Migranten beim Mauerfall

Von Jens Rosbach · 28.05.2009
Die einen jubelten, die anderen klagten: Berliner Migranten erlebten den Mauerfall ganz unterschiedlich. Ostberliner Vietnamesen zum Beispiel waren begeistert. Türken dagegen sahen die Vereinigung zumeist skeptisch.
Beim Mauerfall: "Die ganze Stadt ist voll, Westberlin, alle Autos hupen, alle freuen sich! Ich glaub das nicht!"
"Ich hab damals 61 gesehen, wie der Stacheldraht gezogen wurde. Jetzt will ich dabei sein, wenn Schluss ist."
"Ich meine, wir sind ja genauso so Deutsche. Wir sind ja genauso Deutsche, ne! Ich kann's gar nicht fassen, ich bin hier, das gibt’s gar nicht!"

Bakir: "Man hat die Migranten nicht mit einbezogen. Man fühlte sich wie auf einer Hochzeit, also es ist eine große Freude da. Zwei Seiten freuen sich, Braut, Bräutigam und die Familien – und man ist ein ungebetener Gast. Die Deutschen – in Großbuchstaben – die Deutschen haben gefeiert, und wir dürfen nur zugucken."

Hoang: "Wir haben nur beobachtet, nicht mitgemacht, nur als Außenseiter und nur gucken. Weil wir haben gedacht, wir gehören nicht dazu. Wir freuen uns auch, dass es auch für uns vielleicht mehr Freiheit oder so. Aber mitmachen – haben wir nicht gemacht, nein."

Forner: "Ich nahm das mit Dankbarkeit. Weil ich war die Zeugin. Man wird Zeugin von solchen historischen Ereignissen. Das ist natürlich ein Geschenk. Das war schon interessant. Also wie sich Nation wieder zusammen findet. Und wie kompliziert das ist. Ja – gerade bei den Deutschen."

Freude, Ernüchterung, Enttäuschung. Hoang Ha hat durch den Mauerfall alles zusammen erlebt. Der Vietnamese betreibt im Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg einen kleinen Gemüseladen. Draußen, vor der Tür, stapeln sich blank geputzte Orangen, Tomaten und Gurken. Drinnen, zwischen Bierkästen und Saftregalen, erzählt der 45-Jährige von der Grenzöffnung: Wie er, als Ausländer in der DDR, zum ersten Mal in den Westen gelangte.

Hoang: "Wir sind über die Mauer hier gesprungen und nach Westberlin. Und dann am Abend wieder zurück. Immer über die Mauer, Brandenburger Tor. Dort wo die Mauer ist am niedrigsten, da sind wir immer über die Mauer gesprungen. Ganzen Tag in Westberlin - und dann am Abend wieder zurück. War sehr schön, ja."

Warum läuft der Vietnamese nicht einfach durch einen geöffneten Grenzübergang? Hoang Ha ist zu jener Zeit Vertragsarbeiter in einer Dresdner Nähmaschinenfabrik und lebt - mit Hunderten Landsleuten - in einem kargen Ausländerwohnheim. Sie alle wollen am Wochenende alle das westliche "Paradies" sehen – werden jedoch von den DDR-Grenzern zurückgewiesen: Denn für Vertragsarbeiter gilt nach wie vor ein Ausreiseverbot. Werkzeugmacher Hoang und seine Freunde klettern also bei Nacht und Nebel über die Berliner Mauer. Etwa um Kleinigkeiten zu kaufen, die sie im Osten vermissen.

Hoang: "Meistens kaufen wir Nudeln oder Fischsoße. Wenn wir über die Mauer springen, können wir auch nicht viel tragen. Damals müssen wir immer schwarz umtauschen. Wenn man nach Westberlin, dann braucht man D-Mark und hier gibt’s nur Mark, dann muss man schwarz tauschen. Und so viel Geld haben wir nicht, dass wir Jacke oder Hose kaufen. Kann man nur Lebensmittel oder so kaufen."

Thúy Nonnemann steht damals auf der anderen Seite der geöffneten Mauer. Die Vietnamesin ist bereits in den 60er-Jahren nach Deutschland gekommen; sie hat nach Westberlin geheiratet. Im Herbst 1989 kümmert sich die Bankangestellte um ihre Landsleute, die in den Westen strömen. Denn Tausende von ihnen wollen nicht mehr in die DDR – und auch nicht ins sozialistische Vietnam zurück. Dort drohen ihnen Armut und politische Gängelung.

