Migrationserfahrung aus der Sicht späterer Generationen

"Frag' du nicht, und lass mich nicht sprechen"

14:25 Minuten
55 türkische Gastarbeiter kommen am 27.11.1961 auf dem Flughafen in Düsseldorf an. Im Hintergrund ist das Flugzeug zu sehen, in dem sie gelandet sind.
Türkische Gastarbeiter treffen am 27.11.1961 in Düsseldorf ein. Die Bergleute hatten sich verpflichtet, ein Jahr in Deutschland zu arbeiten. © picture-alliance / Wolfgang Hub / Wolfgang Hub
Von Ita Niehaus |
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In Deutschland leben 2,8 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln. Welche Bedeutung hat die Migrationsgeschichte für die Nachkommen der sogenannten Gastarbeiter heute? Canan Topçu und Fatma Sağır, Töchter von türkischen Migranten, berichten.
Journalistin Canan Topçu sitzt vor einem Stapel alter Fotos. Auf den Aufnahmen ist ihre Mutter zu sehen, die Anfang der 70er-Jahre als junge Frau nach Deutschland kam. "Wenn ich die Bilder meiner Mutter anschaue, dann frage ich mich immer: Wie war das für sie, mit welchen Wünschen, Träumen ist sie hierhergekommen? Ich habe ja nur so Vermutungen. Meine Mutter wollte immer mehr vom Leben." Topçus Mutter kam noch vor ihrem Mann nach Deutschland.

Zwischen Schmerz und Freude

Ihr Mann war Lehrer, verdiente nicht viel in der Türkei. Einige Monate später folgte er Canan Topçus Mutter, nach und nach holten sie die drei Töchter zu sich. Die Mutter, eine gelernte Schneiderin, arbeitete im Schichtdienst in einer Fabrik – erst in Hamburg, dann in Hannover.
"Ich denke, dass es auch für sie eine Demütigung war, in so einer Fabrikarbeit zu sein. Dann gab es Feiern, auch vom Betrieb; Fotos, wo sie ganz fröhlich am Tisch mit deutschen Kolleginnen und Kollegen sitzt", sagt Canan Topcu. "Ich denke, das ist so beides. Der Schmerz, was zurückzulassen und diese Freude oder diese Zuversicht, dass da was Neues, Gutes kommt."
Canan Topcu schaut in die Kamera. Sie hat schwarze Haare und trägt ein graues Oberteil.
Canan Topçu stellte bei ihrer Mutter eine Sprachlosigkeit zum Thema Einwanderungserfahrung fest.© picture alliance / Eventpress Stauffenberg
Über diese Zeit wollte die Mutter nie sprechen – ebenso wenig wie viele andere Gastarbeiterinnen der sogenannten ersten Generation. Vielleicht, weil manche Erinnerungen zu schmerzhaft waren. "Sie hat immer auf Türkisch gesagt: ‚Frag' du nicht, und lass mich nicht sprechen‘. Und insofern ist ein Kapitel der Familiengeschichte, so blanko. Ich habe ihr sogar mal ein Heft geschenkt und gesagt: ‚Mama, wenn du nicht sprechen magst, vielleicht schreibst du mal was", erzählt Canan Topçu. Das habe sich aber nicht ergeben. "Meine Mutter ist sehr früh gestorben, mit 66 Jahren."
Umso wichtiger ist es der Journalistin, eines klarzustellen: "Das waren und sind sehr mutige Frauen – und das kommt gar nicht in den Debatten vor. Sie sind immer die leidenden Opfer, die von den Männern zurückgelassen worden sind, die Sprachlosen. Mir geht es darum zu sagen: Nee, die haben was gewuppt."

