Minderheiten

Ein Herrscher ohne Königreich

Von Julio Segador  · 06.01.2014
Bis heute haben sich die Afro-Bolivianer als ethnische Minderheit in Bolivien gehalten. Im Rahmen der Vielvölker-Verfassung Boliviens werden ihnen besondere Minderheitenrechte garantiert. Aber sie haben etwas, was die 35 anderen offiziell anerkannten Nationen und indigenen Gemeinschaften in Bolivien nicht haben: einen richtigen König, samt Krone.
Etwa 200 Leute haben sich im zentralen Hörsaal der Universität in Boliviens Hauptstadt La Paz versammelt. Es sind dunkelhäutige Bolivianer, die auf die Rednerin blicken, die an einem Pult auf der Bühne steht. CONAFRO trifft sich hier zu seiner Jahresversammlung. CONAFRO steht für den Nationalen Kongress des afro-bolivianischen Volkes.
Nach den Einführungsworten stehen alle auf, legen ihre rechte Hand auf das Herz, es wird feierlich:
Es ist frei dieses Land, das Dienen hat ein Ende, heißt es im Text der National-hymne, die alle im Saal lautstark mitsingen. Mit Stolz blicken die Afro-Bolivianer auf die rot-gelb-grüne Flagge, die während der Hymne gehisst wird. Dann kommt die Textzeile, bei der es vielen die Tränen in die Augen treibt: "Lieber sterben, als in der Sklaverei leben."
Kämpferischer Tonfall
Eine Strophe, die für die dunkelhäutigen Menschen im Saal eine besondere Bedeutung hat. Rund 35.000 Afro-Bolivianer leben in dem kleinen südamerikanischen Land in den Anden, die meisten von ihnen sind Nachfahren der Sklaven, die im 16. und 17. Jahrhundert aus Afrika nach Lateinamerika verschleppt wurden.
Am Rednerpult ist der Ton kämpferisch. Mit Stolz sprechen sie selbst von der "schwarzen Rasse", was in diesem Fall alles andere als diskriminierend gemeint ist. Alejandro Iriondo kommt auf die Bühne, ein älterer Herr mit schlohweißem Haar, den alle Tio – also Onkel - Alejandro nennen.
"Meine Brüder, CONAFRO ist der Zusammenschluss des afro-bolivianischen Volkes. CONAFRO ist nicht nur eine NGO. Wir sind eine der 36 Nationalitäten in Bolivien . Aber es kommt auf uns alle an. Auf uns! Man wird uns immer treten wollen. Vergesst nicht, der größte Feind der Schwarzen ist der Schwarze."Am Rand der Gesellschaft
Während im Hörsaal über die Situation der Volksgruppe diskutiert wird, stehen auf dem Platz vor dem Gebäude einige junge Afro-Bolivianer, darunter auch Eloina Sabanagemio und Jaime Medina. Beide sind Vertreter einer jungen Generation von dunkelhäutigen Bolivianern, die es leid sind, am Rand der Gesellschaft zu stehen. Seit 2009 garantiert den dunkelhäutigen Bolivianern die Vielvölker-Verfassung des Landes besondere Minderheitenrechte. Die Afro-Bolivianer sind eine der 36 Nationalitäten, die in der Verfassung eigens aufgeführt sind. Jaime Medina ist darauf sehr stolz.
"Für uns ist diese Verfassung sehr wichtig, sie schafft Räume, sie bietet uns ganz neue Möglichkeiten. Vor 2009 standen wir am Rand der bolivianischen Gesellschaft. Wir konnten die politischen Entscheidungen nicht beeinflussen, waren außen vor. Jetzt haben wir diese Möglichkeiten, aber wir müssen noch viel mehr Privilegien erreichen."
Die Afro-Bolivianer müssen um ihren Platz in der bolivianischen Gesellschaft kämpfen. Die in der Verfassung verankerten Rechte haben mit der Praxis nicht viel gemein. Papier ist geduldig. Diskriminierung und Rassismus sind auch heute noch an der Tagesordnung, berichtet Eloina Sabanagemio.
"Immer wieder. Wir werden angesprochen wenn uns die Weißen und Indios sehen: Dann heißt es oft: Dort sind die Neger, wir müssen sie berühren, das bringt Glück. Wir werden da richtig sauer. Mich bringt es auf die Palme. Zuletzt ist es ein wenig besser geworden, aber nur sehr wenig."
Der letzte König von Südamerika
Die Afro-Bolivianer sind ein Teil der bolivianischen Gesellschaft, aber sie sind durch ihre Geschichte und Hautfarbe etwas Besonderes. Und noch etwas ist anders. Die Afro-Bolivianer haben einen eigenen König. Es ist der einzige, der letzte König von Südamerika.