Nonnemann: "Ich hab mich sehr gefreut, dass die Mauer gefallen war, weil die können vor so einem Regime fliehen. Die waren für mich Vietnamesen, die waren keine Kommunisten. Die waren auch Opfer einer Diktatur."

Ähnlich wie die Deutschen ahnen auch die Vietnamesen nichts von der baldigen Wiedervereinigung. So stellen zahlreiche DDR-Vertragsarbeiter in Westberlin einen Asylantrag. Sie werden in Extra-Auffanglagern untergebracht – unbeachtet von den deutsch-deutschen Jubelmassen. Nonnemann dolmetscht für die Flüchtlinge Tag und Nacht, ehrenamtlich.

Nonnemann: "Es war so schrecklich, wie sie wohnten. Es war so eine Halle am Funkturm, wo Reihen von Betten waren, zweistöckige, dreistöckige Betten. Es war so ein Warenlager, da können Sie sich vorstellen, wie groß es war. Es war so dreckig, ich fand es so kalt und so unmenschlich. Aber trotzdem habe ich mich so über diesen Mauerfall gefreut."

Nachrichten: "Die Nachrichten. Die DDR hat von sofort an ihre Grenzen zum Bundesgebiet und nach Westberlin bis auf weiteres geöffnet. DDR-Bürger können von sofort an …"

Gemischte Gefühle auch bei einer anderen, bei der größten Migrantengruppe an der Spree: den Westberliner Türken. Barbara John, Ausländerbeauftragte des Berliner Senats, stellt bereits wenige Monate nach Mauerfall einen Stimmungsumschwung bei den Gastarbeitern fest.

John: "Zuerst war es eine große und sichtbare Mitfreude, die sich zum Beispiel auch daran ausgedrückt hat, dass so an Grenzübergängen in Kreuzberg, wo es viele türkische Geschäfte gibt, zu Spontaneinladungen der DDR-Bürger kam zum Kaffee und zum Tee. Und das ist dann in ziemlich kurzer Zeit auch Ängsten und einer Skepsis gewichen, dass die Ausländer jetzt doch in eine Randlage kommen. Zuerst hat man an Arbeitsplätze gedacht und etwas später auch daran, dass nun für längere Zeit deutsch-deutsche Fragen die politische Tagesordnung diktieren und die Nöte und Probleme ausländischer Minderheiten nicht mehr die Schlagzeilen füllen."

Umfrage unter Türken: "Türkische Leute arbeiten, aber jetzt DDR-Bürger kommt – bisschen durcheinander."
"Ich meine, es kann schon möglich sein, dass die DDR-Leute um überhaupt ne Arbeit zu kriegen, viel niedrigere Stundenlohn eingesetzt werden können, als wie die Ausländer. Und dadurch kann es sein, dass die Ausländer an Arbeitsplätzen verlieren können."
"Ich habe … äh türkische Leute haben ein bisschen Angst, wa."

1989/90 ist die Stimmung schlecht: Viele Türken fühlen sich verprellt. Sie haben das Gefühl, dass die Integration von Ausländern – die zuvor ein großes Thema in Westberlin war – nun niemanden mehr interessiert. Denn die "deutschen Brüder und Schwestern" bestimmen die Schlagzeilen. Die Berliner Politikwissenschaftlerin Nevim Cil hat herausgefunden, dass dies jahrelang nicht vergessen wurde. Die Forscherin befragte in den Jahren 2000 bis 2002 türkische Zuwanderer, was sich bei ihnen durch Mauerfall und Vereinigung geändert hat.

Cil: "Ganz viele Interviewpartner aus dieser Nachkommengeneration haben mir gesagt, dass sie sich teilweise vorher als Deutsche gefühlt haben und auch bemüht haben, Deutsche zu werden. Das bedeutete ganz stark, die Sprache lernen, deutsche Freunde, deutsche Kontakte. Und mit der Wende quasi diese Perspektive auf die Gesellschaft hat sich ins Negative gedreht. Weil die Gesellschaft die biologische Herkunft ganz stark in den Vordergrund gehoben hat, und den Leuten, die dachten, dass sie mit einer Bemühung ein Teil einer Gesellschaft werden können, quasi den Rücken zu gekehrt haben."

Die Wissenschaftlerin resümiert: Bei den Türken habe sich der Eindruck verfestigt, dass sie niemals so willkommen sein werden wie die DDR-Bürger. Und dass es eine Illusion sei, sich durch Engagement integrieren zu können.

Cil: "Man könnte es auch als die Integrationsfalle bezeichnen."