Schock Hannover

Die türkischstämmige Journalistin und Autorin Canan Topçu war acht Jahre alt, als sie zu ihren Eltern nach Deutschland kam. Vom Bauernhof ihrer Großeltern in einem abgelegenen türkischen Dorf ging es mitten hinein in die norddeutsche Großstadt Hannover.
Eine traumatische Erfahrung, sagt sie heute. "Das war ein Schock, das habe ich nie wirklich überwunden. Mein Glück ist, dass ich die Zeit bei meinen Großeltern als unglaublich schön empfunden habe. Und dass das mit meiner Resilienz in Verbindung steht, dass das mir auch immer wieder Kraft gibt."
Rückblickend empfindet die 55-jährige Tochter türkischer Arbeitsmigranten ihrer Mutter gegenüber vor allem eines: Dankbarkeit. "Auch dafür, dass sie so viele Entbehrungen auf sich genommen hat, um ihren Töchtern und der Familie eine Zukunft zu ermöglichen. Wir drei Töchter, wir hätten alle drei nicht studieren können. Das hätten wir finanziell gar nicht hinbekommen."

Auch Frauen wurden angeworben

Noch scheint es nicht so richtig im öffentlichen Bewusstsein angekommen zu sein: Auch junge Türkinnen wurden damals angeworben und gingen als Gastarbeiterinnen nach Deutschland.
"Es gibt Schätzungen, dass ungefähr 20, 25 Prozent von den Zuwanderern Frauen waren. Bereich Textil, Näherinnen, und so weiter", sagt Haci Halil Uslucan, Psychologe und Leiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung an der Universität Duisburg-Essen. "Die Vorstellung von jungen kräftigen Männern, die nach Deutschland kommen, das ist nach wie vor das große Bild."
Gerade über die erste Generation liege, so Uslucan, nur wenig schriftliches Material vor. Für die jüngere Generation sei es oft nicht einfach, nachzuvollziehen, unter welch schwierigen Voraussetzungen die Großeltern versucht haben, in Deutschland Fuß zu fassen. "Eine Generation, die mit geringer Bildung, also Grundschulbildung, kommt. In ein hochkomplexes Land, sich trotzdem durchschlägt, zum Teil auch gut überlebt, also viel Mut hat, viel Fleiß, Arbeitswillen. Daher sind solche Erzählungen der ersten Generation enorm wichtig."

Auseinandersetzung mit der eigenen Einwanderungsgeschichte

Denn ihre Einwanderungsgeschichten prägen die Nachkommen bis heute. Immerhin: Immer mehr von ihnen setzen sich damit auseinander. Auch in Filmen, Dokumentationen, Ausstellungen oder – literarisch, beobachtet Uslucan.
"Die sagen, das, was die Elterngeneration nicht hat zur Sprache bringen können. Das versuchen die literarisch, indem sie die Geschichte ihrer Mutter erzählen oder ihres Vaters. Das ist nicht nur Dokumentation, das ist auch Fiktion, Literatur, die einen hohen Realitätsgehalt hat", sagt Hacı-Halil Uslucan. "Da ist ein Bewusstsein für Oral History entstanden, für ‚das ist auch unsere Geschichte‘. Und das ist ein Zeichen, dass sich die jungen Menschen heute als Teil des Staates Deutschlands fühlen. "

Gastarbeiter
Gast Gast Gast
Nur keine Hast
Almanya, Almanya
Ich war Dein Gast,
den Du vergessen hast…

Zeilen aus einem Gedicht von Fatma Sağır, Autorin und Kulturanthropologin an der Uni Freiburg. Das Gedicht gehört zu ihrer poetischen Textsammlung "Alphabet der Sehnsucht. Texte zum Vergessen", die zum 60-jährigen Jubiläum des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens erscheint.

