Migrationsexperte: Deutschland kann von Integrationserfahrungen in den USA lernen

Michael Werz im Gespräch mit Nana Brink · 10.09.2010
In der amerikanischen Gesellschaft würde Verschiedenheit als Stärke, nicht als Schwäche betrachtet. Eine Diskussion über Parallelgesellschaften wie in Deutschland gebe es dort nicht, sagt der Migrationsexperte Michael Werz angesichts der Integrationsdebatte um die Thesen von Thilo Sarrazin in Deutschland.
Nana Brink: Morgen wird Amerika innehalten wie an jedem 11. September nach 2001, als zwei Flugzeuge ins Herz der amerikanischen Nation rasten und nicht nur für den Tod von bis zu 3000 Menschen verantwortlich waren, sondern auch die Mär von der Unverwundbarkeit der größten Wirtschaftsmacht der Welt zerstörten. Pünktlich zum Jahrestag nun erregt die Absicht einer religiösen Splittergruppe Aufsehen, Exemplare des Korans verbrennen zu wollen, auch ein geplantes islamisches Zentrum in der Nähe von Ground Zero beschäftigt die Menschen. Dennoch: Unterm Strich – und sieht man mal ab von den aktuellen Ereignissen – gab es auch nach den Terroranschlägen des 11. September keine wesentliche Diskriminierung von Muslimen in den USA. Anlass für uns, auch vor dem Hintergrund der hier laufenden Integrationsdebatte, über den großen Teich zu blicken und nach den Integrationserfolgen oder -misserfolgen in den USA zu fragen. Und dafür bin ich jetzt verbunden mit Michael Werz, Experte in Sachen Integration beim Center for American Progress. Einen schönen guten Morgen, Herr Werz!

Michael Werz: Guten Morgen, Frau Brink!

Brink: Wie integriert sind denn die Muslime in der amerikanischen Gesellschaft?

Werz: Man kann sagen, dass die Muslime in der US-amerikanischen Gesellschaft gut integriert sind. Es ist auch interessant zu beobachten, dass die Vorfälle des 11. September eigentlich den Islam zu einer amerikanischen Religion gemacht haben. Es kann keine öffentliche Trauer- oder Erinnerungsfeier mehr stattfinden zu diesem Termin, an der nicht ein Imam teilnimmt, und es ist wichtig zu sehen, dass das ein bedeutender Schritt gewesen ist für die amerikanische Gesellschaft. Allerdings ist auch relevant, dass die muslimischen Gruppen in den Vereinigten Staaten sich anders zusammensetzen als in den meisten europäischen Ländern, es gibt ungefähr sechs Millionen Muslime in den USA, die Zahlen sind umstritten. Die größte Gruppe war bis vor 20 Jahren … bestand noch aus Afroamerikanerinnen und Afroamerikanern, die im Gefolge von Louis Farrakhan und Malcolm X sich politisch als Muslime organisiert hatten. Heute gibt es durch die Einwanderung aus Südostasien eine große Heterogenität mit knapp 2000 Moscheen. Es ist auch interessant, dass die Muslime in den USA einen sehr hohen Bildungsstand haben, über 60 Prozent verfügen über einen Universitätsabschluss, das Durchschnittseinkommen liegt deutlich über dem der Gesamtgesellschaft – also ein Vergleich mit den Einwanderungsgruppen in Europa ist nur sehr schwer möglich.

Brink: Kann man dann also unterm Schnitt sagen, dass die Muslime besser integriert sind in den USA als in Deutschland und woran liegt das?

Werz: Ein wichtiges Argument ist natürlich die Tatsache, dass es sich hier in der Regel um Gruppen aus den Mittelschichten und aus den oberen Mittelschichten handelt, aber es ist auch so, dass die Gesamtgesellschaft der USA anders funktioniert. Sie ist nicht unbedingt durchlässiger, aber es gibt die starke amerikanische Tradition der politischen Toleranzgebote, und die Menschen in den USA sind natürlich auch geprägt über die tagtägliche Erfahrung von Heterogenität. Es ist eine Gesellschaft, in der schon Ende der 30er-Jahre dieses Jahrhunderts es keine eigentliche Mehrheit mehr geben wird, sozusagen ein großes Feldexperiment einer Nation, die nur noch aus Minderheiten bestehen wird. Und die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner erkennen Diversität und die Heterogenität ihrer Gesellschaft auch als Stärke und nicht als Schwäche – das ist ein Argument, das sich bis weit in konservative Kreise hinein etabliert hat und entsprechend auch die Voraussetzung bildet dafür, dass man einigermaßen gut miteinander auskommt.

Brink: Das heißt Freiheit, die Freiheit ist ja etwas ganz Entscheidendes, die Meinungsfreiheit, das sieht man ja jetzt auch an der Diskussion über diese sogenannten Koran-Verbrennungen, die ja nicht gegen die Verfassung verstoßen, also gegen die Meinungsfreiheit. Die Religion auszuüben, das war ja auch mal ein Werbeslogan in den USA. Hallt das eigentlich auch noch so bis heute nach?

