Minister auf Demonstrationen

Die Straße gehört der Opposition!

Zentrale Mai-Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) für Nordrhein-Westfalen am 1. Mai 2018. in Bottrop (v.l.): Michael Vassiliadis (Vorsitzender IG BCE), Anja Weber (Vorsitzende DGB NRW) und Armin Laschet (CDU, Ministerpraesident NRW)
Demonstrierende und Politik Seite an Seite: Michael Vassiliadis (Vorsitzender IG BCE), Anja Weber (Vorsitzende DGB NRW), Armin Laschet (CDU, Ministerpräsident NRW) bei der zentralen Mai-Kundgebung des DGB in Bottrop © imago/epd
Von Max Thomas Mehr · 15.05.2018
Sie reihen sich ein in Demonstrationszüge gegen schlechte Arbeitsbedingungen oder zu hohe Mieten: Neuerdings gehen auch Minister gerne auf die Straße und bekunden Volksnähe. Den Journalisten Max Thomas Mehr ärgert das.
Die Revolution frisst ihre Kinder: Vietnamkriegsprotest und Anti-AKW-Demos, Friedensmärsche und der Kampf um besetzte Häuser - das war einmal. Voriges Jahrhundert. Heute scheinen Demonstrationen nicht mehr zeitgemäß. In Trumps Amerika, Orbans Ungarn, Kaczynskis Polen oder Erdogans Türkei mag das anders sein. Woran das liegt? Die Demonstranten von einst sind bei uns heute längst mit an der Macht. In Berlin lässt sich das besonders gut beobachten.
Als Mitte April ungefähr fünfzehntausend Demonstranten gegen den Mietenwahn durch die Straßen der Hauptstadt zogen und ihr Protest es bis in die Tagesschau schaffte, war dieser trotzdem irgendwie gehemmt, eigenartig gelähmt. Aufgerufen hatte ein "breites Bündnis" vom Mieterverein bis zur GEW, vom Blog "Gentrifidingsbums" bis hin zu diversen "Kneipenkollektiven". Die Parteien waren im Vorfeld höflich auf Distanz gehalten worden. Erfolglos: Der Regierende Bürgermeister (SPD) solidarisierte sich genauso wie die Bausenatorin der Linken, und Grüne latschten – nur halt ohne Fahne – mit und machten davon Selfies für ihre Accounts in den sozialen Netzwerken. Dem Protestbündnis war so flugs der politische Gegner abhanden gekommen. Die Frage, gegen wen demonstrieren eigentlich Minister, war gar nicht erst aufgekommen.

Paradoxer 1. Mai mit CDU und SPD am Redepult

Als dem Chef von Amazon im Berliner Springer-Hochhaus jüngst ein Innovationspreis des Verlages verliehen wurde, reihte sich die bis vor wenigen Wochen noch amtierende Bundesarbeitsministerin und jetzige Parteivorsitzende der SPD, Andrea Nahles, vor Ort "spontan" in eine Protestdemo gegen die schlechten Arbeitsbedingungen bei dem Versandriesen ein. Dabei hätte sie als Ministerin diese Arbeitsbedingungen durch entsprechende Gesetze ändern können.
Kurz zuvor noch Arbeitsministerin: Andrea Nahles im Rahmen der Demonstration gegen die Verleihung des Axel Springer Award 2018 an Amazon-Gründer Jeff Bezos.
Kurz zuvor noch Arbeitsministerin: Andrea Nahles im Rahmen der Demonstration gegen die Verleihung des Axel Springer Award 2018 an Amazon-Gründer Jeff Bezos.© imago/Markus Heine
Ähnlich paradox verlief der 1. Mai: Gerechter Mindestlohn – zweifellos ein berechtigtes Anliegen bei Gewerkschaftsdemos, genauso wie die Warnung vor Arbeitsplatzverlusten durch Digitalisierung oder die Schließung der letzten Kohlegruben. Nur: sind der Ministerpräsident der CDU (Laschet) oder der Bundesarbeitsminister der SPD (Heil) da die richtigen Hauptredner? Umgekehrt mussten die Autonomen in Berlin Kreuzberg am 1. Mai erleben, dass "Wut auf die herrschenden Verhältnisse" nicht mehr automatisch zu den dort üblichen Straßenschlachten führt. Vor allem, wenn sich die "Herrschenden" als eine linksgestrickte rot-rot-grüne Landesregierung entpuppen.

Neue Unübersichtlichkeit beim Demonstrieren

Aber auch im Bund, wo Angela Merkel mit der SPD nur regiert, weil die FDP sich einem Jamaika-Bündnis mit den Grünen verweigerte, gerät die Demonstrationsarithmetik von Politik und Protest durcheinander? Bleibt der neue Heimatminister? Doch ist Horst Seehofers Halbwertzeit als Feindbild nicht auch schon abgelaufen? Sollte die CSU nach der bayerischen Landtagswahl im Herbst gar gezwungen sein, mit den Grünen zu regieren, wird wohl auch der Innen-, Heimat-, und Bauminister schwarz-grün zurechtgestutzt. Über den Bundesrat sitzen etliche bunte Koalitionen jenseits der GroKo eh schon mit im Regierungsboot. Vielleicht sollte in dieser neuen Unübersichtlichkeit tatsächlich das Demonstrieren der AfD überlassen bleiben.
Der erste grüne Minister, Joschka Fischer, kündigte einst gleich zum Amtsantritt als Umweltminister in Hessen an, eine Atomfabrik in Hanau dichtzumachen. Seine Kampfansage machte ihn ratzfatz vom Demonstranten zum politisch handelnden Minister. "Ausstiegsorientierten Gesetzesvollzug" nannte er das lakonisch. Wo ist 30 Jahre später die Taskforce, die alle legislativen Möglichkeiten ausschöpft um den Mietenirrsinn und das Immobilien-Monopoli, die innenpolitisch brisanteste Baustelle – nicht nur in der Hauptstadt – zu beenden? Regiert endlich und geht erst wieder demonstrieren, wenn ihr in der Opposition seid.
Max Thomas Mehr, Jahrgang 1953, ist freischaffender politischer Journalist und Fernsehautor. Er hat die Tageszeitung "taz" mitbegründet. Für das Drehbuch des Films "Sebnitz: Die perfekte Story" (produziert von Arte/MDR) wurde er mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet
Max Thomas Mehr
Max Thomas Mehr© privat
Mehr zum Thema