Erinnerungskulturelles Erbe sichtbar machen

Fatma Sağır möchte einen Beitrag dazu leisten, das erinnerungskulturelle Erbe der ersten Generation der Gastarbeiter besser sichtbar zu machen. "Das sind zwar historische Spezifika, die Gastarbeiter" – aber sie glaubt, sie könne die existenzielle menschliche Erfahrung des Fremdseins und auch der Sehnsucht nach Zugehörigkeit über Kunst und Literatur gut vermitteln. Außerdem, so sagt Sağır: "Diese mangelnde Sichtbarkeit, die korrespondiert ja direkt mit den heutigen Diskursen um Zugehörigkeit, Anerkennung und auch selbstbestimmter, positiver Sichtbarkeit von der jüngeren Generation mit dem Migrationserbe und mit der Migrationsgeschichte in Deutschland."
Fatma Sagir blickt in die Kamara. Sie hat dunkle. glatte Haate und trägt ein schwarzes Oberteil. Im Hintergrund ist eine rote Fläche.
Fatma Sağır ist Kulturanthropologin und schreibt Gedichte. Eine Sammlung ihrer Texte hat den Titel „Alphabet der Sehnsucht. Texte zum Vergessen“.© Elif_Candan
Denn Erinnerung bedeutet für Fatma Sağır auch Anerkennung. Noch aber werde, kritisiert sie, die Leistung der ersten Generation der Gastarbeiter von der Mehrheitsgesellschaft zu wenig gewürdigt. Ihr Anteil am deutschen Wirtschaftswunder in der Nachkriegszeit etwa. "Wir sehen sie immer nur als Schwarz-Weiß-Fotografien mit Koffer in der Hand. Wohin sind sie eigentlich verschwunden, was ist aus denen geworden? Es waren ja sehr junge Menschen, sie entwickelten, veränderten sich. Und ihr gesamtes Wesen, ihre Existenz reduzierte sich nicht darauf, dass sie Gastarbeiter waren."

Runterschlucken und arbeiten für die nächste Generation

Fatma Sağırs Großvater kam im Jahr 1961 aus Anatolien nach Norddeutschland, Anfang der 1970er Jahre folgte dann auch ihr Vater. Sie selbst gehört zur sogenannten dritten Generation – geboren, aufgewachsen und gut ausgebildet in Deutschland.
Eine typische Migrationsgeschichte. Der Vater war Schichtarbeiter, viel Zeit konnte sie nicht mit ihm verbringen. Fatma Sağır erinnert sich an Situationen, in denen er sich klein, fast unsichtbar gemacht hat. "In einem Gedicht heißt es ja auch so: Kopf runter und weitermachen." Bloß nicht auffallen, arbeiten, alles runterschlucken. Denn es gibt ein Ziel, dass es für die nächste Generation besser wird, und auch das bequeme Leben. Es gibt natürlich auch so viele andere Geschichten. Das ist für mich ein Schlüsselerlebnis, ein Schlüsselbild, aus dem ich diese Sichtbarkeit unbedingt als Gegenentwurf herstellen möchte, auch in der Erinnerung.
Sağırs Vater verbrachte fast sein ganzes Leben als Gastarbeiter in Deutschland. Begraben wurde er jedoch, auf seinen eigenen Wunsch hin, in Anatolien. "Was ich als extreme Ungerechtigkeit empfunden habe – dass mit dem Tod meines Vaters quasi jede Spur von ihm verschwunden sein soll in Deutschland", sagt Sağır. "Das konnte ich einfach nicht akzeptieren."

Dritte Generation

Fatma Sağır und ihre Geschwister sind erfolgreich ihrer Wege gegangen – nicht nur beruflich. "Ich habe zwei Hochschulabschlüsse, ich bin an Orten gewesen in dieser Welt, an denen meine Eltern noch nie waren. Und meine Entscheidung, einen Traum von einem Land oder einen Lebensentwurf zu haben, ist total an mir selbst orientiert. Und doch stelle ich immer wieder fest, dass die Geschichte meiner Eltern mich nicht loslässt."
Am Beispiel der Lebensgeschichte ihres Vaters habe sie gelernt, wie wichtig es sei, aufrecht zu gehen, sagt Fatma Sağır. Nach wie vor ist er ein Vorbild für sie. "Ich habe großen Respekt davor, dass mein Vater und auch andere in einem für sie komplett fremden und manchmal auch feindlich gesonnenen Land es geschafft haben, sich ein Leben aufzubauen. Und was mich immer beeindruckt hat, ist der unglaubliche Stolz, es selbst zu schaffen."
Auch Canan Topçu bewundert den Mut ihrer Mutter, damals alleine nach Deutschland aufzubrechen und sich damit auch über die Konventionen in der Türkei hinwegzusetzen.

