Ministerpräsident Torsten Albig

"Deutschland kann jährlich 400.000 Flüchtlinge aufnehmen"

Ist auch bei der SPD-Basis nicht mehr unumstritten: Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig.
Ministerpräsident Albig: "Ja, wir können das schaffen" © dpa / picture alliance / Carsten Rehder
Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 14.09.2015
Die Wiedereinführung von Grenzkontrollen sind für den SPD-Politiker Torsten Albig ein "klarer Warnruf an Europa". Der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein steht zur Verantwortung Deutschlands in der Flüchtlingskrise - fordert aber auch eine "Ruhephase" für die Kommunen.
Der Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, Torsten Albig, hält die Aufnahme von 400.000 Flüchtlingen jährlich auch über einen langen Zeitraum für möglich. Länder und Kommunen bräuchten jetzt aber eine "Ruhephase", sagte Albig im Deutschlandradio Kultur. Man müsse in der Lage sein, mit den Flüchtlingen vernünftig umzugehen. Besonders die Kommunen bräuchten Strukturen, "in denen ein Ankommen überhaupt möglich ist", betonte Albig. Dies sei derzeit nicht gewährleistet – die Zustände seien "kurz vor chaotischen Bedingungen". Die Wiedereinführung von Grenzkontrollen bezeichnete er als "klaren Warnruf an Europa".