Es geht mit dem Auto von La Paz nach Mururata. Dort wohnt Don Julio Pinedo I., der König der Afro-Bolivianer. Mururata liegt in der Region der Yungas, einer fruchtbaren Tiefebene. Von La Paz aus geht es zunächst Richtung Süden über einen 4600 Meter hohen Bergpass, danach führt die Fahrt ins Tal, über die „ruta de la muerte“, die gefürchtete Strecke des Todes.
Die einspurige Schotterpiste schlängelt sich zumeist ohne Leitplanken an unbefestigten Abhängen entlang. Der Blick ins Tal ist furcht-erregend, es geht steil in die Tiefe. Während der Fahrt sind überall Kokafelder zu sehen. Kleine bepflanzte Parzellen an steilen Hängen. Nach zwei Stunden Fahrt kommt Mururata in Sicht. Ein Dorf, in dem einige hundert Seelen wohnen. Im Ort fallen sofort die vielen dunkelhäutigen Menschen auf.
Eine Enklave dunkelhäutiger Menschen
Frauen, in der typischen bolivianischen Tracht mit den Polleras, den weiten farben-prächtigen Kaskaden-Röcken und den steifen, schwarzen, runden Melonen-Hüten. Männer, die auf Bänken sitzen und Koka kauen, das sie im Mund von einer Backe in die andere schieben. Eine Enklave dunkelhäutiger Menschen, mitten im bolivianischen Niemandsland. Hier in Mururata wohnt also der König der Afro-Bolivianer. Im Rathaus des Ortes empfängt er immer seine Gäste.
Doch es ist nicht der König, der die schwere Holztüre öffnet. Es ist eine ältere Frau. Hier sei das Büro des Königs, teilt sie den Besuchern mit. Und klärt auf, wer sie ist: Sie sei die Königin, erklärt sie, und stellt sich als Doña Angelica vor. Eine sehr kleine, rundliche Frau, gekleidet in der bolivianischen Tracht mit einem überdimensionierten Überrock, unter dem sich weitere Röcke verstecken; einer schwarzen Strickjacke und einem beigefarbenen, runden Melonenhut.
Der Raum ist kaum eingerichtet. Ein einfacher Holztisch und ein Stuhl stehen im Zimmer. An der Wand hängen Bilder und Poster. Vor einem vergilbten Schwarz-Weiß-Foto, auf dem ein dunkelhäutiger Mann mit weißem Hemd, einer Weste und einer großen Schleife um den Hals zu sehen ist, bleibt Doña Angelica stehen.
"Schon die Vorfahren meines Mannes waren Könige, der letzte vor ihm war Don Bonifacio Pinedo. Wir sehen ihn hier auf diesem Foto. Als Bonifacio, der Großvater meines Mannes starb, blieb der Thron über viele Jahre verwaist. Wir hatten keinen König. 1992 kamen sie auf meinen Mann zu und meinten: Du bist jetzt der König, weil Bonifacio keine männlichen Nachkommen hat, nur Töchter. Und so kam es, dass sie ihn 1992 zum König krönten. Ich war damals unglaublich stolz. Das war ein ganz spezieller Moment, für alle, nicht nur für meinen Mann. Ich habe fast geweint. War ich an diesem Tag stolz …"
Doña Angelica schließt das Rathaus ab, geht über den staubigen und verwahrlosten Dorfplatz zu ihrem Haus. Dort warte schon der König, meint sie.
Der König trägt eine abgewetzte Hose
Im Haus sind Geräusche zu hören. Don Julio Pinedo kommt ins Zimmer. 71 Jahre ist der König der Afro-Bolivianer alt. Er trägt eine abgewetzte dunkle Hose, ein lilafarbenes Hemd und einen Hut mit Krempe. Einen König stellt man sich anders vor.
Freundlich grüßt Julio Pinedo. Und er erzählt, weshalb er der König der Afro-Bolivianer ist.
"Die Abstammung meiner Familie lässt sich bis zum Jahr 1535 zurückverfolgen. Das ist ganz schön lange. Und ich bin der Enkel von Bonifacio Pinedo, dem letzten König. Seine Familie kam einst aus Afrika, aus dem Senegal."
