Mikrokosmos eines wuchernden Werks

Von Volkhard App · 08.07.2008
Anlässlich des 10-jährigen Todestages erinnert das Sprengel Museum in Hannover mit der Ausstellung "Drehmoment" an den Schweizer Künstler Dieter Roth. Die Ausstellungsmacher reihen ihn in das geistige Umfeld der Fluxus-Bewegung ein. Sie konfrontieren Roths filmischen Experimente mit seinen Zeichnungen, druckgrafischen Werken und Objekten.
Es ist der hochkonzentrierte Einblick in eine frühe Werkphase Dieter Roths, noch bevor allenthalben auf seinen Bildern die Wurst zu schimmeln begann und die Schokolade eine merkwürdige Färbung annahm. Diese Expedition des Sprengel Museums führt zurück in die späten fünfziger und frühen sechziger Jahre: Roth hatte sich stilistisch von der Konkreten Kunst, den starren geometrischen Formen à la Max Bill, gelöst und war darauf aus, seine Bilder in Bewegung zu setzen. So versuchte er es unerschrocken mit dem Medium Film - schon um 1956 während seiner Zeit in Kopenhagen, und dann auf Island, in seiner neuen Heimat.

Hafenmotive aus Reykjavik reihte er aneinander: Schiffsaufbauten, Brackwasser, Wände - wobei die einzelnen Bilder in unerhörtem Tempo am Auge vorbeilaufen und die Motive auch mal auf dem Kopf stehen. Kuratorin Isabelle Schwarz über die damaligen Lebensumstände Roths:

" "Dieter Roth war damals in einer prekären Situation. Er fand auch hier kaum Zugang zum Arbeitsmarkt, lebte also in ärmlichen Verhältnissen. Dazu kam der deprimierende Eindruck in den Straßen von Reykjavik, er empfand die Stadt als trist und grau und sprach vom Schock seines Lebens. Er fühlte sich sehr unglücklich in dieser Zeit.”"

Seine Experimente sollten wohl auch eine Art Befreiungsschlag sein. So ließ Roth die Kamera an einer Leine um seinen Körper kreisen oder filmte von einem Fahrzeug aus und belichtete das Material dann ein weiteres Mal. Konkrete Gegenstände und Schauplätze kann man hier kaum mehr ahnen: es sind vor allem abstrakte, sich überlagernde Flächen und schnell wechselnde helle Linien, die den Betrachter faszinieren - oder verstören.

Schwarz: " "Auch heute provozieren diese Filme das Auge, weil wir unheimlich gerne wissen wollen, was dahintersteckt. In den Medien wird uns heute alles gesagt, wir bekommen so viele Informationen - und hier nimmt sie Dieter Roth einfach zurück. Es ist schon eine Provokation. Das gilt auch für den Film ‘Dock 2’ mit seiner Hafenszenerie - hintereinander werden uns viele fixe Einstellungen in wahnsinniger Geschwindigkeit präsentiert. Auch dieser Film verheimlicht uns Zusammenhänge, er macht neugierig: was ist das für eine Szenerie? Warum ist sie menschenleer? Wo befindet sich Dieter Roth eigentlich? Das sind verstörende Momente, die auch heute noch ungewöhnlich sind.”"

Unerschöpflich war Roths Fantasie bei der Begegnung mit diesem Medium: Er stanzte Löcher in den Filmstreifen, so dass wir durch das Licht einen Rhythmus aus kreisrunden Öffnungen zu sehen bekommen. Oder er zeigte Buchstaben, die hintereinander gelesen einen poetischen Text ergeben - aber wer kann schon so schnell diesen Lettern folgen?

Die allerersten experimentellen Filme Roths aus seiner Kopenhagener Zeit sind nicht erhalten, er warf sie nach einer Beziehungskrise wutentbrannt in den Müllschlucker und zog einer anderen Liebe wegen eben nach Island - wo er die filmische Arbeit wieder aufnahm und die alten Experimente teils wiederholte. Wirklich ein schwieriger Mann.

Ulrich Krempel, Direktor des Sprengel Museums: " "Es war ein permanentes Hin und Her. Dieter Roth ist dieser Verzweiflungstäter, der einerseits schafft und gibt und andererseits verneint und zerstört. Man erinnert sich an ‘Faust’: da gibt es solche gegeneinander wütenden Kräfte. Und Sigmund Freud hat deutlich gemacht, wie es in uns allen aussieht. Dieter Roth ist sicher ein exemplarischer Künstler des 20. Jahrhunderts in all seinen Schwierigkeiten.”"


Gut, dass wenigstens einige seiner Filme erhalten geblieben sind. In Hannover reiht man sie in das geistige Umfeld der Fluxus-Bewegung ein. Und tut ein übriges und konfrontiert die filmischen Experimente mit Zeichnungen, druckgrafischen Arbeiten Roths und einigen Objekten. Dabei ergeben sich vielfältige Korrespondenzen - denn Löcher stanzte er nicht nur in Filmstreifen, sondern auch in Comicbücher.

Und überließ es zum Beispiel den Betrachtern, aus einem Vorrat von 60 beidseitig bedruckten Blättern mit vergrößerten Zeitungsausschnitten eine eigene Reihenfolge zu bilden: an der Wand also, Bild für Bild, den eigenen virtuellen Film aus diesen Materialien herzustellen. Und gezeichnete Selbstporträts Roths sind derart von dynamischen Linien umgeben, dass man sich hier eine Drehung des Kopfes oder eine Kamerafahrt vorstellen kann.
So geht man im Museum bei der Werkauswahl spielerisch mit den Themen Film und Bewegung um, auch einige kinetische Objekte Roths sind einbezogen: da schieben sich Streifenmuster effektvoll übereinander - und über eine drehbare, mit Nägeln besetzte Holzscheibe laufen Kugeln nach unten.

Kein Zweifel, Dieter Roth war auf vielfältige Weise an Bewegung interessiert, wobei die größte Attraktion doch die frühen, selten gezeigten Filme sind. Die Ausstellung präsentiert so einen Mikrokosmos aus dem kaum überschaubaren, wuchernden Werk, dem die Anerkennung oft versagt worden ist.

Ulrich Krempel zehn Jahre nach dem Tod des Künstlers über dessen Ouevre und Reputation: " "Seine Position ist im Umkreis von Fluxus längst akzeptiert. Er hat aber das Publikum mit seiner Rigidität und seinem Material - von Schokolade bis Scheiße - außerordentlich düpiert und distanziert, hat auch seine eigene Wirkung zerstört. Ein Koloß mit grauenhaften Umgangsformen, wegen seiner emotionalen Ausbrüche gefürchtet von allen Museumsleuten, die mit ihm Ausstellungen machten - und zugleich von allen geliebt, gerade wegen der Sensibilität, die die Ursache dieser Ausbrüche war. Ein Künstler voller Widersprüche, der heute immer noch neu zu entdecken ist - gerade von jungen Leuten, die gar nicht ahnen, dass es solche Figuren im 20. Jahrhundert gegeben hat, die mit einer solchen Rigidität darauf verzichtet haben, Karriere in der Kunst zu machen.”"