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Wir schaffen das! Keine zwei Wochen ist diese Aussage der Bundeskanzlerin alt ... Angela Merkel auf die Frage, ob Deutschland dem Flüchtlingsstrom gerecht werden kann. Am Samstag hat sie es in ähnlichen Worten noch mal bekräftigt, und gestern nun ist der Innenminister aufgetreten, Thomas de Maizière, mit der Botschaft: Wir schaffen es nicht!
Deutschland führt vorübergehend Grenzkontrollen wieder ein – nach einem Wochenende, an dem Kommunen und Länder laut deutlich gemacht haben, dass sie an ihre Grenzen stoßen bei der Aufnahme von Flüchtlingen. In München, in Bayern, aber nicht nur dort.
Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, und Torsten Albig, der Landeschef von Schleswig-Holstein, die beiden Sozialdemokraten haben ein Sondertreffen der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin gefordert, Letzteren begrüße ich jetzt zum Interview: Torsten Albig, Ministerpräsident in Kiel, guten Morgen!
Torsten Albig: Morgen.
Frenzel: Ist das ein richtiger Schritt, die Grenzen wieder zu kontrollieren?
Albig: Es ist jedenfalls ein Zeichen, dass wir an einen Punkt kommen, dass wir wieder ... Wir brauchen eine Ruhephase. Wenn wir es denn schaffen wollen, dann müssen wir in der Lage sein, mit den Menschen auch vernünftig umzugehen.
Wir müssen in der Lage sein, in den Kommunen vor allem, aber auch in den Erstaufnahmen der Länder Strukturen zu haben, in denen ein Ankommen überhaupt möglich ist.
Das, was wir in München im Augenblick erlebt haben und in der Folge ja in ganz Deutschland, macht das nicht mehr möglich, das müssen wir miteinander feststellen. Wir können in der Zeit und in der Geschwindigkeit keine einzige Struktur anpassen, und wir können auch nicht mehr hoffen, dass Ehrenamtler, Frauen und Männer, die hier ganz Großartiges leisten, in beliebiger Kraft dann nachsteuern können – wie sollten die das leisten können.
Wenn Europa nicht solidarisch ist, kann es auch Deutschland nicht schaffen
Und von daher ist es mehr ein Signal, so verstehe ich es auch, Richtung Europa heute Abend: Glaubt nicht, dass alle Last alleine in Deutschland von staatlicher oder bürgerlicher Kraft getragen werden kann. Wenn Europa nicht hilft, wenn Europa sich nicht solidarisch zeigt, dann wird auch Deutschland alleine das nicht leisten können. Dass eine Grenzschließung in einem freien Europa keine Antwort auf Dauer sein kann, das ist klar, aber ich hoffe, heute Abend bei der Innenministerkonferenz der europäischen Innenminister wird dieses gehört werden, was Deutschland damit sagt.
Frenzel: Herr Albig, als Dänemark vor ein paar Tagen einen ähnlichen Schritt gegangen ist, Grenzkontrollen wieder eingeführt hat, wurde das aus Ihrer Regierungskoalition in Kiel heraus scharf kritisiert. Warum ist das auf einmal richtig, wenn Deutschland dasselbe tut?
Albig: Weil es ein Unterschied ist, ob Sie es tun, weil Sie gerade wie in Schleswig-Holstein dabei sind, 10-, 15.000 Erstaufnahmeplätze einzurichten – es sind auf Deutschland umgerechnet über 400.000 – oder ob sie es tun, weil sie keine Flüchtlinge haben wollen. Und dieser Unterschied, der ist schon ein ganz massiver. In Dänemark redet man über tausend, dieses Land ist größer als Schleswig-Holstein. Schleswig-Holstein läuft jetzt 24.000 bis 30.000 Flüchtlinge in diesem Jahr, allein wir, normal Dänemark 1.000, Frankreich reden wir über 1.000, Großbritannien über gar keinen.
Schweden und Deutschland sind im Augenblick Länder, die als Einzige bereit sind, zu helfen und erkennbar zu helfen, aber diese Hilfe muss möglich sein. Diese Hilfe muss wachsen können und dieser Hilfe müssen Strukturen hinterlegt werden. Und wenn Sie nur noch erratische Veränderungen haben, wenn Sie nur noch Zustände haben, die in der Tat ja kurz vor chaotischen Bedingungen sind ... Ich war vor einigen Tagen in Flensburg am Bahnhof, das war großartig zu sehen, wie dort die Menschen geholfen haben, aber eben nicht großartig zu sehen, welche Belastung das für jede Einzelne, jeden Einzelnen ist, wenn es auf Dauer nicht nachvollziehbar ist und wir nicht hinterherkommen.
Frenzel: War es denn falsch, was die Kanzlerin vorher gemacht hat, die Grenzen zu öffnen, dieses Signal auszusenden an die Flüchtlinge?
"Falsch ist das, was die Ungarn machen"
Albig: Na ja, ich glaube, das ist nicht falsch. Falsch ist das, was die Ungarn machen, falsch ist das, was andere machen. Deutschland steht auch in einer, glaube ich, sich selbst gegebenen Verantwortung. Ich finde, das ist gut, dass wir sagen, ja, wir wollen und wir können das schaffen. Ich glaube auch, wir können das schaffen, wir können es nur nicht in jeder beliebigen Geschwindigkeit schaffen, und wir können es auch nicht in jedem Moment mit jeder Zahl schaffen, weil ...
Frenzel: Das heißt, es gibt eine Obergrenze?
Albig: Ja, ich glaube, wenn wir auf die lange Linie schauen, haben wir sicherlich die Strukturen und können sie aufbauen. Um mal eine Zahl zu nennen, die wirklich am oberen Limit liegt dessen, was wir uns vor einem Jahr gar nicht hätten zutrauen wollen, aber 400.000 Menschen im Jahr. Wenn wir uns drauf einstellen, wenn wir dazu die nötigen Integrationsstrukturen schaffen, das kann man über eine lange, lange Strecke, ein Jahrzehnt – und wir reden ja jetzt sicherlich über solche Zeiten – ein Jahrzehnt abbilden.
Wenn sie planbar sind, wenn Sie genau wissen, wo die Menschen hinkommen, wenn Sie dort Menschen haben, die sie aufnehmen können, dann ist so etwas möglich und dann kann Deutschland so etwas leisten. Wenn Sie aber Züge erwarten, in denen 100 sind, und es kommen 400 oder es kommen am Wochenende 1.000, dann kommen Sie in eine Situation, dass auch die, die das gerade auf wundervolle Weise tragen, mit großen Begrüßungsaktionen, dass die irgendwann in die Knie gehen. Und wenn das passiert, dann verändert sich was im Lande, und das können wir nicht wollen.
Frenzel: Ja, es verändert sich was im Lande, daran wollte ich anknüpfen, danach wollte ich fragen, Herr Albig. Bei Ihnen, Ihrer Argumentation, auch bei Herrn de Maizière, bei der Bundesregierung, ist das die Angst vor einer Bevölkerung, die vielleicht gar nicht mehr so laut willkommen ruft?
Lagekonferenz: Geprägt von "chaotisch wachsenden" Herausforderungen
Albig: Erst mal habe ich im Augenblick die Freude über eine Bevölkerung, die das tut, ich glaube aber trotzdem, wenn ich nicht beschreiben kann, dass das, was wir an Hilfe leisten, dass das auch einen Zielpunkt hat, dass es auch einen Erfolg hat, sondern wenn wir immer nur nachstellen und es reicht immer noch nicht, es reicht immer noch nicht – und wir erleben so was im Augenblick ja von Tag zu Tag. Wir haben jeden Morgen eine entsprechende Lagekonferenz, in der wir mehr mit chaotisch wachsenden Herausforderungen uns auseinandersetzen, und das dann gespiegelt an den Menschen beim Roten Kreuz, in den ehrenamtlichen Organisationen, dann nehme ich in jedem Fall, das heißt noch lange nicht, dass ich dann gleich rechte Tendenzen habe, aber ich nehme auf jeden Fall einen Großteil von Motivation auf Dauer raus.
Und das können wir nicht wollen. Wir müssen den Menschen auch eine Struktur bieten, bei der sie verlässlich sehen, auch Staat kann das leisten, und sie können sich an die Seite von Staat stellen, und gemeinsam bekommen wir das hin. Und wenn wir in solchen Größenordnungen, wie ich sie eben beschrieben habe, Jahr für Jahr etwas leisten, dann wäre es so herausragend auch in seiner humanitären Kraft, wie es ja auf diesem Kontinent seit den 50er-Jahren nicht geleistet wurde.
Wichtig ist, dass wir in dem Bekenntnis, zu leisten, nicht die Unfähigkeit, leisten zu können, gleichzeitig mit organisieren. Deswegen müssen wir uns ehrlich machen, deswegen ist dies – so ist jedenfalls meine Lesart – ein klarer Warnruf an Europa, den Herr de Maizière gesandt hat, bei aller ordnungspolitischen Kritik, die man bei so einem Schritt haben kann. Aber den Warnruf verstehe ich, und ich hoffe, er wird auch gehört, auch insbesondere in Osteuropa, aber darüber hinaus gehört ...
Und deswegen haben wir auch gebeten – Malu Dreyer, Stephan Weil und ich –, dass es morgen, am Dienstagabend, eine Sonder-MPK mit der Bundeskanzlerin gibt, um uns gemeinsam der Lage zu vergewissern und gemeinsam zu beschreiben, was muss eigentlich getan werden, damit wir es schaffen können in Deutschland, und nicht, damit wir daran scheitern.
Frenzel: Der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Torsten Albig, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Albig: Sehr gerne, danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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