Mikrokosmos Familienessen

01.06.2009
In Memo Anjels "Mindeles Liebe" bildet ein Esstisch den Mittelpunkt des erzählerischen Geschehens. An ihm sitzend, streiten die Mitglieder einer jüdischen Großfamilie, die sich im kolumbianischen Medellín niedergelassen hat. Sie spinnen verrückte Ideen, lachen, weinen, schreien - und lieben.
Ob der 13-jährige Erzähler von "Mindeles Liebe" schon Bar-Mizwa ist, erfahren wir ebenso wenig wie seinen Namen. Er mischt sich auch nie ein, er beobachtet, macht sich seine Gedanken, kindlich-unbefangen, neugierig, und erzählt die Geschichten seiner Familie. Er sagt nie "ich", immer "wir". Und auf zauberhafte Weise sitzen wir anderen sofort mit am Tisch einer sephardischen Familie in ihrem universalen kleinen Kosmos: in Kolumbien, mitten im jüdischen Viertel von Medellín. In einer Stadt, aus der wir Geschichten von Drogenkartellen und entführten Politikerinnen erwarten, keine von kleinen Leuten, die ihr tägliches Leben gestalten. Aus Griechenland und Spanien sind sie eingewandert, in die Synagoge gehen sie selten, weshalb sie von den tonangebenden Aschkenasen schräg beäugt werden.

Der Vater ist ein liebenswerter Tüftler, leider lösen sich seine genialen Erfindungen zumeist in Luft auf, statt das Familienbudget zu vergrößern. Die Mutter - unterstützt von der schwarzen Haushälterin Zoila und deren spiritistischem Zugang zu Pflanzen, Vögeln und dem Leben überhaupt - hält den Laden am Laufen: durch den Verkauf selbstgebackener Kuchen und mit ihren Vorstellungen von Menschlichkeit.

Acht Kinder haben sie, ein neuntes ist unterwegs. Wir schreiben das Jahr 1955, und wie in Memo Anjels Vorläuferroman "Das meschuggene Jahr" (im Original "Mesa de judíos, Der Judentisch") ist der Tisch auch hier wieder Mittelpunkt der Welt. Auf ihn kommen nicht nur die Schüsseln, Teller, Bestecke des oft kargen Mahls, sondern auch die Träume, Ideen, Verrücktheiten, Pläne, Tränen, Kräche, Ängste und Glück.

An ihm sitzen, essen und erzählen oft noch mal so viele andere: Chaim, der Bruder der Mutter, der alle mit münchhausenesken Abenteuern erfreut, bis er zeitweise fast verstummt. Rivka, die eine Tochter der vermögenden Witwe, die Chaim geheiratet hat. Mindele, die andere Tochter, die auf dunkle Weise nach New York verschwunden war und plötzlich wieder da ist. Des Vaters Chef Herr Sudit, der aus Russland stammt und eine "bedenkenlos babelische Sprache" pflegt. Dr. Schmulson, dessen Diagnosen nicht immer stimmen. Tante Lia, die in London ihr Glück finden wird. Und eines Tages auch Reuvén Toledo, der Freund des Vaters. Die Mutter beargwöhnt ihn sofort. Die Witwe nicht. Er heiratet Mindele, verzockt das Geld der Witwe und hat eine nichtjüdische Geliebte.

Eine Schickse, würden die Aschkenasen sagen. So wie sie diese verrückt-normale Familie Mischpoche und ihr Medellín-Prado womöglich Schtetl nennen würden. Nicht so Memo Anjel. Er ist selbst Sepharde, seine Familie kam aus Algerien nach Medellín. Und trotzdem schwingt ein Hauch Isaac Bashevis Singer, schweben Chagall'sche Farben durch die Zeilen. Vor allem, wenn das Thema auf den Tisch kommt, um das sich diesmal alles dreht: die Liebe und ihre seltsamen Formen.

Bisher hatte der kleine Erzähler die Sache fast pragmatisch zu sehen gelernt. Liebe hieß, das Geschehende zu verstehen, und vor allem, sich "gefahrlos streiten" zu dürfen. Soviel Nüchternheit zerschellt an der "luftigen" Liebe zwischen Mindele und Chaim. Die nämlich sind offenbar imstande, sich zu lieben, ohne sich anzufassen, nur durch Ansehen und Zuhören.

Ein faszinierendes Geheimnis, eine Liebe, die "keine Spuren an ihnen hinterließ, außer einer unsichtbaren Hand, die sanft ihr Innerstes wiegte".

So zauberisch und gleichzeitig bodenhaftend, so leicht und trotzdem nie die Melancholie verratend, die allem innewohnt, erzählt Memo Anjel. Und wir anderen legen das Buch aus der Hand und sind einen Moment lang traurig, dass es zu Ende ist. Bevor eine geheimnisvolle Glückswolke in unserm Kopf aufplatzt.

Rezensiert von Pieke Biermann

Memo Anjel: Mindeles Liebe
Ein jüdischer Roman aus Medellín
Aus dem Spanischen von Hanna Grzimek
Rotpunkt Verlag Zürich 2009
200 Seiten, 19,50 EUR