Millionen auf dem Weg nach Mekka

Moderation: Jürgen König · 18.12.2007
Jeder Muslim sollte einmal im Leben nach Mekka gereist sein, schreibt der Koran vor. Die Kaaba, Heiligtum des Islam, muss dort sieben Mal umrundet werden. Trotz Andrangs herrsche Disziplin und Andacht, sagt Islamwissenschaftler Werner Ende. Inzwischen beschäftige sich eine Hadsch-Wissenschaft damit, wie lange ein Einzelner an einer Stelle verweilen dürfe.
Jürgen König: Der Hadsch, die Pilgerfahrt nach Mekka hat begonnen. Jeder gläubige Muslim muss sie einmal in seinem Leben antreten. Der Hadsch besteht aus einer Vielzahl von Ritualen, im Zentrum dabei die Kaaba, jenes schwarze, würfelförmige Gebäude im Innenhof der großen Moschee von Mekka, nach islamischer Vorstellung das Haus Gottes, das zentrale Heiligtum des Islam. Jedes Jahr gehen vor allem die Bilder vom großen Menschengedränge an der Kaaba um die Welt. Dabei besteht der Hadsch aus sehr viel mehr. Was ihn ausmacht, welche Belohnung er verheißt, was er aber auch für ein Land wie Saudi-Arabien organisatorisch bedeutet, all dies soll uns jetzt Werner Ende erklären, Islamwissenschaftler, emeritierter Professor der Universität Freiburg im Breisgau. Herr Ende, guten Morgen!
Werner Ende: Guten Morgen!
König: Was genau passiert da an der Kaaba?
Ende: Die Pilger richten ihren Blick auf die Kaaba, dieses Gebäude, das übrigens nicht schwarz ist, aber mit einem schwarzen Tuch bedeckt ist, sodass dieser Eindruck entsteht, das ganze Gebäude sei schwarz. Und sie folgen damit eben auch einer Aufforderung im Koran, der nach muslimischer Überzeugung ja das Wort Gottes ist. Sie sollten ihr Gesicht dorthin wenden in Richtung der heiligen Kultstätte, wie es im Koran heißt. Und dabei bedenken sie eben, dass diese Kaaba wiederum nach dem Koran das erste Gotteshaus sei, das überhaupt für die Menschen errichtet worden sei. Und diese Vorstellung wird dann auch in Verbindung gebracht mit Abraham, also dem biblischen Abraham, der den Muslimen auch eine wichtige Figur ist, der angeblich dieses Gebäude errichtet habe. Sie müssen dann sieben Mal um diese Kaaba gehen, eine Umwandlung dieses Gebäudes, die Kaaba bleibt dabei immer linker Hand. Und im Allgemeinen vollzieht sich das angesichts des Gedränges, das da herrscht, eigentlich mit großer Disziplin und Andacht. Man kann also nicht sagen, dass es sich um ein wildes Gewühle handelt. Das wird auch letztlich durch entsprechendes Personal unterstützt, dass es dort nicht allzu turbulent zugeht.
König: Gehen wir die Sache der Reihe nach an. Wer darf am Hadsch teilnehmen und wie bereitet man sich darauf vor?
Ende: Also zunächst mal muss man Muslim oder Muslimin sein. Für Nichtmuslimen ist es nicht, das erscheint zunächst mal ganz banal. Aber man muss sich klarmachen, dass das sehr, sehr streng gehandhabt wird, also der Zutritt zu dem Bereich von Mekka ist in dieser Hinsicht schon einmal limitiert. Dann Männer und Frauen, also es ist keineswegs so, dass Frauen davon ausgeschlossen wären, und die Zahl der Frauen, die teilnehmen, wächst auch prozentual, gerade in den letzten Jahren. Der Mensch muss die Pubertät erreicht haben, die wird in Verbindung gebracht auch mit einer gewissen geistigen Reife. Das ist eigentlich der Hintergrund, weshalb auch Geisteskranke oder Menschen, die nicht geistig ganz gesund sind, ausgenommen sind. Für die besteht die Pflicht nicht, ja es besteht sogar eine Art Verbot. Man überlässt das dann eben Angehörigen, es wird aber empfohlen, solche Menschen nicht zur Pilgerfahrt zu bringen. Man soll es nur einmal im Leben tun, man darf es aber häufiger tun. Und man soll auch materiell und anderweitig in der Lage sein. Und das ist dann natürlich ein Problem für viele vor allen Dingen, die weit entfernt leben und nicht sehr bemittelt sind, die Pilgerfahrt doch zu machen. De facto macht die Mehrzahl der männlichen und weiblichen Muslime in der Welt, das sind ja über eine Milliarde, die Pilgerfahrt de facto nicht. Aber die Verpflichtung besteht, und man muss dann eben Gründe haben, Krankheit oder Kriegsfälle oder dergleichen, die im eigenen Land oder in Saudi-Arabien oder Umgebung davon abhalten. Man kann das an den Pilgerzahlen ablesen.