Werz: Das Argument gilt nach wie vor, und es ist interessant zu sehen, dass im Unterschied zu der europäischen Tradition ja keine Befreiung von religiöser Herrschaft stattgefunden hat, so wie das bei den bürgerlichen Revolutionen in Frankreich und Deutschland der Fall war, sondern dass in den USA Religionsfreiheit als individuelle Freiheit sich von Anfang an etabliert hat. Die ersten Einwanderer kamen ja in den USA, nicht weil sie so glücklich waren in England, sondern auch, weil sie dort in ihrer Religionsfreiheit eingeschränkt gewesen sind. Das heißt, der Grundgedanke, dass Individuen die Möglichkeit und das Recht haben, ihre Religion so auszuüben, wie sie das für richtig halten, ist ein wichtiges Moment. Das bedeutet aber auch, dass Religion sich in gewisser Weise privatisiert hat. Es gibt über 1600 protestantische Sekten, also von den USA als einem protestantischen Land zu sprechen, ist eigentlich auch nicht ganz korrekt. Es gibt eine ungeheure Bandbreite, eine Vielfalt und die Möglichkeit der Individuen, sich in den verschiedensten Gruppen zu organisieren. Es ist auch interessant zu sehen, dass es heute in den USA noch einfacher ist eine Kirche zu gründen als ein Unternehmen.

Brink: Sie haben ja schon erwähnt, es gibt ganz viele unterschiedliche Ethniengruppen in den USA, wie funktioniert denn das Integrationskonzept, wie stehen die einzelnen Gruppen zueinander?

Werz: Das Integrationskonzept funktioniert gar nicht, weil das aufgeregte europäische Gerede um Integration in den USA nicht recht verstanden wird. Es ist immer sehr unterhaltsam, hier mit amerikanischen Kolleginnen und Kollegen sich über Europa zu unterhalten. Der Grundgedanke der USA ist es, Individualrechte zu fixieren und durchzusetzen, die jeder Person, die in den USA lebt und die Staatsangehörigkeit hat, zustehen. Und das hat eine ganz starke universalistische Grundtendenz. Das ist ja auch der Grundgedanke der Bürgerrechtsbewegung der 60er- und 70er-Jahre gewesen, dass die US-amerikanische Gesellschaft nur dann frei sein kann, wenn allen Bürgern und Bürgerinnen die gleichen Rechte zustehen. Und auch die Diskussion um die Parallelgesellschaften, die ja in Deutschland oder auch in anderen europäischen Ländern hin und wieder aufflammen, die werden in den USA kaum nachvollziehbar sein, weil es dort schon eine Grundsubstanz gibt einer gesellschaftlichen Vielfalt, die unhintergehbar ist und wo es auch keinen Sinn mehr macht, sich darüber Gedanken zu machen, wie (Anm. d. Red.: Schwer verständlich) die eine oder andere Gruppe sich auf die eine oder andere Art und Weise anziehen soll.

Brink: Sie haben es ja auch schon angedeutet, viele Amerikaner schmunzeln ja über die aufgeregte Integrationsdebatte, die in Europa und jetzt auch gerade in Deutschland stattfindet. Was kann denn Deutschland lernen für die Integrationsdebatte, wenn wir in die USA gucken?

Werz: Also ich glaube, man muss immer vorsichtig sein. Die USA sind natürlich aufgrund ihrer vollkommen unterschiedlichen Gesellschaftsgeschichte kein Modell für Deutschland oder Europa, aber sie sind ein Erfahrungsarchiv, und ich denke, zweierlei ist wichtig: zum einen die amerikanische Errungenschaft der Antidiskriminierungsgesetze und die zweite Errungenschaft des Pluralismus. Sie wissen ja, dass in den 90er-Jahren unter Bill Clinton sogenannte Hate Crime Laws, also Gesetzgebung zu Gewaltdelikten gegen Minderheiten durchgesetzt wurde. Da sind dann in verschiedenen Bereichen sogar die Strafen verdoppelt worden, wenn man nachweisen konnte, dass ein Gewaltdelikt begangen wurde aufgrund von ethnischer oder religiöser Diskriminierung. Das hat recht klare Parameter gesetzt, dass der Staat auch bereit ist, die Notbremse zu ziehen, wenn Leute meinen, sie könnten bestimmte Grenzen übertreten, weil sie sich mit der ein oder anderen Gruppe nicht besonders freundlich fühlen. Die Behörden sind auch verpflichtet, darüber Statistiken zu führen, das gibt jährlich Anlass zu interessanten und auch wichtigen Diskussionen. Der zweite Punkt ist Pluralismus und Akzeptanz. Ich glaube, das ist sehr wichtig für Europa und insbesondere für Deutschland. In den USA werden Emigranten, also Auswanderer, viel schneller zu Immigranten, also zu Einwanderern. Das hängt auch damit zusammen, dass das Ankommen nicht dadurch gehemmt wird, dass die Empfängergesellschaft zuerst ein Bekenntnis verlangt zu einer deutschen, dänischen oder französischen Kultur, wie das ja häufig in europäischen Diskussionen der Fall ist. Das ist auch für eine amerikanische Wahrnehmung ein etwas seltsames Verständnis, als ob es sich um eine Sektenmitgliedschaft handelt, dass man noch sozusagen einer Zwangskonversion sich unterziehen muss, um Mitglied einer neuen Gesellschaft zu werden als Migrant. Der Pluralismus ist eingeschrieben in die amerikanische Geschichte, und mit Blick auf die islamischen Gemeinschaften in Deutschland ist vielleicht interessant, sich daran zu erinnern, dass die irischen, polnischen und deutschen katholischen Schulen und religiösen Zentren zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA unter ungeheurem Druck und der Kritik standen, aber sich doch letztlich als Transmissionsriemen der Integration erwiesen haben. Und die neuere sozialwissenschaftliche Forschung belegt ja auch, dass das Gleiche der Fall ist für die neuen Institutionen, die der westliche Islam sich geschaffen hat in Deutschland und anderen Staaten.

Brink: Michael Werz, Experte in Sachen Integration beim Center for American Progress. Und wir sprachen über die angekündigten Koran-Verbrennungen und über die Integration in den USA allgemein. Vielen Dank für das Gespräch!

Werz: Gerne!
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