Anders als viele skeptische Türken empfindet Vietnamese Hoang Ha das Jahr 1989 als Befreiung. Denn nun endet endlich sein harter DDR-Alltag: Bis zur Wende muss er nämlich zwölf Prozent seines Lohnes an den vietnamesischen Staat abführen. Im Wohnheim stehen ihm nur fünf Quadratmeter zu. Die Vertragsarbeiter vom Mekong – insgesamt mehrere Zehntausend – stecken all ihre Ersparnisse in Konsumgüter, um sie notleidenden Verwandten zu schicken.

Hoang: "Damals kaufen Fahrrad, Fahrräder oder Haushaltsmaschinen, Bekleidung, Lebensmittel, Zucker in der Kiste … und in der Kiste zu sammeln und nach Hause, nach Vietnam geschickt."

Die Vertragsarbeiter in der DDR werden bis zum Mauerfall von vietnamesischen Parteifunktionären kontrolliert. Kontakte zu Ostdeutschen sind unerwünscht – und Familiengründungen verboten.

Hoang: "Damals darf man nicht heiraten und darf auch keine Kinder haben. Viele Frauen haben Kinder und müssen nach Hause zurück ja, weil im Vertrag steht, dass man hierher reist zum arbeiten und nicht zum Familie gründen oder so. Meistens sie treiben ab. Und das machen viele: nur abtreiben, abtreiben. Manche drei, vier Mal – ist so einfach."

Der Herbst 1989 schenkt den Zuwanderern Freiheit. Viele hoffen auch auf ein Bleiberecht. Doch die Volkseigenen Betriebe entlassen die Vertragsarbeiter. Und wer einen Asylantrag stellt, erntet zumeist eine Ablehnung. So leben die Asiaten jahrelang mit einem unsicherem Aufenthaltsstatus. Die Westberliner Vietnamesin Thúy Nonnemann engagiert sich nach der Wende im Migranten-Verein "Vietnam-Haus" sowie in der Berliner SPD, um ein Bleiberecht für die Vertragsarbeiter zu erkämpfen.

Nonnemann: "Man kann Verträge verlängern. In Westdeutschland mit den Türken war es genau so. Warum kann es nicht so sein mit Vietnamesen? Sie haben hier für die Wirtschaft in der DDR gearbeitet und waren ausgebeutet. Sie waren schlecht bezahlt und waren schlecht behandelt. Da fand ich gerecht, dass sie bleiben dürfen, wenn sie sich dazu entschieden haben."

1993 kommen diese Migranten endlich im vereinigten Deutschland an: Aus humanitären Gründen erhalten vietnamesische - aber auch angolanische und mosambikanische Vertragsarbeiter – eine Aufenthaltsbefugnis. Jedenfalls, wenn sie eine Arbeit nachweisen können. Heute leben in Berlin rund 12.000 Vietnamesen. Ein Teil von ihnen ist erst nach der Wende – und zwar illegal - nach Deutschland gekommen und von der Abschiebung bedroht. Thúy Nonnemann setzt sich im Migrationsrat Berlin-Brandenburg sowie in der Berliner Härtefallkommission für ihre Landsleute ein. Manchmal schafft es die mittlerweile 70-Jährige auch, für Sozialfälle ein Bleiberecht zu erwirken. Die Betroffenen sind dann überglücklich.

Nonnemann: "Die bringen mir Blumen, Konfekte – also ich muss bei einigen stoppen. Jedes Jahr zum Neujahrsfest bringen sie mir größere Körbe. Ich sage: Lass das, ich kann das nicht alles konsumieren."

Forner: "Als ich zum ersten Mal - ich weiß nicht irgendwann in den 70er-Jahren – war auf dem Fernsehturm, und zum ersten Mal von oben habe ich diese Mauer gesehen, so als weiße Linie – das war das erste Gefühl: Das ist nicht normal. Dass so eine große Stadt durch eine Mauer geteilt ist. Ich war schon sehr froh, dass die Deutschen das überwunden haben. Ich nahm das mit Dankbarkeit, weil ich war die Zeugin."

Tatjana Forner ist Russin und hat einige Jahre nach dem Mauerbau in die DDR geheiratet. Als der Eiserne Vorhang fällt, besucht sie als erstes den Reichstag, der 1945 – so symbolträchtig - von der Roten Armee erstürmt worden ist. Die Soziologin und Philosophin macht allerdings einen großen Bogen um die Russen, die in Westberlin leben. Denn unter ihnen sind zahlreiche sowjetische Dissidenten.

