Militärhistoriker: Bundeswehr droht strukturgefährdendes Nachwuchsproblem

Martin Kutz im Gespräch mit Joachim Scholl |
Nach Ansicht des Militärhistorikers Martin Kutz steht die Bundeswehr als Frewilligenarmee vor neuen Herausforderungen - auch bei der Personalauswahl. "Die Qualifikation der Bewerber hängt sehr, sehr stark auch von der Wirtschaftslage ab", sagte Kutz angesichts des Gelöbnisses zum 20. Juli.
Joachim Scholl: Immer am 20. Juli, am Gedenktag des Attentats auf Adolf Hitler, werden die Rekruten der Bundeswehr vereidigt. Heute werden dieses Gelöbnis zum ersten Mal nur Freiwillige ablegen: Seit Anfang dieses Monats ist die Wehrpflicht offiziell ausgesetzt – ein historisch bedeutsamer Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik. Wir sind jetzt mit Martin Kutz verbunden, er ist Militärhistoriker und war bis 2004 wissenschaftlicher Direktor für Soziologie, Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Führungsakademie der Bundeswehr. Guten Morgen, Herr Kutz!

Martin Kutz: Schönen guten Morgen!

Scholl: Dieses Gelöbnis am 20. Juli ist Tradition. Was war, was ist die Botschaft, die durch den Festakt an diesem Datum von der Bundeswehr übermittelt werden soll?

Kutz: Das geht in erster Linie darum, deutlich zu machen, dass deutsche Soldaten nicht Soldaten wie alle anderen sind, die einfach nur in irgendwelche Gefechte oder Kriege geschickt werden können oder sollen, sondern dass die moralisch-ethischen Grundlagen unseres Staates, der Bundesrepublik, immer im Blick sein müssen, dass entsprechend unserer Verfassung auch mit dem Militär umgehen.

Scholl: Der Staatsbürger in Uniform – das war das Bild, die Formulierung, mit der auch über die Jahrzehnte die Wehrpflicht immer legitimiert und verteidigt wurde. Hat dieses Bild nun ausgedient?

Kutz: Nein, also umstritten ist es ja immer in der Bundeswehr gewesen, aber offiziell war es immer das Leitbild und ist es auch heute noch, und es ist auch heute noch dringend notwendige Grundlage. Daran zu rütteln, das wäre eine ganz, ganz gefährliche Angelegenheit.

Scholl: Nun wird schon skeptisch gerechnet: Bei einer Sollstärke von circa 170.000 Zeit- und Berufssoldaten braucht die Bundeswehr rund 60.000 Bewerber. Der Historiker Michael Wolffsohn von der Münchner Bundeswehruniversität befürchtet, dass vor allem schlecht ausgebildete junge Männer mit wenig Berufsaussichten diese Freiwilligen bilden werden. Wolffsohn hat sogar das böse Wort vom Prekarier verwendet. Sehen Sie diese Gefahr?

Kutz: Die Gefahr durchaus, ja, aber man sollte das auch nicht überschätzen. Das Erste wird erst einmal sein, dass die Bundeswehr bei Weitem nicht diese Bewerberzahlen bekommt. Und die Art und Weise oder besser gesagt die Qualifikation der Bewerber hängt sehr, sehr stark auch von der Wirtschaftslage ab: Je miserabler die Wirtschaft ist, umso bessere Bewerber für die Bundeswehr, und je besser die Wirtschaftslage, umso miserabler die Bewerber für die Bundeswehr. Das ist eine Erfahrung, die wir schon über die letzten Jahrzehnte gehabt haben, daran wird sich im Prinzip nichts ändern.

