Eigner" - ein Ideal, auf das schon der Titel seines Buches verweist: "Der Einzige und sein Eigentum".

"Eigenheit, das ist mein ganzes Wesen und Dasein, das bin ich selbst. Frei bin ich von dem, was ich los bin, Eigner von dem, was ich in meiner Macht habe, oder dessen ich mächtig bin. Mein eigen bin ich jederzeit und unter allen Umständen, wenn ich mich zu haben verstehe und nicht an Andere wegwerfe."

"Der 'Eigner' ist vor allem Eigner seiner selbst; er lebt, denkt, handelt authentisch und nicht unter dem Zwang des Über-Ichs."

Er kennt kein Gewissen, soll das heißen. Ihm geht nichts über das eigene Ich. Er lässt sich nicht fremd bestimmen - vom Gewissen als einer Instanz im Ich, die aber genormt ist von dem, was alle sollen.

Christa Hackenesch: "Das Problem ist: Wenn ich Metaphysiker bin, wenn ich Kant bin - dann kann ich sagen: 'Natürlich bin ich einem Allgemeinen verpflichtet, weil ich dieses Allgemeine ja als mein Wesen selber auch bin.' Aber wenn das durchgestrichen ist, ist die Frage offen, warum ich überhaupt moralisch handeln soll."

Als Sartre in den Verdacht der Amoral und dadurch erheblich unter Druck gerät, greift er auf das bewährte Muster zurück: In einer berühmt gewordenen Rede erklärt er den Existentialismus zum Humanismus; und verbindet - wie Kant und mit dessen Hilfe - den Einzelnen wieder mit der Allgemeinheit:

"So besteht die erste Absicht des Existentialismus darin, jeden Menschen in den Besitz seiner selbst zu bringen und ihm die totale Verantwortung für seine Existenz aufzubürden. (Aber) wenn wir sagen, der Mensch ist für sich selbst verantwortlich, wollen wir nicht sagen, er sei verantwortlich für seine strikte Individualität, sondern für alle Menschen. () Sich wählend, wählt er alle Menschen."

Hier endet die Nähe zu Stirner. Für ihn ist ein Ich, das sich selbst befreit, um sich der Allgemeinheit zu verpflichten - mit dem Ideal des "Eigners" unvereinbar:

"Warum nun, wenn die Freiheit doch dem Ich zuliebe erstrebt wird, warum nun nicht das Ich selber zu Anfang, Mitte und Ende wählen?"

Die Antwort gibt er selbst. Und sie klingt, als hätte er die Schriften von Freud schon gelesen:

"Aber man braucht Euch nur an Euch zu mahnen, um Euch gleich zur Verzweiflung zu bringen. 'Was bin ich?', so fragt sich Jeder von Euch. Ein Abgrund von regel- und gesetzlosen Trieben, Begierden, Wünschen, Leidenschaften, ein Chaos ohne Licht und Leitstern! Wie soll ich, wenn Ich ohne Rücksicht auf Gottes Gebote oder auf Pflichten, welche die Moral vorschreibt, () lediglich Mich frage, eine richtige Antwort erhalten?"

Wie denn auch? Wir sind von Natur aus Egoisten. Das Eigeninteresse ist der Impuls, der unser Handeln bestimmt. Das Problem ist: Wir sind Einzelne - aber wir können und wollen nicht ohne andere Menschen leben. Um aber gut zusammenzuleben, sind wir auf eine moralische Übereinkunft angewiesen. Wie soll man sie finden, wenn man sich nur auf sich selbst bezieht? Gibt es denn eine Moral des Egoismus?

Winfried Schröder: "Es ist in der Tat eine alte Frage: ob nicht die Gründe, weshalb wir bestimmte moralische Regeln befolgen, damit zu tun haben, dass wir glücklich sein wollen. Die antike Philosophie hat grundsätzlich so gedacht. Ich kann einen Menschen nur zu etwas verpflichten, von dem ich annehmen kann, dass er's selber will. Moralische Regeln kann ich jemandem nur empfehlen, indem ich ihm sage: Die Befolgung macht dich letzten Endes glücklich; trägt zu deinem Glück bei."

Das gilt nach wie vor. Auch unser kleinster gemeinsamer Nenner ist das Streben nach Glück. Oder zurückhaltender: Wir wollen gut leben. Und zwar gut - im moralischen Sinn.

"Und damit hängt nun zusammen, was in der Soziologie als sozialer Druck bezeichnet wird: Lob und Tadel, Empörung und Entrüstung, Geringschätzung oder Hochschätzung; alles, was für das eigene Selbstwertgefühl offenbar wichtig ist..."

Fühlt es sich gut an - gut zu sein? Jedenfalls sind wir, um uns selbst zu schätzen, auf die Anerkennung der anderen angewiesen. Insofern sind wir abhängig. Aber im übrigen wollen wir selbst bestimmen, was wir jeweils wollen sollen. Und dazu bitte - kein schweres Gepäck . Zur Orientierung reicht im Prinzip die Goldene Regel:

"Was Du nicht willst, das man dir tut, / das füg auch keinem andern zu."