Forner: "Ich denke mir, das war keine große Drang, sich irgendwie kennenzulernen. Weil wissen Sie, diese Dissidententum kann man auch missbräuchlich bedienen, ja diese Titel. Manche Menschen sind teilweise viel kritischer auch hier gewesen – ja und aktiv hier gewesen."

In Ostberlin leben bei Grenzöffnung rund 3500 zugewanderte Russen, die meisten in binationalen Ehen. Viele von ihnen betrachten die Sowjetkritik der Westberliner Landsleute als aufgesetzt, als inszeniert. Tatjana Forner setzt lieber auf praktische Veränderungen. Bereits im Jahr zuvor, 1988, hat sie in Ostberlin einen Treffpunkt für Gorbatschowfreunde gegründet: den Club Dialog, eine russische Protest-Gruppe mitten in Honeckers reformunwilliger DDR. Genauso wie andere ostdeutsche Oppositionskreise legen auch die Migranten mit Grundlagen für den Herbst 1989.

Forner: "Weil vieles gerade mit Perestroika es wurde quasi nicht angenommen. Aber wir interessierten uns dafür. Das war nicht einfach, Stasi war natürlich auch dabei, oft bei Veranstaltungen, was mir machten. Aber trotzdem wir haben das gewagt, dieses Experiment, und es ist gelungen."

Der Mauerfall: DDR-Vertragsarbeiter, die auf Freiheit und Bleiberecht hoffen. Russen, die sich über Reformen freuen. Und Türken, die skeptisch und ängstlich sind. Suat Bakir ist ebenfalls Berliner Türke – hat aber am 9. November `89 Glückstränen in den Augen. Bis heute findet sich auf seinem Handy Schabowskis Maueröffnungsspruch als Audio-File abgespeichert.

Schabowski: "Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen."

Bakir: "Ich hab gesagt, ich bin ein Teil dieser Geschichte. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass ich Ostverwandte hatte und auch sehr viele Besuche da abgestattet habe – zu Geburtstagen, Hochzeitstagen. So dass ich mich als ein Teil des Ganzen gefühlt habe und eben auch mitgeweint habe."

Der studierte Volkswirt hat durch seine deutsche Frau Verwandte jenseits des Eisernen Vorhangs. Er gilt den "Ossis" als exotischer Gesprächspartner.

Bakir: "Also ich kann sagen: Vor 20 Jahren unsere Gespräche – wenn es um diese Freiheit ging – es ging in erster Linie um die Reisefreiheit und danach – muss ich zugeben – um die Meinungsfreiheit. Und da kam diese Exotik auch in meiner Person zu Tage, in dem man sagte: natürlich die Türkei möchte ich sehen. Die kannten die Orte: Ich möchte nach Antalya, ich möchte nach Istanbul, ich möchte die Paläste sehen. Also diese Phantasien waren schon durchaus da."

Bakir erlebt in der DDR herzliche Familienfeiern – mit Bergen von selbst gebackenen Torten und großem Interesse an seiner Herkunft. Umso schockierter ist der Türke, als er kurz nach dem Mauerfall etwas ganz neues beobachtet: eine aufkeimende Ausländerfeindlichkeit.

Bakir: "Das war für mich ne Enttäuschung - das betrifft natürlich nicht meine Verwandtschaft – ich hätte das so nicht erwartet. Wir wussten das natürlich auch aus Westdeutschland, dass je weniger man mit Migranten, Ausländern zu tun hat, umso höher eben die Abneigung war. Aber dass es eben das Gleiche in Sachsen, in McPomm, Thüringen der Fall ist, das hätten wir nicht gedacht."

Umfrage: "Wenn einheitlich Deutschland wird, müssen die ganzen Ausländer raus. Da müssen drüben die ganzen Türken raus und bei uns hier die Mosambikaner und die Kubaner raus. Sollen sich unseren Gesetzen und Sitten fügen."
"Wir müssen ein einiges Deutschland werden – dass wir alleine klarkommen unter Deutschen."
"Die Mosambikaner oder die Ausländer hier, die versuchen sich, an unseren deutschen Frauen zu vergreifen. Gegen diese Typen bin ich!"

Bald schon folgen Übergriffe. 1990 wird gar ein Vertragsarbeiter von ostdeutschen Neonazis getötet: der Angolaner Amadeu Antonio Kiowa. Vor allem die Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John mahnt immer wieder: Das Zusammenwachsen von Ost und West dürfe nicht auf Kosten der Migranten geschehen, so die angesehene CDU-Politikerin. Während die Experten noch über die Wurzeln ostdeutscher Ausländerfeindlichkeit rätseln, schreiten Vietnamese Hoang und seine Kollegen zur Tat: Vor ihrem Wohnheim stellen sie sich mutig randalierenden Rechtsradikalen entgegen.

