Migration, Flucht und neue Räume

Bewegte Grenzen

An der marokkanisch-spanischen Grenze in Ceuta (Sebta) im Norden Marokkos versuchen zwei Flüchtlinge, den Zaun zu überwinden. 3.2.2015.
An der marokkanisch-spanischen Grenze in Ceuta (Sebta) im Norden Marokkos versuchen zwei Flüchtlinge, den Zaun zu überwinden. 3.2.2015. © dpa / EFE / Reduan
Von Julia Schulze Wessel · 02.08.2018
Grenzen sind etwas Festes, Fixiertes - gesichert mit Mauern und Zäunen. So glauben wir. Weit gefehlt, sagt die Politologin Julia Schulze Wessel. Grenzen sind ständig in Bewegung. Auch wenn wir es nicht unbedingt merken.
Es hat eine kurze Zeit gegeben, in der zumindest ein Teil Europas als ein Raum ohne Grenzen erfahren werden konnte. Diese Zeit scheint jetzt endgültig vorbei zu sein und die Grenze zurückgekehrt. An verschiedenen Orten Europas entsteht sie wieder für alle sichtbar in Form von Zäunen und Grenzpolizeien.
Wenn über Grenzen und die Kontrollen über sie gesprochen wird, so denken viele an konkrete Orte, an markierte Grenzverläufe oder an geografisch ortbare Linien, die in Atlanten verzeichnet sind. Dieses Bild wird auch in der öffentlichen Diskussion um nationale Grenzkontrollen immer wieder aufgerufen. Dabei stimmt es schon lange nicht mehr – zumindest nicht in dieser Eindeutigkeit. Die Grenzen haben ihre Gestalt, die Form und die Materialität in den letzten Jahrzehnten fundamental verändert.

Grenzen verschwinden und werden gestärkt

Paradoxerweise gehören Verschwinden und Stärkung von Grenzen zusammen. Die Einrichtung des Schengenraums machte die alten nationalstaatlichen Grenzen für Bürgerinnen und Bürger der jeweiligen Mitgliedstaaten durchlässiger. Gleichzeitig hat die Europäische Union die Kontrollen der Zuwanderungsbewegungen immer stärker ausgeweitet. Das Verschwinden der Grenzen für die einen begleitete also eine massive Stärkung von Grenzen für die anderen. Jedoch wurden die nationalen Grenzen nicht einfach zu supranationalen Grenzen an den Rändern Europas umgebaut. Sondern sie veränderten ihre Gestalt durch die Transnationalisierung und Internationalisierung von Kontrollen sowie durch diverse Abkommen vor allem mit Herkunfts- und Transitländern verschiedener Kontinente.
Grenzbeamte europäischer Länder kontrollieren seitdem weit vor den Landesgrenzen eines europäischen Landes. Ebenso werden vor allem verschiedene afrikanische Länder in die Kontrolllogiken Europas mit ihrer Unterscheidung zwischen legaler und illegaler Migration eingebunden. Kontrollen finden an verschiedenen und immer wieder wechselnden Orten statt, innerhalb Europas wie auch außerhalb Europas. Sie reagieren so auf die Routen der Flüchtlinge, die sich den Kontrollen entziehen und neue Wege suchen, wenn alte versperrt sind. Diese neuen Grenzen haben damit ihre konkreten Orte verloren und sind in Bewegung geraten.

Dynamische Grenzräume statt lokalisierbarer Linien

Grenzen sind also weniger als lokalisierbare Linien zu verstehen. Sondern sie sind zu dynamischen Grenzräumen geworden, die von Europa bis in andere Kontinente reichen und sich ständig verschieben. Insofern passt das Bild von der "Festung Europa" nicht. Es lebt von einer gesetzten und sichtbaren Grenze, von hohen Mauern, die Schutz gegen die Unsicherheiten von Außen bieten sollen. Eine Festung ist statisch, unverrückbar.
Die heutigen Grenzen dagegen, die auf Fluchtbewegungen reagieren, sind dynamische, veränderbare Räume. Und sie sind auch effektiver, als es eine Festung jemals sein könnte. Denn sie versperren und blockieren die Wege weit vor dem europäischen Kontinent. Für die Flüchtlinge beginnt die Grenze damit oftmals schon im Augenblicks des Aufbruchs und begleitet sie auf ihren Wegen permanent.

Am selben Ort in unterschiedlichen Räumen

Diese Ortsungebundenheit und potentielle Allgegenwart zeigt eine der zentralen Transformationen von Grenzen an: Sie materialisieren sich nur für eine bestimmte Gruppe, legen sich in diesem Sinne direkt über ihre Körper. Während sie z.B. für Touristen auf dem Kreuzfahrtschiff im Mittelmeer niemals sichtbar werden, so sind sie für diejenigen, die auf kleinen Booten versuchen, ohne Papiere die europäischen Gewässer und Landesgrenzen zu erreichen, immer potentiell da. Beide Gruppen können sich an ein- und demselben Ort aufhalten, aber sie bewegen sich in völlig unterschiedlichen Räumen. Dieses Bild führt die Gleichzeitigkeit vom Verschwinden der Grenzen für den einen Teil und der Permanenz der Grenzen für den anderen Teil der Menschheit plastisch vor Augen.

Julia Schulze Wessel vertritt zur Zeit die Professur für Politische Theorie an der Universität Leipzig.
Sie forscht zu den Veränderungen von demokratischer Bürgerschaft und den Grenzen der Demokratie durch Flucht- und Migration. Flüchtlinge werden dabei als eigenständige und die Demokratien herausfordernde Akteure verstanden.
Ihr jüngstes Buch ist im letzten Jahr unter dem Titel "Grenzfiguren. Zur politischen Theorie des Flüchtlings" im transcript Verlag erschienen.

Die Politologin Julia Schulze Wessel.
© Julia Schulze Wessel
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