König: Wie viele Menschen unternehmen den Hadsch in jedem Jahr, so ungefähr?
Ende: Ja, das sind zwischen zwei und drei Millionen. Da sind die Angaben ja auch schwierig, weil manchmal nur angegeben wird in den internationalen Pressemeldungen, wie viele Leute aus dem Ausland gekommen sind. Das sind zirka 2 oder 2,2 Millionen in diesem Jahr. Nur, es gibt ja im Lande selbst, in Saudi-Arabien, Millionen von Einwohnern, also Staatsbürger Saudi-Arabiens, und dazu etwa acht Millionen Gastarbeiter, von denen nicht alle, aber eine große Mehrzahl Muslime sind, die die Gelegenheit nutzen, auch zur Pilgerfahrt zu gehen, sodass man letztlich alles in allem in diesem Jahr mit fast drei Millionen rechnet.
König: Für die Behörden Saudi-Arabiens muss doch der alljährliche Hadsch eine gigantische Herausforderung sein?
Ende: Ja, das kann man wohl sagen. Und alles in allem, ungeachtet vieler Unglücksfälle, die in den letzten Jahren passiert sind, ist es eine großartige Leistung. Und es gibt jetzt geradezu eine Art Hadsch-Wissenschaft mit Forschungsinstituten, die genau berechnen, wie lange der einzelne Pilger an welcher Stelle verweilen darf, was natürlich bei einer Pilgerzahl von über zwei Millionen ein großes Problem ist, zumal viele dieser Leute, die da kommen, irgendwie aus entlegenen Tälern in Kaschmir oder irgendwelchen Krals in Afrika, die haben noch nie eine Verkehrsampel gesehen. Und Mekka sieht inzwischen eben doch ein bisschen so aus wie eine gigantische, hochmoderne Anlage, wo die Leute im Takt durchgeführt werden. Das verträgt sich natürlich nicht mit den innigen, religiösen Gefühlen, die viele haben.
König: Ist der Hadsch auch ein großes Geschäft?
Ende: Das war immer ein gewisses Geschäft. Also selbst in vorislamischer Zeit, wo es so etwas Ähnliches, es ist zwar nicht dasselbe, aber etwas Ähnliches gegeben hat, war da schon ein großer Markt. In früheren Jahrhunderten war das immer eine Gelegenheit und vor allen Dingen seit dem 18./19. Jahrhundert mit der Dampfschifffahrt, Öffnung des Suez-Kanals, vielem anderen mehr, also der Erhöhung der Pilgerzahlen, ist das auch größer geworden, wo dann auch europäische und amerikanische und japanische Waren in immer größerem Maße angeboten wurden als Devotionalien und anderes. Und da hat es auch immer Klagen von Pilgern gegeben über Beutelschneiderei und andere unerfreuliche Dinge, und zwar zu hohe Unterkunftskosten.
König: Ist der Hadsch auch ein Ort des Gesprächs? Wenn man bei uns an Kirchentage zum Beispiel denkt, dann ist es immer auch ein großes Diskussionsforum. Und in diesem Fall, wenn ich mir zum Beispiel vorstelle, da kommen Sunniten und Schiiten zusammen, das wäre doch die ideale Gelegenheit, sich auseinanderzusetzen?