Engagement gegen Missstände

Eine Sache jedoch wollte die Autorin und Dozentin immer anders machen als ihre Mutter. "Sie war scheu darin, offen zu kommunizieren. Das ist vielleicht auch die Rolle der Frauen in diesem türkisch, muslimisch-traditionellen Kontext – so wollte ich auf keinen Fall sein. Ich wollte nicht darauf warten, dass die Leute mir meine Wünsche von den Augen ablesen. Und ich wollte auch Ärger, Trauer und Wut nicht für mich behalten." Sie erzählt davon, wie die Mutter ihren Platz in der deutschen Gesellschaft suchte und dabei auch Ausgrenzung und Diskriminierung erlebte.
Wie ihre Mutter war auch Canan Topçu eine Art Pionierin – als eine der ersten türkischstämmigen Redakteurinnen bei einer überregionalen Zeitung Mitte der 90er-Jahre. Beruflich hat sie sich viel mit Themen rund um Migration und Integration beschäftigt. Und sie hat sich eingemischt.
In der aktuellen Debatte um Identitätspolitik und Rassismus macht sich Canan Topçu für mehr Dialog stark. "Dieses Opfernarrativ, ,wir haben uns hier kaputt geschuftet‘, das finde ich nicht angebracht", sagt die Journalistin. "Es gibt bestimmte Missstände. Ich habe mir angewöhnt, zu gucken, wie kann ich dazu beitragen, dass diese Missstände sich ändern. Und Missstände ändern sich nicht, wenn wir uns dauernd mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen begegnen – das weiß ich auch von mir. Dann mache ich alle Klappen dicht."

Gastarbeitergeschichte in den Lehrplan

Wie also soll die deutsche Mehrheitsgesellschaft künftig umgehen mit der Geschichte der türkischen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter? Vor allem sollte sie mehr Wissen vermitteln und mehr Räume für Begegnung schaffen, sagen Canan Topçu und Fatma Sağır. In Schulen zum Beispiel.
Ein weiterer Schritt in die richtige Richtung sei DOMiD, das in Köln geplante Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland.
"Um Menschen zu erreichen, muss man auch verstehbar machen, wie diese Menschen gelebt haben, muss man sehen, wie sahen die Wohnungen aus, was traten sie in ihrer Freizeit? Wie gingen sie mit ihrem Leben um", sagt Fatma Sağır, "deshalb freue ich mich auch, dass so ein Museum für die Migrationsgeschichte der Bundesrepublik entsteht."
Was an mir ist deutsch, was türkisch? Für Canan Topçu hat diese Frage im Laufe der Jahre an Bedeutung verloren. Sie hat schöne Erinnerungen an ihre Kindheit in der Türkei, und sie fühlt sich zu Hause in Deutschland. "Ich bin ich, ich bin hoffentlich eine loyale Staatsbürgerin und ein Mensch, der Menschen als Menschen begegnet und sie nicht nach Kategorien beurteilt – und sich dann auch dementsprechend verhält."

Fatma Sagir: "Alphabet der Sehnsucht. Texte zum Vergessen"
Edition SchreibStimme, Uster (CH) 2021
166 Seiten, 16,90 Euro

Canan Topcu: "Nicht mein Antirassismus. Warum wir einander zuhören sollten, statt uns gegenseitig den Mund zu verbieten. Eine Ermutigung"
Quadriga, Köln 2021
224 Seiten, 16,90 Euro

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