Winfried Schröder: "Stirner würde sogar gegen die Goldene Regel polemisieren. Er würde sie ablehnen, weil sie ein Verbot enthält. Der zweite Satz der Goldenen Regel ist ein Verbot: Das füg auch keinem anderen zu. Stirner hat sich gegen jede Form der Einschränkung meiner Freiheit ausgesprochen."

"Was würdet Ihr aber denken, wenn Euch einer erwiderte: dass man auf Gott, Gewissen, Pflichten, Gesetze usw. hören solle, das seien Flausen, mit denen man Euch Kopf und Herz vollgepfropft und Euch verrückt gemacht habe? Und wenn er Euch früge, woher Ihr's denn so sicher wisst, dass die Naturstimme eine Verführerin sei?"

Wir würden zurückfragen: Worauf sich das Vertrauen gründet, dass wir gewissenlos leben und nur der "Naturstimme" folgen sollen.

Winfried Schröder: "Wenn ich für eine totale Deregulierung und Normendestruktion plädiere, muss ich irgendwie verständlich machen, wie ein soziales Zusammenleben von Menschen möglich sein wird. So; und da wird Stirner - bei der Antwort auf die Frage: Wie sollen wir denn nun zusammenleben? Naiv. Er wird naiv, blauäugig. Er schlägt uns ja vor, wir sollen uns in Vereinen zusammenschließen. Und dort soll es nun, ohne dass irgendwelche moralischen Regeln gelten, friedlich, kooperativ, konfliktfrei zugehen."

Jochen Knoblauch: "Das ist ja auch 'ne Streitfrage, aber ich würde ihn immer einreihen bei den Anarchisten. Und da geht's ja letztendlich auch nicht darum, nur tabula rasa zu machen, sondern es geht ja da drum, sein Leben einzurichten. Und das richt ich ja nicht gegen jemanden anderen ein, sondern möglichst mit anderen."

Mit anderen, wenn es möglich ist; wenn es sich fügt. Das Spontane und Kurzlebige der Zusammenschlüsse gehört zur Struktur des "Vereins" - den Stirner an die Stelle des Staates setzt.

"Wir beide, der Staat und Ich, (sind) Feinde. Mir, dem Egoisten, liegt das Wohl dieser 'menschlichen Gesellschaft' nicht am Herzen. Ich opfere ihr nichts, Ich benutze sie nur; um sie aber vollständig benutzen zu können, verwandle Ich sie () in mein Eigentum und mein Geschöpf, das heißt, Ich vernichte sie und bilde an ihrer Stelle den Verein von Egoisten."

Wir lassen uns nicht mehr provozieren. Wir können diesem Modell des "Vereins der Egoisten" durchaus etwas abgewinnen: Die Beteiligten wissen, was sie wollen. Sie tun etwas. Sie halten nicht still und ducken sich nicht weg. Sie machen ernst mit dem Gerede von der Selbstverantwortung mündiger Bürger. Sie schließen sich zusammen, um das, was aus ihrer Sicht falsch ist, konkret zu ändern...

Jochen Knoblauch: "Es geht immer nur um den Platz des Einzelnen innerhalb von Gruppen. Und die will er natürlich verlassen können, wenn's ihm passt."

"So könnte ein Egoist also niemals Partei ergreifen oder Partei nehmen? Doch, nur kann er sich nicht von der Partei ergreifen oder einnehmen lassen. Die Partei bleibt für ihn allezeit nichts als eine Partie; er ist von der Partie, er nimmt teil. () Er ist einzig. Er vereinigt sich frei und trennt sich wieder frei."

Jochen Knoblauch: "Was will ich? Was kann ich? Mit wem schließ ich mich zusammen? Oder wie komm ich weiter in der und der Sache? Ist dann 'ne ganz andere Herangehensweise, als wenn ich nur dasitze und sage: 'Da ist der Staat - der muss mich jetzt verpflegen oder der muss mich aus diesem Land da rausholen, wo ich gerade nicht sein will', wie auch immer."

Es ist nicht klug, sich ausschließlich auf den Staat zu verlassen. Könnte man sich doch auf den Menschen verlassen - auf seinen Nächsten...

"Als ob nicht immer einer den Andern suchen wird, weil er ihn braucht, als ob nicht Einer in den Andern sich fügen muss, weil er ihn braucht."

Winfried Schröder: "Alles, was es gibt - Dinge, Mitmenschen - dient nur dazu, von mir gebraucht zu werden, um meine eigene Lust, mein eigenes Glück zu befördern. Ich gebrauche meinen Nächsten. Wenn ich Lust habe, anderen Gutes zu tun, mich solidarisch zu verhalten beispielsweise - dann nur: weil es meinem eigenen Glück dient."

Das Eigeninteresse ist der zuverlässigste Impuls unseres Handelns. Wir haben es längst zugegeben. Stirner selbst betont, dass diese Einsicht etwas Befreiendes hat: im "Verein der Egoisten" weiß jeder, woran er beim anderen wirklich ist.

"Der Unterschied ist () der, dass dann wirklich der Einzelne sich mit dem Einzelnen vereinigt, indes er früher durch ein Band mit ihnen verbunden war: Sohn und Vater umfängt vor der Mündigkeit ein Band, nach derselben können sie selbständig zusammentreten..."

