Milieustudien einer Unangepassten

Von Dirk Schneider · 14.11.2007
Bekannt wurde Roswitha Hecke in den 60er Jahren mit ihren Bildern der Zadek-Inszenierungen am Bremer Theater. Später zeigte sie mit beeindruckenden Fotoreportagen Einblicke in das Leben von Prominenten, Obdachlosen und Prostituierten.
"Das kam über Nacht. Ich hab wie eine Eingebung meiner Mutter morgens gesagt: Mama, ich werd Fotografin, und hab vorher nie eine Kamera in der Hand gehabt."

Die Fotografin Roswitha Hecke sitzt im Wohnzimmer ihrer Hamburger Altbauwohnung. Hier lebt sie mit ihren beiden Söhnen Sahid und Ivan. Eine zierliche Frau mit langen weißen Haaren und einem offenen, freundlichen Gesicht, das aussieht, als hätte es mehr Freude als Sorgen erlebt. Mit Anfang 60 wirkt sie fast jugendlich, man kann sich gut die 17-jährige junge Frau vorstellen, die auf einmal weiß, dass Fotografin der richtige Beruf für sie ist.

"Ich musste ungebunden sein. Und ich musste durch die Welt, auf Reisen. Das war ganz wichtig."

Der Hamburger Hafen stillte in ihr zunächst die Sehnsucht nach der weiten Welt. Dort entstanden ihre ersten Fotos überhaupt, Schwarz-Weiß-Aufnahmen von den Hafenkindern: Eine zeigt ein kleines Mädchen im Sommerkleid. Es sitzt mit überschlagenen Beinen auf einer Treppe, eine Sonnenbrille auf der Nase, und lächelt stolz, fast verführerisch.

"Kleine Lolita. Und das war nach meinem Geschmack sozusagen, das Skurrile, das Ausgefallene."

Das Ausgefallene fand Roswitha Hecke im Theater von Peter Zadek. 1966 fotografierte sie seine legendäre Inszenierung von Schillers "Räubern" in Bremen. Die beiden werden ein Paar und fahren monatelang mit einem großen Cabriolet durch Sizilien, wo Zadek seine Inszenierungen vorbereitet.

Zusammen gehen sie nach Bochum ans Schauspielhaus. Dort fotografiert sie sämtliche Inszenierungen, von Zadek, Werner Schroeter, Rainer Werner Fassbinder und anderen. Über die Freundschaft mit Werner Schroeter knüpft sie Kontakt zum französischen Nouvelle-Vague-Regisseur Eric Rohmer:

"… dann hatte mich mal Eric Rohmer gefragt, ob ich einen Film von ihm fotografiere, 'Die Marquise von O.', und dadurch hat sich Paris ergeben. (…) Und Paris war wirklich eine ganz wichtige Zeit für mich."

Sie lebt zwei Jahre in Paris und lernt den Autor Wolf Wondratschek kennen. Die beiden verlieben sich, Roswitha Hecke wird später mit ihm durch die USA fahren und Reportagen fotografieren. Bevor sie Paris jedoch verlässt, hat sie noch einen Plan: Ein Zimmer im Pigalle zu mieten und die Prostituierten-Szene der Straße, in der sie wohnt, zu fotografieren. In der Straße, in der sie sich einmietet, arbeiten aber nicht die Frauen, sondern die Transvestiten der Stadt.

"(…) das war eigentlich nicht in meinem Sinne. Aber dann habe ich auch gesagt: Okay, (…) das soll jetzt halt so sein. Ich habe mir drei Monate vorgenommen. Und war dann drei Monate mit den Transvestiten."

Ein Bild zeigt zwei Transvestiten und einen Mann, die müde an einem Bistro-Tisch lümmeln und dabei ärmlich und zugleich glamourös aussehen.

"Das waren so die ärmsten aller Armen. Das war schon eine sehr, sehr aufregende Zeit. Ich hab wirklich auch Situationen erlebt, die waren schon an der Grenze, aber ich habe mich nie unwohl gefühlt."

Dass solche intimen Einblicke überhaupt möglich sind, liegt an Roswitha Heckes Arbeitsweise, die nicht zwischen der Fotografin und der Privatperson unterscheidet. Sie lebt im Milieu, schließt Freundschaften und bekommt so ein authentisches Bild ihres Sujets:

"Sie waren natürlich erst zurückhaltend (...) Aber nachher kannte man sich. Und das war irgendwie: Ja, Roswitha fotografiert, und das wurde gar nicht mehr registriert, sozusagen."

Dennoch sind Roswitha Heckes Fotografien kein Sammelsurium skurriler Gestalten. Es sind vor allem Bilder von Menschen, seien es die Männer in einem mexikanischen Striptease-Lokal, oder Prominente wie der spanische Gitarrist Andrés Segovia, die Schriftsteller Ian McEwan, Paul Bowles, William S. Burroughs, oder die Schauspielerfamilie Bennent, mit der sie eng befreundet ist.
Ein weltweiter Erfolg wird "Liebes Leben": ein Fotoband mit Bildern der Prostituierten Irene, die Roswitha Hecke über mehrere Wochen in Zürich und Rom begleitet.

" (…) die Frau als Prostituierte, das war jetzt gar nicht so mein Thema, sondern das ganze Milieu. Ich würde mich fast als Milieufotografin bezeichnen. Pigalle ist ein Teil aus dieser Milieu-Geschichte, dann Irene, die Prostituierte aus Zürich, (…) meine Obdachlosen in New York auf der Bowery. Und die Boxer, die ich im Boxing-Gym in New York fotografiert habe. Das sind alles Milieus."

Mit den Geschichten, die Roswitha Hecke erlebt hat, lassen sich Fotobände füllen. Ein paar davon sind bereits erschienen. So aufregend ihr Leben ist, so unaufgeregt, wenn auch mit Begeisterung, erzählt sie davon.

Dass Roswitha Hecke so wenig Aufhebens um ihre Person macht, ist auch entscheidend für ihre Arbeit. Wenn sie fotografiert, nimmt sie sich so sehr zurück, dass der Fotografierte ihre Anwesenheit fast nicht mehr bemerkt. So entstehen Aufnahmen, die trotz aller Intimität den Betrachter aber niemals zum Voyeur machen.