Scholl: Nun hat es durch die Auslandseinsätze definitiv eine Verschiebung von der reinen Verteidigungsarmee im Wartestand zu einer Truppe auch im Kampfeinsatz gegeben, im Kosovo, in Afghanistan. Es ist ein Kampf gegen einen Feind, den man nicht sieht – Stichwort wäre hier asymmetrische Kriegsführung. Wir erinnern uns alle an den folgenschweren Luftangriff in Kundus, wonach erbittert über den Primat der Politik diskutiert wurde. Herr Kutz, ist die Bundeswehrführung überhaupt noch damit einverstanden, dass alle Kommandogewalt eigentlich vom Parlament ausgeht?

Kutz: Ach, so kann man nicht mit ja oder nein antworten. Es gibt auf verschiedenen Ebenen immer Leute, die sagen, die sollen uns machen lassen, und auf der anderen Seite ist ziemlich eindeutig – und das kann man gerade auch an Erfahrungen aus Afghanistan festmachen –, dass auch das, was auf der untersten Ebene im Militär passiert dort in diesen Einsätzen, gravierende politische Folgen haben kann: Die Amerikaner haben das uns vorgemacht mit Abu Ghuraib, und bei uns ist das ja diese Geschichte mit diesem Spiel mit Totenköpfen damals gewesen, eine Angelegenheit, die man als völlig harmlos ansehen kann, aber die die deutsche Presselandschaft aufgeregt hat und bis ins Parlament hinein mit allen möglichen Irritationen gewirkt hat. Also man muss sich darüber im Klaren sein: Militär heute im Einsatz heißt immer, auf allen Ebenen politisch denken und die politischen Konsequenzen des Tuns berücksichtigen, und deswegen gibt es eigentlich keine Möglichkeit fürs Militär, sich dem Politischen zu entziehen.

Scholl: Wie muss sich denn die Bundeswehr Ihrer Meinung nach zukünftig ausrichten, wenn sie eben jetzt mit diesen Kampfeinsätzen eigentlich doch zu rechnen hat – nicht gegen eine Armee eines anderen Staates, sondern gegen eben einen Feind, den man in dieser Form nicht sieht?

Kutz: Sie muss sich strukturell massiv ändern, das wissen wir seit Mitte der 90er-Jahre, und dagegen hat sich vor allen Dingen zunächst erst einmal das Militär selber heftig gewehrt. Und dann ist die Politik offensichtlich die ganze Zeit über ziemlich unfähig gewesen, diese strukturellen Veränderungen und Notwendigkeiten auch tatsächlich zu erkennen und – wo sie vielleicht erkannt waren – umzusetzen.

Die Diskussion unter den Fachleuten, die ist mittlerweile 15 Jahre alt, und man kann es schon daran sehen, wie damals die Weizsäcker-Kommission unter der Regierung Schröder von dem damaligen Verteidigungsminister Scharping ausmanövriert worden ist – wenn man der gefolgt wäre, hätte man heute schon relativ viel weniger Probleme. Und jetzt sind da zehn Jahre vergangen, und selbst das, was Weizsäcker damals mit seiner Kommission vorgeschlagen hat, ist immer noch nicht voll umgesetzt, und dann wundert man sich, wenn man heute immer mehr Probleme hat und Probleme kriegt.

Scholl: Das erste feierliche Gelöbnis der neuen freiwilligen Bundeswehrrekruten, Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Militärhistoriker Martin Kutz. Ihr Buch "Deutsche Soldaten. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte" – wenn Sie jetzt ein neues Kapitel schreiben müssten, wo würden Sie die Akzente setzen für eine zukünftige Bundeswehr, für eine zukünftige Mentalitätsgeschichte?

Kutz: Tja, im Prinzip habe ich das in dem Buch schon gemacht, dort habe ich nämlich geschrieben ein ganzes Kapitel: "Was tun? Eine Systematik der Handlungsfelder für die Zukunft". Darin habe ich eben auch die einzelnen Faktoren analysiert, und vor allen Dingen bin ich auf etwas eingegangen, was bei all denen, die heutzutage über Militär reden, am wenigsten berücksichtigt wird, nämlich welche Rückwirkungen solche Sachen auf die deutsche Gesellschaft haben und welche Wirkungen deutsche Gesellschaftsentwicklung auf Militär hat.