Julio Pinedo ist der Nachkomme eines senegalesischen Königs, der im 16. Jahrhundert von den spanischen Eroberern als Sklave von Afrika nach Südamerika gebracht wurde. Eine Stammbau-Analyse stellte vor einigen Jahren fest, dass in den Adern des heute 71-jährigen Kokabauern aus Mururata tatsächlich königliches Blut fließt. Die Geschichte der dunkelhäutigen Vorfahren von Julio Pinedo ist eine traurige Geschichte:
"1535, als die Spanier Bolivien besetzten, kamen sie mit den schwarzafrika-nischen Sklaven erst nach Potosí, zu den Silberminen. Danach schafften sie sie in die Haciendas hierher in die Yungas, wo sie auf den Feldern arbeiten mussten. Es ist eine unheilvolle Geschichte. Sie mussten als Sklaven arbeiten. Die schwarze Rasse musste sehr viel erleiden."
An die indigene Bevölkerung angepasst
1826 wurde die Sklaverei in Bolivien offiziell abgeschafft, doch sie hielt sich noch bis 1952, als eine Agrarreform die Besitzverhältnisse grundlegend änderte. Ab diesem Moment konnten auch die Afro-Bolivianer eine kleine Parzelle bewirtschaften. Die Sklaverei war Geschichte, an die einstigen Patrones, die spanischen Großgrundbesitzer, erinnerten nur noch die Nachnamen, die die früheren Sklaven trugen und deren Nachfahren bis heute tragen. Daher der Ursprung des Namens Pinedo.
Die Afro-Bolivianer haben sich angepasst und die Kultur der indigenen Bevölkerung im Land angenommen. Sie kleiden sich wie die Aymara-Indios, auch die Religion und die Sprache ist die ihrer bolivianischen Mitbürger. Und doch gibt es sie noch, die afrikanischen Wurzeln. Sie leben in ihrem ursprünglichsten Tanz fort, in der rhyth-mischen Saya.
Die Saya gibt als Tanz und Gesang den Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung wieder, den viele Generationen der Afro-Bolivianer im Laufe der Jahrhunderte austrugen. Es ist eine letzte, intensive Verbindung zu ihrer alten Heimat auf dem afrikanischen Kontinent. Die dumpfen Klänge der Trommeln begleiten die schrillen Stimmen der Frauen und die Antworten des männlichen Chores. Monica Rey tanzt und singt Saya seit ihrer frühesten Kindheit.
"Die Trommeln waren die Multiplikatoren unserer Stimmen. Wir sind ja eine kleine Volksgruppe, eine Minderheit. Wir durften früher nicht auf die Straße um zu demonstrieren, um uns Gehör zu verschaffen. Also haben wir das benutzt, was uns unsere Vorfahren mitgegeben haben."
Auch Don Julio Pinedo, der König der Afro-Bolivianer, und seine Frau Doña Angelica haben von Kindesbeinen an Saya getanzt. Beide leben in einem kleinen, schlichten Eckhaus in Mururata. In dem oberen Stockwerk befinden sich ein Schlafzimmer und ein kleines Bad, das Parterre ist ein einziger großer Raum, der als Laden fungiert. Küche, Geschäft, WC und Abstellkammer sind darin integriert. Die Waren stehen ohne erkennbares System in den Regalen. Speiseöle, Obst, Thunfischdosen, Tomaten, Kaugummis, Nudeln und Kokablätter. An manchen Tagen bäckt Doña Angelica frisches Brot. Es ist ein Leben, wie es Don Julio Pinedo nicht anders kennt. Ein hartes, entbehrungsreiches Leben, nicht gerade königlich.
"Ich war der älteste der Brüder. Und ich habe dann das kleine Feld meines Großvaters übernommen, pflanze dort Koka an. Wir haben uns an diese Arbeit gewöhnt, und meine Söhne werden sie fortführen."
Keine Exekutivgewalt
Die traditionelle Kultur der Afro-Bolivianer bewahren, der Volksgruppe einen Platz in der bolivianischen Gesellschaft sichern. Das sind die Dinge, die Don Julio Pinedo in seiner Funktion als König anstoßen möchte. Ähnlich wie die modernen Monarchen in Europa hat er dabei keine Exekutivgewalt, keine rechtlichen Möglichkeiten. Seine Macht beschränkt sich auf das Repräsentieren.
Er ist bei festlichen Ereignissen – auch auf nationaler Ebene das Gesicht der Afro-Bolivianer. Innerhalb der Volksgruppe gilt er als Respektsperson. Er tritt bei Kongressen auf, und hat so manches Mal bei internen Auseinandersetzungen geschlichtet. Die Afro-Bolivianer gehören zum armen Teil der Bevölkerung. Bis heute haben sie schlechteren Zugang zu Bildung und Gesundheit, sie verdienen deutlich weniger als andere Volksgruppen, leben oft in Armut. Bis vor 4vier Jahren tauchten sie in offiziellen Statistiken gar nicht auf, wurden verwaltungstechnisch als "Andere" bezeichnet. Das immerhin hat sich geändert. Optimistisch ist Don Julio Pinedo dennoch nicht.
