Migranten in Chile

Venezuela sí, Haiti no!

21:34 Minuten
lange Schlange vor einem Gebäude, das mit Gittern geschützt ist
Vor der Ausländerbehörde warten viele Haitianer und Venezolaner, aber auch Migranten aus Bolivien oder Peru © Sophia Boddenberg
Von Sophia Boddenberg · 20.09.2018
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Sehnsuchtsort Chile: Innerhalb Lateinamerikas ist das Land bevorzugtes Ziel von Migranten, vor allem aus Venezuela und Haiti. Jetzt will die rechtskonservative Regierung die Einwanderung regulieren und vor allem den Zuzug von Haitianern einschränken.
Kesnel Toussaint steht vor dem Gebäude mit der Hausnummer 237 im Zentrum von Chiles Hauptstadt Santiago. Schwarzer Ruß überzieht Fensterrahmen und Fassade, das Haus ist komplett ausgebrannt. Am 18. Mai haben hier 125 Menschen ihr Zuhause verloren, die meisten von ihnen waren Migranten aus Haiti. Kesnel Toussaint ist einer von ihnen. Er ist 26 Jahre alt, trägt einen weißen Kapuzenpullover und eine weiße Käppi, auf der noch das Preisschild klebt. Das Sonnenlicht spiegelt sich in seinen glitzernden Ohrsteckern. Er ist seit einem Jahr und drei Monaten in Chile.
Junger Haitianer mit Käppi steht in einer schmalen Straße
Kesnel Touissant hat vor dem Brand in dieser Straße gewohnt© Sophai Boddenberg
"Während wir geschlafen haben, gab es einen Brand. Wir wissen nicht, was den Brand ausgelöst hat. Es war etwa drei Uhr morgens, wir sind nach draußen gerannt. Alle meine Sachen sind verbrannt. Ich habe alles verloren, bis auf die Kleidung, die ich anhatte. Mein Reisepass, meine Papiere aus der Schule, mein Bargeld, alles ist verbrannt. Alles."

Illegale Unterkünfte in der Glitzerstadt

Nachdem das Feuer gelöscht wurde, kehrten die Familien ins Gebäude zurück und wohnten dort fast zwei Monate ohne Strom und Wasser. Dann wurde das Gebäude aus Sicherheitsgründen geräumt, die Bewohner landeten auf der Straße. Sie konnten sich gegen die Räumung nicht wehren. Die Zimmer, für die sie einzeln bezahlen mussten, waren illegal untervermietet. Nun mussten sie sich eine neue Bleibe suchen, aber wo? Diese Situation ist kein Einzelfall. Viele Immigranten in Chile leben in prekären Wohnverhältnissen zur Untermiete, auf engem Raum, zu hohen Preisen und ohne Rechte.
Santiago von seiner glitzernden Seite
Santiago von seiner glitzernden Seite © Deutschlandradio / Anne Herrberg
Kesnel Toussaint träumt davon, an der Universität zu studieren. Er ist nach Chile gekommen, um zu arbeiten und von dem verdienten Geld das Studium zu bezahlen. Im Moment verkauft er Obst auf einem Wochenmarkt. Da seine Aufenthaltspapiere und seine Arbeitserlaubnis verbrannt sind, stellt ihn niemand offiziell ein. Und die Mühlen der Verwaltung in Chile mahlen langsam.

Stundenlanges Anstehen bei der Ausländerbehörde

Um neue Dokumente zu bekommen, muss sich Kesnel Toussaint an der Schlange der Ausländerbehörde anstellen. Viele stehen hier schon seit dem Morgengrauen, weil die Behörde nur bis 14 Uhr geöffnet hat. Toussaint ist einer von über 100.000 Haitianern, die 2017 nach Chile kamen. Das sind 40 Mal so viele wie noch im Jahr 2013. Haitianer und Venezolaner sind die am stärksten anwachsenden Gruppen von Einwanderern in Chile.
Frauen verkaufen an Straßenständen Essen
Der Mensch muss essen: vor der Ausländerbehörde werden landestypische Speisen angeboten © Sophia Boddenberg
An der Ausländerbehörde warten außerdem Menschen aus Peru, Kolumbien, Bolivien, der Dominikanischen Republik und Ecuador. An den umliegenden Straßenecken verkaufen Frauen verschiedene Gerichte aus ihren Heimatländern: peruanisches Ceviche, kolumbianische Tamales und venezolanische Arepa.
Chile ist das Land mit einem der größten Pro-Kopf-Einkommen Lateinamerikas, hohen Exportzahlen, einem steigendem Wirtschaftswachstum und vergleichsweise geringen Kriminalitätsraten. Die 33-jährige Peruanerin Guadalupe steht mit ihrer Tochter schon seit mehreren Stunden vor der Ausländerbehörde.
"Wir sind hierhergekommen auf der Suche nach einem besseren Leben, um zu arbeiten. Ihr Vater ist zuerst hergekommen, und jetzt sind wir zu dritt und versuchen, vorwärtszukommen."
Junge Peruanerin mit Kind
Guadalupe mit Tochter, beide kommen aus Peru und wollen in Chile bleiben.© Sophia Boddenberg
Über eine Million Immigranten leben heute in Chile. Sie machen etwa sechs Prozent der Gesamtbevölkerung aus. 2002 war es nur knapp über ein Prozent.