Ende: Theoretisch ja, und das geschieht auch. Und in den Selbstdarstellungen vieler muslimischer Autoren über ihre Reise und so etwas wird das auch betont. De facto ist es aber nur begrenzt der Fall. Das beginnt beispielsweise mit sprachlichen Schwierigkeiten. Die sprechen ja nicht alle Arabisch, die da kommen, also Leute aus Chinesisch-Turkestan oder so etwas. Selbst Iraner sprechen nicht ohne Weiteres Arabisch. Das ist ja eine völlig andere Sprache. Dann gibt es doch tatsächlich Berührungsängste. Man sieht, dass der andere wohl ein Schiit ist als Sunnit, und wenn man aus Nordafrika kommt, wo es kaum Schiiten gibt, betrachtet man die doch mit einem gewissen Misstrauen. Also es gibt diese Gespräche, das wird sehr betont. In der Realität hält man sich häufig in der eigenen Gruppe. Das ist auch ein organisatorisches Prinzip. Man hat einen Pilgerführer, der seine Schäfchen zusammenhält. Und, sagen wir mal, in einer Situation wie heute, heute ist der Arafat-Tag, wo man dann an diesem Berge außerhalb von Mekka steht und sich der Kontemplation hingibt, da kommt es schon vor, dass mal Gespräche stattfinden, sei es auf Englisch oder in einer anderen Sprache. Aber so, wie man es häufig propagiert, ist diese Möglichkeit von Annäherung nicht. Es bleibt ein sehr platonisches Gefühl von allgemeiner, islamischer Brüderlichkeit, und man rührt möglichst nicht an bestimmte Probleme, die es gibt.
König: Welche Orte sind es vor allem, die den Hadsch bestimmen und welche Rituale?
Ende: Na ja, einmal sicher das, was direkt in Mekka um die Kaaba herum stattfindet, also was das Haus Gottes ist, darüber habe ich schon gesprochen. Dann gibt es da so einen Lauf zwischen zwei ehemaligen Hügeln, die man so nicht mehr sieht, zwischen Safa und Marwa, das alles hat eine religiöse, symbolische Bedeutung. Aber das würde zu weit führen, darüber zu reden. Für viele ist es einfach Pflicht, das macht man, und man denkt daran, was da religiös dahintersteht, mehr oder weniger deutlich. Und dann gibt es eben bestimmte Örtlichkeiten außerhalb von Mekka, Arafat als das am weitesten, also etwa 15 km östlich von Mekka gelegene Gebiet, ein Tal. Das ist eigentlich das Tal, die Ebene von Arafat mit einem kleinen Berg, eigentlich einem kleinen Hügel, in dessen Angesicht man steht. Man muss da nicht hinaufgehen, davon wird sogar gelegentlich abgeraten, aber vielen ist es ein Bedürfnis. Und dann gibt es ...
König: Das Grab des Propheten wird immer noch genannt.
Ende: Nein, das ist aber nicht in Mekka. Das ist in Medina.
König: Und nicht Teil des Hadsch?
Ende: Das ist überhaupt nicht Teil des Hadsch, aber vielen ein intensives Bedürfnis, dorthin zu gehen. Entweder vorher, das waren in diesem Jahr, glaube ich zirka eine Million, die vorher, bevor sie nach Mekka reisten, vom Ausland kommen, erst nach Medina gereist sind. Da gibt es inzwischen einen eigenen Flugplatz, und sie gehen dort zum Grab des Propheten oder in dessen Nähe. Das ist bei einer Million schon ein großes Problem. Es gibt dort noch einen großen bedeutenden Friedhof, den bedeutendsten, historisch gesehen, der islamischen Welt, wo man Gräber besuchen kann und so etwas. Und dann geht man da hin. Also es ist ein enger Zusammenhang und, wie gesagt, wenn man die religiöse Emotion bedenkt, dann ist der Besuch in Medina außerordentlich wichtig. Aber es ist nicht der Teil des Hadsch.
König: Vielen Dank! Der Hadsch hat begonnen. Ein Gespräch mit Werner Ende, er ist emeritierter Professor für Islamwissenschaften an der Universität Freiburg im Breisgau. Vielen Dank!
Ende: Gern geschehen.