Hoang: "Haben wir zurückgeschlagen, meistens so mit Stöcken. Wo wir rauskommen, sind die weg gelaufen."

Der Berliner Zuwanderer bilanziert, nie hätte er gedacht, dass die Wende 1989 auch so viele Probleme bringe könnte. Heute müsse er rund um die Uhr arbeiten, um seine vierköpfige Familie mit dem kleinen Gemüseladen zu ernähren.

Hoang: "Am Sonntag meistens, wenn wir zu haben, kaufen wir ein auf dem Großmarkt. Und wieder vorbereiten für eine neue Woche. Wir können uns nicht erlauben, Urlaub zu machen."

Nonnemann: "Also Vertragsarbeiter sind jetzt nicht mehr Vertragsarbeiter, sie sind Händler. Die sind Freischaffende. Die haben keine Berufe erlernt, es geht ihnen schlecht, weil sie keine Ausbildung für die Marktwirtschaft haben. Viele gehen in Konkurs, viele sind krank und können nicht zum Arzt gehen, weil sie kein Geld für Krankenversicherung haben. Viele sterben sehr jung."

Für Thúy Nonnemann vom Berliner Migrationsrat sind die vietnamesischen Vertragsarbeiter Gewinner wie auch Verlierer der deutschen Einigungsgeschichte. Zum einen hätten Tausende nach dem Mauerfall in Deutschland bleiben dürfen. Zum anderen seien aber ihre Lebensbedingungen schlecht. Außerdem fürchteten sie sich noch immer, in bestimmte Ost-Bezirke Berlins zu fahren, in denen viele Rechtsradikale wohnen.

Nonnemann: "Abends fahre ich nicht mehr nach Marzahn oder Hellersdorf oder Hohenschönhausen."

Mauerfall / Reporter: "Jetzt wird es ein bisschen laut hier, weil natürlich die ganzen Autos am Hupen sind. Und es gibt hier natürlich auch schon die ersten Bierleichen. Wer kommt hier noch aus der DDR?"

Auch bei den Türken der Hauptstadt herrscht viel Nachdenklichkeit angesichts des Mauerfall-Jubiläums. Die Politikwissenschaftlerin Nevim Cil resümmiert: Bis heute dominiere bei den ehemaligen Gastarbeitern ein Gefühl des im Abseitsstehens und der Benachteiligung im Vergleich zu den Ostdeutschen. Diese Kränkung führe dazu, dass sich Zuwanderer in ihrem Kiez einigeln.

Cil: "Ganz viele aus der Nachkommengeneration haben mir erzählt, dass sie eben halt nicht mehr das Integrationsangebot der Gesellschaft in Anspruch nehmen, weil sie sagen: Das stimmt ja eh nicht, ich werde ja eh nicht anerkannt und akzeptiert in dieser Gesellschaft. Also es ist schon ein Erlebnis, was sich sehr tief eingegraben hat."

Bakir: "Wenn ich mir auch die Medien angucke, ob es eben Radio oder Fernsehen oder auch in den Printmedien – kommen Migranten kaum vor. Die haben mit dazu beigetragen, vor 89, nach 89 – und nicht nur durch den Solidaritätsbeitrag – dieses Land so gestalten, wie es zurzeit auch da steht. Sie sind ein Teil davon. Und das muss man auch der gesamten Bevölkerung auch so signalisieren."

Türke Suat Bakir sitzt für die Berliner und Brandenburger Migranten im Rundfunkrat des RBB und bringt dort ihre Sorgen zu Gehör. Auch ihre Schwierigkeiten mit der deutschen Vereinigung. Nach Ansicht des 47-Jährigen gibt es aber auch unzählige Zuwanderer, die damit Positives verbinden. Er selbst werde jetzt das Ende des Eisernen Vorhangs richtig feiern – am liebsten gemeinsam mit seinen Ostverwandten. Denn er fühle sich als Türke wie auch als Deutscher wohl. Die Berliner Russin Tatjana Forner ist ebenfalls stolz, dass sie Grenzöffnung und Wiedervereinigung miterleben durfte – gerade in einer Mittlerrolle, als Außenstehende.

Forner: "Diese Mittlerrolle zieht dazu, dass man eigentlich in andere versetzen kann. Ich konnte genau so gut versetzen in Ostberliner und genauso gut in Westberliner. Ja - und das war schon interessant. Also wie sich Nation wieder zusammen findet. Und wie kompliziert das ist. Ja – gerade bei den Deutschen."