Migration war bisher kein Thema in Chile

Der rechts-konservative Präsident Sebastián Piñera hat deshalb ein neues Einwanderungsgesetz verabschiedet, das die Migration nach Chile regulieren soll. Das Gesetzesprojekt beinhaltet zwei spezielle Visa: das sogenannte "Visum der demokratischen Verantwortung" speziell für Venezolaner, das ihnen die Einwanderung erleichtern soll. Und das "humanitäre Visum" für Haitianer, das auf 10.000 Visa pro Jahr begrenzt werden soll. Die neuen Visa sollen künftig in den Heimatländern beantragt werden.
"Wir brauchen ein neues Einwanderungsgesetz aus einem einfachen Grund. Unser Zuhause war unordentlich. Es war dringend und notwendig, unser Zuhause aufzuräumen mit einer neuen Einwanderungspolitik. Das aktuelle Gesetz ist aus dem Jahr 1975, als es praktisch keine Einwanderung nach Chile gab. In den letzten Jahren ist die Einwanderung stark angestiegen."
Der Kandidat der rechten Koalition «Vamos Chile», Sebastian Pinera, jubelt am 19.11.2017 in Santiago, Chile, nach ersten Hochrechnungen bei Präsidentenwahl. Piñera hat die Präsidentenwahl in Chile nach ersten Hochrechnungen klar gewonnen, allerdings die absolute Mehrheit verfehlt. Nach Auszählung von 82 Prozent der Stimmen erreichte der 67-Jährige 36,7 Prozent, für Guillier, den Bewerber der Allianz von Sozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten, votierten 22,6 Prozent. Zwischen den beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen wird es am 17. Dezember zu einer Stichwahl kommen. 
Der rechtskonservative Präsident Chiles, Sebastian Pinera, gewann 2017 die Wahlen und will nun die Migration einschränken. © dpa / picture alliance / Esteban Felix
Im Zentrum von Santiago arbeiten viele Immigranten in prekären und informellen Verhältnissen. Da viele keine Arbeitserlaubnis haben oder keinen festen Job finden, arbeiten sie als Straßenverkäufer. Haitianer verkaufen Schokoladenriegel und Energy-Drinks an Autofahrer an den Ampeln der Hauptverkehrsstraße Alameda, Peruaner bieten frisch gepresste Obstsäfte an den Straßenecken an, Ecuadorianer verkaufen Stoffe und Kleidung.
Einer Studie des Nationalen Instituts für Menschenrechte zufolge sind fast 70 Prozent der Chilenen damit einverstanden, dass die Einwanderung nach Chile begrenzt werden soll. Knapp 50 Prozent glauben, dass die Immigranten den Chilenen die Arbeitsplätze wegnehmen und etwa ein Drittel ist der Meinung, dass die Chilenen den anderen Völkern Lateinamerikas überlegen sind.

Die Mehrheit will Einwanderung begrenzen

Dieses Meinungsbild spiegelt sich auch im Zentrum Santiagos wider.
"Chile ist nicht in der Lage, so viele Menschen aufzunehmen. Wir haben hier schon genug Kriminalität. Wo sind die Chilenen, die früher in den Restaurants und auf den Märkten gearbeitet haben? Ich sehe nur noch Ausländer. Ich habe nichts gegen die Immigranten, aber es sind zu viele. Wir müssen zuerst auf unser Zuhause achten."
"Ich finde, dass es zu viel ist. Es ist ok, dass Menschen kommen, aber ich finde es zu viel. Wir haben viele eigene Probleme: die Bildung, das Gesundheitswesen. Und es kommen Leute ohne Arbeit, und das schadet uns. Wenn sie keine Arbeit finden, werden sie kriminell."
"Von den Venezolanern habe ich einen guten Eindruck, sie arbeiten und sind verantwortungsbewusst. Mit Haitianern hatte ich bisher nicht viel zu tun. Ich respektiere sie als Rasse. Aber das sind Menschen, die ohne Bildung kommen, und das ist eine Belastung für den Fiskus. Ich bin damit einverstanden, dass die Regierung alle schlechten Elemente ausweist."
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Wohnen unter Wellblech - Die andere Seite Chiles, fernab der glitzernden Metropole Santiago.© Anne Herrberg, ARD Buenos Aires
Die meisten Venezolaner, die ihr Land verlassen, bleiben bei den Nachbarn in Kolumbien und Brasilien, aber immer mehr reisen weiter in den Süden des Kontinents nach Peru, Chile und Argentinien. Chile hat 2017 knapp 165.000 Venezolaner aufgenommen und ist somit eines der Länder der Region, die am meisten Venezolaner aufnehmen. Viele haben Universitätsabschlüsse, aber finden in Chile nur Arbeit in der Gastronomie oder im Einzelhandel.