"Rassismus gibt es hier seit jeher. Seit der Zeit der spanischen Patrones. Und nicht einmal die Landreform von 1952 hat den Rassismus beendet. Ich denke, es wird ihn immer geben. Wir Schwarzen waren immer an den Rand gedrängt. Die Diskriminierung wird so schnell nicht verschwinden. Es gibt sie immer noch die Diskriminierung."
Skepsis gegenüber einem König
Viele Bolivianer, auch jene, die die Vielvölkerverfassung aktiv unterstützen, sind immer wieder erstaunt, dass es in ihrem Land einen König gibt. Auch Marianella Paco schüttelte erst ungläubig den Kopf. Die 37-Jährige ist Abgeordnete des bolivianischen Parlamentes und gehört der linksgerichteten Regierungspartei MAS von Indio-Präsident Evo Morales an. Die anfängliche Skepsis, die sie hatte mit Blick auf den einzigen König Lateinamerikas, der noch dazu in ihrem Land lebt, ist verflogen. Sie unterstützt die afro-bolivianische Volksgruppe.
"Ich glaube, sie werden künftig eine noch wichtigere Rolle spielen. Denn durch die Afro-Bolivianer ist es uns gelungen, den Rassismus im Land sichtbar zu machen, bedingt durch ihre Hautfarbe. Natürlich habe ich sie anfangs gefragt: Was soll das mit dem König? Und sie sagten, das sei Teil ihrer Geschichte. Wir müssen diese Institution respektieren. Das hat ja nichts mit einem traditionellen Monarchen zu tun, der richtige Machtbefugnisse hat. Das hat nichts Negatives. Er steht ja in keiner Konkurrenz zu unserem Präsidenten Evo Morales, ebenso wenig zum Papst oder einem europäischen Monarchen. Sie drücken damit ihren Zusammenhalt aus, ihre Weisheit, den Respekt gegenüber Älteren in ihrer Gemeinschaft."
Rolando ist auf dem Weg zum alten Friedhof von Mururata. Es geht durch dichtes Gebüsch, die Luft ist feuchtwarm, überall summt es. Schon nach wenigen Minuten perlen die Schweißtropfen am Gesicht des jungen Mannes ab. Rolando Pinedo ist der Neffe von Don Julio Pinedo, dem König. Zwar lebt er in La Paz und besucht dort die Universität, aber jedes Wochenende kommt er in die Yungas nach Mururata, wo er seinen Onkel besucht.
Rolando schlägt und wischt mit einem Zweig über den Boden. Das soll die Klapperschlangen abschrecken, die in diesem Teil der Yungas weit verbreitet sind. Der 25-Jährige nennt seinen Onkel Julio Pinedo Vater. Der König selbst hat keine Kinder, irgendwann wird Rolando den Thron der Afro-Bolivianer einnehmen. Und er bereitet sich schon jetzt darauf vor.
Große Verantwortung kommt mit dem Posten
"Das ist schon eine sehr große Verantwortung. Ich muss mich da immer wieder zurücknehmen. Ich kann ja keine Dinge machen, die ein schlechtes Licht auf uns werfen. Auf die Familie, auf meinen Vater. Die Leute achten da sehr darauf. Da muss man wirklich Acht geben, die Verantwortung ist groß. Ich muss mit gutem Beispiel vorangehen, ein gutes Bild abgeben."
Rolando bleibt vor dem Grab seiner Urgroßeltern stehen. Hier liegen König Bonifacio und seine Frau begraben. Die Grabplatte hat schon bessere Zeiten gesehen, sie ist an vielen Stellen beschädigt. Auf der cremefarbenen Platte steht ein großes weißes Kreuz aus Marmor. Rolando wird in einigen Jahren der neue König sein, er wird Don Julio Pinedo, dem Herrscher der Afro-Bolivianer nachfolgen. Und vielleicht wird es ihm vergönnt sein, den Traum, den schon sein Onkel hatte, zu verwirklichen. Einmal die Heimat seiner Vorfahren besuchen. Dorthin reisen, woher der erste König stammte: in den Senegal.
"Ich würde gerne dorthin gehen. Zusammen mit meinem Vater und meiner Mutter nach Afrika reisen. Vielleicht schaffen wir es in einigen Jahren dorthin, um dann mit den anderen Königen zu reden. Ich weiß, ich werde den Kontinent zusammen mit meinen Eltern sehen. Wir tun alles dafür, damit wir es eines Tages schaffen."