Scholl: Was wären denn die zentralen Probleme in diesem Verhältnis zwischen Bundeswehr und Gesellschaft?

Kutz: Diese Gesellschaft wird immer mehr eine Gesellschaft, die sich nach bestimmten, man kann sagen, Mentalitäten orientiert, und die Bundeswehr ist von der Struktur her eine Einrichtung, die sehr traditionell orientiert ist, auch gesellschaftspolitisch traditionell orientiert ist. Aber alles das, was in Zukunft die Bundeswehr braucht, auch an Personal braucht, das ist mit der Modernität von Technik und Wirtschaft verbunden. Also wenn Sie etwa an den Cyberwar denken und ähnliche Geschichten, diese ganzen elektronischen Angelegenheiten, elektronische Kriegsführung und, und, und - da brauchen Sie Spezialisten, die normalerweise von ihren Mentalitäten her genau mit den Strukturen der Bundeswehr nicht zurechtkommen. Wenn die Bundeswehr sich also in ihren internen Verhältnissen zum Beispiel diesen Menschengruppen nicht öffnen würde, dann würde das bedeuten, dass sie einfach einen Personalmangel in entscheidenden Fällen hat. Und im Grunde genommen ist auch das, was Sie vorhin gefragt haben mit dem Prekariat, das ist ein typisches Problem von Armeen, die sozusagen das Signum Tradition haben und nicht das Signum Fortschritt und Zukunftsorientierung.

Scholl: Das heißt im konkreten Falle jetzt, wenn ich bei dem Beispiel bleiben darf, also Menschen, mit denen die Bundeswehr eigentlich nichts anfangen kann oder umgekehrt, sagen wir, einen Computerfreak, der ...

Kutz: Computerfreak reicht nicht, Computerfreak ist also gut jetzt zum Beispiel auch, um moderne Waffensysteme zu reparieren oder so was, aber wenn Sie die moderne Kriegsführung etwa – nur, wie es in Afghanistan oder in Irak praktiziert worden ist – sich anschauen, da kommen Sie mit dem normalen Computerfreak nicht aus. Da brauchen Sie richtig gute Leute, Informatiker der Spitzenklasse, denn da geht es ja auch darum, zum Beispiel feindliche Informationssysteme zu stören oder mindestens unschädlich zu machen, die eigenen Informationssysteme vor solchen Angriffen zu schützen und so. Da brauchen Sie extreme Spezialisten.

Scholl: Aber diese extremen Spezialisten haben vielleicht nicht Lust, morgens um sechs dann Männchen zu machen oder sich die Haare schneiden zu lassen.

Kutz: Und sie haben auch keine Lust, für 300 oder 1000 Euro zu arbeiten. Das darf man nicht vergessen, dass in einer Gesellschaft, die immer differenzierter wird – und das ist das Problem der deutschen Gesellschaft oder überhaupt zumindest der kerneuropäischen Gesellschaften und Nordamerikas –, ...

Diese Gesellschaften werden immer komplexer, die ökonomischen Systeme werden immer komplexer, immer schwieriger durchschaubar, und die Leute, die damit umgehen müssen, müssen immer besser und immer spezieller ausgebildet werden, und die müssen eine so hohe Qualifikation haben, dass das nicht jeder lernen kann. Wir brauchen also Leute mit einer ganz speziellen Fähigkeit. Und wenn man nicht bereit ist, diese Leute mit ihrem Lebensstil, ihren Anschauungen und Vorstellungen zu integrieren, dann bleiben die draußen.

Scholl: Wohin entwickelt sich die Bundeswehr als Freiwilligenarmee? Das war der Militärhistoriker Martin Kutz, seine Studie "Deutsche Soldaten. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte" ist 2006 in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienen. Herr Kutz, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Kutz: Ja, vielen Dank auch für die Gelegenheit, mit Ihnen zu reden!


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