"Chilenen zuerst" steht auf einem Laken an der Brücke

Die Venezolanerin Vanessa Muñoz ist seit Juli vergangenen Jahres in Chile. Sie ist Journalistin, aber hat Schwierigkeiten bei der Jobsuche.
"Wo ich wohne, haben sie ein großes Laken an die Brücke gehangen, auf dem steht: Arbeit, Gesundheit und Wohnen – Chilenen zuerst. Das soll uns jeden Tag daran erinnern, dass das hier nicht unser Land ist. Aber wir sind ja nicht aus Spaß hier. In Venezuela erleben wir gerade eine extrem schwierige Situation und wir kommen hierher auf der Suche nach besseren Möglichkeiten. Wenn ich sage, dass ich Journalistin bin, gucken mich die Leute oft überrascht an. Nur weil ich Immigrantin bin, heißt das nicht, dass ich zum Putzen hergekommen bin."
Präsident Piñera zufolge will sich Chile mit dem "Visum demokratischer Verantwortung" bei den Venezolanern revanchieren, weil sie einst viele politische Flüchtlinge der Pinochet-Diktatur aufnahmen. Raymond Álvarez ist 29 Jahre alt, Soziologe und nicht aus politischen Gründen nach Chile gekommen.
"Venezuela ist eines der Länder mit der höchsten Mordrate weltweit. Eines Tages wurde ich in einem Bus ausgeraubt und mit einer Pistole bedroht. Ich bin deshalb weniger wegen der Wirtschaftskrise gegangen, als wegen der Gewalt. Wenn es ein Produkt nicht gibt, kann man etwas anderes essen. Aber das Leben kann man nicht ersetzen."

Haitianer fühlen sich diskriminiert

Álvarez meint, dass hinter der chilenischen Migrationspolitik die Strategie steckt, gut gebildete und politisch rechts orientierte Venezolaner zu bevorzugen und die Einwanderung der armen, bildungsfernen Haitianer zu beschränken.
Auch der Haitianer Kesnel Toussaint findet, dass die neue Einwanderungspolitik der chilenischen Regierung den Haitianern gegenüber ungerecht ist.
"Das ist Diskriminierung. Unser Visum ist anders als das anderer Ausländer. Es ist alles schwieriger für uns Haitianer. Erstens wegen unserer Hautfarbe, zweitens wegen unserer Sprache und drittens, weil unser Land nicht sehr entwickelt ist. Deswegen behandeln sie uns schlecht. Es gibt keinen Respekt für die Menschlichkeit."
Gründe für die starke Einwanderung von Haitianern nach Chile sind das Erdbeben im Jahr 2010, die extreme Armut und auch die Präsenz chilenischer Truppen der Blauhelm-Mission der Vereinten Nationen. Die UN-Mission verursachte den Ausbruch der Cholera, eines der wenigen Übel, die das Land bis dahin verschont hatte. Die sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Chile und Haiti sind riesig. Daten der Weltbank zufolge leben in Chile 14,4 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze, in Haiti sind es 58,5 Prozent. Die Hälfte der haitianischen Bevölkerung hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, die Arbeitslosigkeit liegt bei 80 Prozent, und die Zahl der HIV-Infizierungen ist eine der höchsten weltweit.

"Sprache ist Werkzeug"

