Minarette und moderne Gesellschaften

Von Joseph Croitoru |
Die Gegenwart lässt historische Prozesse sichtbar werden, Geschichtsbilder wiederum sind immer auch ein Spiegelbild der Sichtweise der Gegenwart. Und sie spielen in nationalen wie interreligiösen Konflikten eine zentrale Rolle. Nicht zuletzt der Streit um den geplanten Moscheebau in Köln hat gezeigt, wie stark ein kollektives historisches Gedächtnis auch noch hunderte Jahre später vom einstigen Trauma einer drohenden Fremdherrschaft belastet sein kann.
Die Unverträglichkeit des Minaretts mit einer modernen westlichen Umgebung wurde, dies ist eines der erschreckendsten Beispiele aus der jüngeren Geschichte, den Palästinensern zum Verhängnis. Erst seit kurzem ist bekannt, dass von rund 140 Moscheen, die vor dem israelisch-arabischen Krieg von 1948 noch in palästinensischen Dörfern standen, gerade mal 40 die Zerstörungswut der israelischen Armee überstanden haben – heute sind es meist nur noch Ruinen, bei denen auffallenderweise fast immer die Minarette fehlen. Die Zerstörung palästinensischer Ortschaften – es waren über 400 an der Zahl – durch die Israelis und auch deren damalige Kriegsgräueltaten sind nach wie vor ein nur ansatzweise aufgearbeitetes Kapitel der israelisch-palästinensischen Geschichte.

Dass die Tabuisierung auf israelischer Seite System hat, musste der Historiker Teddy Katz vor 10 Jahren am eigenen Leibe erfahren. Katz forschte damals an der Universität von Haifa über die Geschichte eines Massakers, das israelische Soldaten 1948 in dem Dorf Tantura an palästinensischen Zivilisten verübt hatten. Er erwarb sich mit dieser Arbeit den Magistertitel, den ihm die Universität jedoch kurze Zeit später aberkannte: Nachdem israelische Veteranen von Katz’ Studie aus sensationsheischenden Presseberichten erfahren hatten, verklagten sie den Autor, woraufhin ihm die Universitätsleitung schließlich auf präzedenzlose Weise und mit fadenscheinigen Argumenten den akademischen Titel entzog.

So eng miteinander verflochten können in Israel Wissenschaft und Politik sein, wenn es darum geht, ein zionistisches Geschichtsbild aufrechtzuerhalten, mit dem das moralische Recht der Sieger zementiert werden soll. Kein Wunder, dass seit dem Fall Katz kritische Historiker vorsichtiger geworden sind.

So auch der junge israelische Archäologe und Historiker Raz Kletter, der unlängst die Ergebnisse seiner Forschungen über die Gründerzeit der israelischen Archäologiebehörde auf englisch im Ausland präsentierte. Dass seine Untersuchung Sensationelles enthält, wäre wahrscheinlich im fast unüberschaubaren Dickicht der Fachliteratur untergegangen und der Öffentlichkeit vorenthalten geblieben, wäre die linksliberale israelische Zeitung "Haaretz" nicht per Zufall darauf aufmerksam geworden. Kletter schildert in seinem Buch die Auseinandersetzungen zwischen Shemuel Yeivin, dem Chef der staatlichen Archäologiebehörde in den Jahren 1948 bis 1959, und Moshe Dayan, dem ruhmreichen israelischen General und späteren Held des Sechs-Tage-Krieges. Wie nebenbei erfährt man, dass Dayan, der sich neben seiner Militärkarriere auch als passionierter und skrupelloser Hobby-Archäologe betätigte, mehrere Male höchstpersönlich befohlen hatte, palästinensische Moscheen zu sprengen – trotz der Proteste des Chefs der Archäologiebehörde Yeivin. Neu daran ist nicht nur, dass nun solche Befehle zum ersten Mal als Archivdokumente vorliegen, sondern auch der Umstand, dass die Sprengung zahlreicher Moscheen ganze zwei Jahre nach dem Krieg von 1948, also völlig willkürlich, erfolgte.

Der Aufsehen erregende Bericht in "Haaretz", der zahlreiche empörte Leserreaktionen hervorrief, wirft nun die Frage auf, ob es nicht sogar bereits während des Krieges einen umfassenden Plan gegeben hatte, möglichst viele palästinensische Moscheen zu zerstören. Der Archäologe und Geschichtsforscher Kletter rechtfertigte sich für seine Studienergebnisse vorsichtshalber schon im Vorfeld: Er sei keineswegs einer jener in Israel in Verruf geratenen "Neuen Historiker", die Israels Gründungsmythen in Zweifel zögen. Und es habe auch nicht in seiner Absicht gelegen, an der damaligen Vorgehensweise der israelischen Armee Kritik zu üben: Die Zerstörung palästinensischer Ortschaften habe schließlich dem damaligen Zeitgeist entsprochen – in den häufig auf den Ruinen palästinensischer Dörfer neu errichteten jüdischen Siedlungen hätte es ohnehin keinen Platz für muslimische Gebetshäuser gegeben; sie hätten auch nicht in die neue israelische Landschaft gepasst.

Dass diese Barbarei in Israel jahrzehntelang verheimlicht werden konnte, ist ebenso beklemmend wie ihre ja fast schon Rechtfertigung in der Rückschau durch einen israelischen Historiker. Dass die palästinensischen Islamisten heute die Moscheeruinen wiederaufbauen wollen und den Bau weiterer Gebetshäuser forcieren, ist vor diesem Hintergrund nicht weiter verwunderlich.


Joseph Croitoru, 1960 in Haifa geboren, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Judaistik in Jerusalem und Freiburg. Seit 1988 war er als freier Journalist zunächst in Israel tätig, seit 1992 auch für die deutschsprachige Presse ("Frankfurter Allgemeine Zeitung" und "Neue Zürcher Zeitung"). Seit 1997 ist er fester Autor des Feuilletons der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" mit den Schwerpunkten Nahost und Osteuropa. Zuletzt erschienen von Croitoru die Bücher "Der Märtyrer als Waffe. Die historischen Wurzeln des Selbstmordattentats" und "Hamas. Der islamische Kampf um Palästina".