Winfried Schröder: "Nachdem ich mich befreit habe von allen moralischen Regeln und Restriktionen, freue ich mich am Wohlergehen des anderen. Ich habe Lust daran, wohltätig zu sein, nicht weil ich's muss, sondern weil's mir Spaß macht. Und die vielen Ichs - meint Stirner - empfinden gleich."

"Ein Traum, der so alt ist wie die Menschheit."

"Ich liebe die Menschen auch, nicht bloß einzelne, sondern jeden. Aber ich liebe sie mit dem Bewusstsein des Egoismus; Ich liebe sie, weil die Liebe mich glücklich macht, ich liebe sie, weil mir das Lieben natürlich ist, weil mir's gefällt.
Ich kenne kein "Gebot der Liebe". Ich habe Mitgefühl mit jedem fühlenden Wesen, und ihre Qual quält, ihre Erquickung erquickt auch Mich..."


Jochen Knoblauch: "Ein geliebter Mensch, der weint - ist für ihn unerträglich. Und er tut alles dafür, dass es dem anderen Menschen wieder gut geht, nämlich aus seinem Egoismus heraus. Weil wenn's dem geliebten Menschen nicht gut geht, dann kann's ihm auch nicht gut gehen. Und das ist doch die simpelste soziale Form, die's gibt."

Für die Moral ist das zu wenig. Sie wäre ein Produkt des Zufalls, wenn sie nur aus dem Gefühl entsteht. Aus Sympathie; oder Mitleid; oder Liebe. Auf die "Naturstimme" allein ist kein Verlass. Wir brauchen Regeln, Normen, Werte. Kurz: eine moralische Übereinkunft. Und um sie auszuhandeln, brauchen wir auch den Verstand...

"Wir brauchen fortan eine persönliche Erziehung, nicht Einprägung einer Gesinnung."

Stirner schreibt das 1842; in dem Aufsatz: "Das unwahre Prinzip unserer Erziehung". Und Bernd A. Laska ist es zu danken, dass dieses Fundstück beachtet wird. Denn hier wird verständlich, warum wir uns vom genormten Gewissen befreien - und auf die "Naturstimme" verlassen sollen: Stirners Vertrauen setzt das "wahre Prinzip" der Erziehung voraus.

"Der Unterschied ist also der, ob Mir Gefühle eingegeben oder nur angeregt sind. Die letzteren sind eigene, egoistische, weil sie Mir nicht als Gefühle eingeprägt, vorgesagt und aufgedrungen werden."

Die Gefühle sollen nicht normiert, sondern die Gefühlsfähigkeit des Kindes sollte gefördert werden. Seine Erfahrungsbereitschaft. Seine Aufgeschlossenheit. Seine Angstfreiheit, wenn es um das innere Chaos geht...

"Mit einem Worte, nicht das Wissen soll angebildet werden, sondern die Person soll zur Entfaltung ihrer selbst kommen; nicht vom Zivilisieren darf die Pädagogik ferner ausgehen, sondern von der Ausbildung freier Personen, souveräner Charaktere; und darum darf der Wille, der bisher so gewalttätig unterdrückte, nicht länger geschwächt werden. () Die kindliche Eigenwilligkeit und Ungezogenheit hat so gut ihr Recht als die kindliche Wissbegierde. Die letztere regt man geflissentlich an; So rufe man denn auch die natürliche Kraft des Willens hervor, die Opposition. Wenn das Kind sich nicht fühlen lernt, so lernt es die Hauptsache nicht, seinen Freimut.

Der moralische Einfluss nimmt da seinen Anfang, wo die Demütigung beginnt, ja, er ist nichts anderes als diese Demütigung selbst, die Brechung und Beugung des Mutes zur Demut herab."


Ohne moralischen Einfluss - moralisch sein. Schöner Gedanke. Wir halten ihn fest - als Kerngedanken der Stirnerschen Philosophie. Denn sein Prinzip der Erziehung können wir brauchen: einer Erziehung zum Freimut, zur Wahrhaftigkeit, zu einer Haltung. Der gute Egoist entwickelt ein Gespür für sich selbst. Er hört die innere Stimme und kultiviert sie...

"... die rechte Stimme (), die Stimme, welche den Weg des Guten, Rechten, Wahren usw. zeigt. Warum wollt Ihr nun den Mut nicht fassen, Euch wirklich ganz und gar zum Mittelpunkt und zur Hauptsache zu machen?"

Winfried Schröder: "Wie kann man ernsthaft dafür plädieren?"

Jochen Knoblauch: "Für mich war das immer so, dass er sehr provozierte, und darüber war für mich immer klar, dass ich über Sachen nachdenken musste. Wo steh ich dabei selber? Ich muss nicht eins zu eins Stirner umsetzen. Das ist auch gar nicht sein Ziel gewesen."
Der französische Schriftsteller und Philosoph Jean-Paul Sartre, Aufnahme von 1969
Der französische Schriftsteller und Philosoph Jean-Paul Sartre, Aufnahme von 1969© AP Archiv