Toussaint ist nach Chile gekommen in dem Glauben, eine gute Arbeit zu finden und so Geld verdienen zu können, um an der Universität zu studieren. Er hatte stets gute Noten in der Schule, spricht neben seiner Muttersprache Kreol auch fließend Spanisch, Französisch und Englisch. Aber er ist enttäuscht von Chile.
"Sie haben mir in Haiti gesagt, dass in Chile die wirtschaftliche Lage gut ist und die Leute respektvoll sind. Aber die Wirklichkeit ist es anders. Ich beobachte, wie die Leute uns feindselig anstarren, insbesondere die Haitianer."
Wenn er gewusst hätte, wie die Realität in Chile aussieht, wäre er lieber in Haiti geblieben, sagt Kesnel Touissant.
"Ich will zurückkehren. Aber ich kann so nicht zurückkehren. Ich hatte vorher zwei Motorräder, Arbeit, Geld. Aber ich habe alles verkauft und das Geld ausgegeben, um hierherzukommen. Wenn ich mit leeren Händen zurückkehre, werden mich alle schief angucken. Ich schäme mich."
Die meisten Haitianer sprechen Kreol, nur wenige sprechen bei ihrer Ankunft in Chile Spanisch. Die Sprachbarriere erschwert die Integration. Deshalb hat das Centro Universitario Ignaciano der Universität Alberto Hurtado, die zur Jesuitengemeinschaft gehört, 2016 das Projekt "Zanmi" ins Leben gerufen. Es richtet sich speziell an Einwanderer aus Haiti, bietet Erwachsenen und Kindern Sprachkurse und Hausaufgabenbetreuung an, die von Studenten und freiwilligen Helfern durchgeführt werden. "Zanmi" heißt "Freund" auf Kreol, der Sprache der Haitianer. Sophia Urrutia ist Geschichtslehrerin, 25 Jahre alt und koordiniert das Projekt.
"Wir glauben, dass die Sprache und die Kommunikation sehr wichtig sind, nicht nur für die Integration, sondern auch als Werkzeug der Selbstermächtigung. Wer lernt, die Sprache zu sprechen, ist weniger verwundbar. Wir stellen auch Kontakte zwischen Haitianern und Chilenen her. Anfangs ist das eine Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, aber daraus entwickelt sich schnell eine Freundschaft."

Migrationsgesetz oder einfach nur Ausländergesetz?

Nathan ist 33 Jahre alt und seit einem Jahr in Chile. Der Sprachkurs hat ihm sehr geholfen.
"Gut ist, dass ich jetzt besser Spanisch spreche und chilenische Freunde gefunden habe, die sehr herzlich sind. Schlecht ist die Kälte. Haiti ist ein tropisches Land. Auch meine Arbeit ist sehr hart und mein Chef ist unfreundlich."
Auch die Bewegung "Movimiento Acción Migrante", die sich aus verschiedenen Migranten-Organisationen zusammensetzt, unterstützt die Einwanderer in Chile. Der Peruaner Francisco Bazos, Sprecher der Bewegung, fordert eine Überarbeitung des Einwanderungsgesetzes.
"Das ist kein Migrationsgesetz, sondern ein Ausländergesetz. Es reguliert, wer ins Land hineinkommt und wer es verlässt, aber es enthält keinen Hinwies darauf, was mit den Immigranten passiert, wenn sie einmal in Chile sind. Dieses Gesetz basiert nicht auf den Menschenrechten. Die Regierung folgt der populistischen Rechten. Sie will die Löhne drücken, indem sie die Schwächsten, nämlich die Ausländer, in prekäre Arbeitsverhältnisse schickt."
Die Diskriminierung der Einwanderer und die Politik der Regierung hat Francisco Bazos zufolge auch damit zutun, dass die Chilenen sich den anderen Lateinamerikanern überlegen fühlen.
"In Chile wird ein Selbstbild verbreitet, dass die Chilenen die Engländer Lateinamerikas wären. Das Bild eines guten Hauses in einem schlechten Stadtviertel. Aber die Chilenen brauchen die Einwanderer als Arbeiter. Sie erledigen die Arbeit, die die Chilenen nicht mehr machen wollen."
Die Soziologin und Migrations-Expertin Maria Emilia Tijoux lehrt an der Universidad de Chile in Santiago. Sie forscht seit Jahren über Migration, Rassismus und Kolonialismus in Chile. Die Ursache für den Rassismus gegenüber den Haitianern ist ihrer Meinung tief in der chilenischen Geschichte verankert.
"Als der Nationalstaat gegründet wurde, wurden europäische Immigranten nach Chile geholt, um Ländereien zu erschließen und die 'Rasse zu verbessern'. So hat sich der Rassismus gegen unsere Völker etabliert. Heute richtet er sich gegen Immigranten aus Latein- und Zentralamerika, die Arbeit und ein besseres Leben suchen. Es ist an der Zeit, dass wir merken, dass wir ein großes Lateinamerika sind."
Die Einwanderung nach Chile wird in den nächsten Monaten wahrscheinlich weiter zunehmen. Während die Regierung die Einwanderungspolitik verschärft, organisieren Helfer und Unterstützer Protestmärsche, Informationsveranstaltungen und Beratungen, um die Einwanderer in Chile über ihre Rechte aufzuklären und die Regierung zur Überarbeitung ihrer Einwanderungsgesetze zu bewegen.
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