Migration im Terrarium

Von Christian Gampert · 19.09.2009
Franz Müntefering hält Hedgefonds-Manager für Heuschrecken; für Stefan Kaegi von der Gruppe "Rimini Protokoll" dagegen sind Heuschrecken liebe Tierchen, mit denen sich ein globalisierungskritischer Theaterabend gestalten lässt.
Trotz wissenschaftlicher Experten und eines weitgereisten Zeitzeugen aus Somalia kommt die Aufführung am Züricher Schiffbau jedoch nicht recht vom Fleck: Sie irrt populärwissenschaftlich in einer Sandlandschaft umher und hat nur wenig poetischen Reiz.

Das Schauspielhaus Zürich hat ein großes Engagement getätigt: rund 10.000 afrikanische Wanderheuschrecken, zoologisch Locusta Migratoria genannt, gehören seit neuestem zum Ensemble. Da die Lebenserwartung dieser Darsteller nur etwa drei Monate beträgt, wird man Teile des Ensembles immer wieder austauschen müssen: Rund 50 Tote sind pro Tag zu beklagen, manchmal auch bis zu 400.

Heuschrecken sind auch Menschen, könnte man überspitzt sagen – auf alle Fälle kann man an einer Heuschrecken-Population eine Menge gänzlich politischer Fakten demonstrieren. Oder vielmehr: Man kann die gesamte Globalisierung auf sie projizieren. Das jedenfalls ist das Ziel des Regisseurs Stefan Kaegi von der Gruppe "Rimini Protokoll": die Zuschauer sitzen um ein langgestrecktes Terrarium herum und dürfen die Aktivitäten der Insekten per Video-Vergrößerung beobachten. Damit das nicht zu langweilig wird, damit Wanderbewegungen und Paarungsverhalten (anders gesagt: Migration und Sex) der Tiere einen interpretierbaren Kontext bekommen, hat Kaegi einzelne Orte des Berg-und-Tal-Terrariums geographisch benannt – es geht von Somalia über Ägypten und Kuweit in die Schweiz, von dort dann nach Brasilien und Mexiko. In Brasilien steht der Zuckerhut und ein Swimmingpool, in Somalia lagern Diamanten, und in der Schweiz gibt es eine Futterstation.

Nicht ganz zufällig sind all diese Orte der Lebensgeschichte des in der somalischen Wüste geborenen Dr. Zakaria Farah nachempfunden. Herr Farah, ein mittlerweile pensionierter Lebensmittel-Chemiker, sollte eigentlich Imam werden, studierte dann aber lieber Chemie in Bern und forschte an der ETH Zürich nach Möglichkeiten, Lebensmittel unter tropischen Bedingungen haltbar zu machen. Der liebenswürdige Herr Farah ist unser Fremdenführer durch die Welt der Insekten, die eigentlich unsere Welt ist. Regisseur Stefan Kaegi hat viel recherchiert und erläutert uns mit Hilfe des Heuschrecken-Kosmos so komplizierte Dinge wie das Abschmelzen der Polkappen und den Kampf um Bodenschätze, mithin also Klimawandel und Dritte-Welt-Politik. Theater als Journalismus-Ersatz.

Ein zweiter Experte ist der Biologe Jörg Samietz, der mehr für das Zoologische zuständig ist und uns erzählt, dass Heuschrecken keine Pupillen haben, mit den Fühlern riechen können und die Wärme suchen, was aber einen frühen Tod zur Folge hat. Er sagt uns auch, warum das Männchen begattungstechnisch so merkwürdig auf dem Weibchen hockt, und der Cellist Bo Wiget singt ein Liedlein für die kopulierenden Heuschrecken: sie sind "Pärchen im System".

Das alles ist sehr nett und sehr exotisch, aber bisweilen fragt man sich doch, wann die Schulstunde ein Ende hat und wann das Theater anfängt. Es gibt ein paar schöne, poetische Momente – etwa, wenn der Biologe mit seinem Atemhauch den Flugreflex einer Heuschrecke auslöst oder wenn die Astrophysikerin Barbara Burtscher, verkleidet wie ein Astronaut, das "System der Heuschrecken" betritt und eine Landung auf dem Mars simuliert. Insgesamt aber ist diese theatrale Installation nur Teil einer populärwissenschaftlichen Event-Kultur, die das Theater für eine Art Volkshochschule hält.