Migräne

Der Feind in meinem Kopf

28:12 Minuten
Das optisch verfremdete, symbolhafte Foto zeigt den Kopf einer Frau mit geschlossenen Augen.
Rund 14 Prozent der Frauen sind von der neurologischen Krankheit betroffen, doppelt so viele wie Männer. © picture alliance / dpa / Jürgen Wiedl
Von Carina Schroeder |
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Migräneattacken können einen völlig außer Gefecht setzen. Lange Zeit gab es für Betroffene wenig Hoffnung auf Linderung der Schmerzen. Forscher wissen mittlerweile einiges über die Volkskrankheit und haben erfolgversprechende Therapien entwickelt.
Seit gut zwei Monaten führe ich ein Migräne-Tagebuch, nehme kleine Sprachnachrichten auf. Ich dokumentiere alles, beobachte mich selbst ganz genau.
"Das Sprechen fällt mir schon schwer. Ich habe wahnsinnige Kopfschmerzen auf der linken Seite. Es fühlt sich fast so an, als hätte mir jemand einen Nagel oder so etwas in den Kopf gerammt. Jetzt hilft nur noch schlafen gehen."
Es ist das erste Mal, dass ich mich bewusst mit diesem Schmerz auseinandersetze. Und mir fällt auf: Eigentlich weiß ich so gut wie nichts darüber.
"Wir nennen uns Zentrum für Integrative Schmerzmedizin im Franziskus-Krankenhaus Berlin." Michael Schenk ist Experte für alle möglichen Formen von chronischen Schmerzen. Wenn er neue Patientinnen und Patienten kennenlernt, dann redet er erst einmal ausführlich mit ihnen. Das reicht meist schon, zumindest wenn es um die Diagnose der Migräne geht.
"Die Migräne ist gekennzeichnet einmal durch so eine Art Vorstadium, wo man sich irgendwie komisch fühlt, vielleicht Heißhunger hat oder es einem irgendwie nicht gut geht, man sich irgendwie unwohl fühlt. Dann fängt irgendwann dieser Schmerz an. Der ist von der Qualität hämmernd und pochend, aber zum Beispiel nicht brennend oder elektrisierend oder dumpf. Er hat eine hohe Intensität."

Migräne wird vererbt

Der Mann mit dem freundlichen Blick und der ruhigen Art ist der erste, mit dem ich seit zwölf Jahren über meine Migräne spreche. Damals habe ich mich in Leipzig in einem Schmerzzentrum untersuchen lassen.
Die Ärztin schickte mich mit einem Rezept für frei verkäufliche Schmerztabletten weg. Dabei sind die Zeiten schon lange vorbei, als Migräne noch als "hysterische Frauenkrankheit" bezeichnet wurde.

"Ich glaube, was ganz wichtig ist, ist erst einmal zu sagen: Migräne ist jetzt keine psychosomatische Erkrankung, sondern ist eine richtige, echte, knackige körperliche Erkrankung, die vererbt wird. Und es ist dann auch noch so, dass die Art und die Schwere der Migräne auch noch einmal spezifisch vererbt wird."

Betroffene nehmen mehr wahr

Rund 14 Prozent der Frauen sind von der neurologischen Krankheit betroffen, doppelt so viele wie Männer. Meist tritt sie erstmalig in der Pubertät auf, verschwindet in der Menopause. Und sie hat auch einen positiven Effekt: Immerhin nehmen Menschen wie ich scheinbar mehr wahr als andere.
"Es gibt so einen Witz. Wenn eine Migränepatientin im Straßencafé sitzt und sich nett unterhält, dann kann sie hinterher noch erzählen, welche Autos vorbeigefahren sind, wie die aussahen und was die Kennzeichenschilder waren."
Es ist albern, aber ein wenig stolz bin ich auf meine aufmerksame Art. Andere Attribute, die Menschen mit Migräne auch oft hören: leistungsorientiert, fleißig, ehrgeizig. Check, kann ich für mich sagen. Es ist eine Art Ausgleich – für die Zeiten, in denen der Schmerz lähmt. Irgendwann wird dem Gehirn alles zu viel.
"Wenn man dann einen Migräneanfall hat, dann ist sozusagen das, was eh latent vorhanden ist, wird dann extrem. Wir sprechen dann lateinisch von Phonophobie, Photophobie, Osmophobie. Auf Deutsch heißt es: Unangenehme, laute Geräusche, grelles Licht zu ertragen oder auch starke Gerüche zu haben – das mag man nicht."

Kopfschmerz ist nur eines von vielen Symptomen

"Wie ich diesen Deo-Geruch hasse. Früher mochte ich den. Mein Mann hat den auch immer ganz gern benutzt. Aber jetzt, wenn ich den so auf der Straße rieche, wird mir gleich schlecht. Es erinnert mich an zahlreiche Migräneanfälle."
Doch was passiert genau im Gehirn? Der Neurologe Arne May leitet die Kopfschmerzambulanz an der Universitätsklinik Hamburg- Eppendorf. Über 30 Tage hat der Forscher neun Migräne-Patientinnen und –Patienten jeden Tag immer zur selben Zeit einer MRT-Untersuchung unterzogen – ob sie Schmerzen hatten oder nicht.
Mit diesem bildgebenden Verfahren entstehen Schnittbilder des Gehirns, mit der auch kleine Veränderungen sichtbar werden. Während der Untersuchung wurden Schmerzreize in Form von Ammoniak eingesetzt und mit dem Effekt von Flackerlicht und dem Geruch von Rosenduft verglichen. Die Ergebnisse hat er im vergangenen Jahr veröffentlicht.
"Wir haben zeigen können, dass tatsächlich bestimmte Netzwerke schon ein, zwei Tage vor der eigentlichen Attacke anfangen zu arbeiten. Das heißt, wir können zeigen, dass das Gehirn, obwohl der eigentliche Kopfschmerz noch gar nicht da ist, schon anfängt in diese Funktionsstörung hineinrutschen – und dass der Kopfschmerz nur ein Symptom von sehr vielen ist."

Funktionsstörung des Gehirns

Aktiver wird zum Beispiel der Hypothalamus. Dieser Bereich des Zwischenhirns ist der Rhythmusgeber fast aller körperlichen Funktionen und steuert auch die Funktionen des vegetativen Nervensystems.
"Und genau diese ganzen Rhythmen, Schlafrhythmen, Essrhythmus, Temperaturrhythmen, die werden da generiert und spielen alle eine große Rolle bei der Migräne. Und so wird eine Migräne vorbereitet. Dann ist irgendwann der Punkt erreicht, wo auch der Hirnstamm sich so aufgebaut hat, dass er feuert und dann kommt der eigentlich Kopfschmerz."
Drei Bereiche des Gehirns kommunizieren miteinander und bestimmen, wann die Attacke losgeht: allen voran der Hypothalamus, der sogenannte Hirnstammgenerator und der Trigeminusnerv. Letzterer ist für die Weiterleitung von Schmerzimpulsen aus Kopf und Gesicht zuständig und begünstigt deshalb die Entstehung von diesen anfallsartigen Kopfschmerzen.
"Es ist nachts, alles schläft – nur ich nicht. Mein Kopf hat mich aufgeweckt. Es pocht, schmerzt. Ich weiß nicht, wohin mit mir."
Aber was genau schmerzt da? Schmerzempfindlich sind vor allem die Blutgefäße und auch die Hirnhaut. Die bereits genannten Hirnareale kommunizieren mit Hilfe von Botenstoffen – sogenannten Neurotransmittern. Relevant für die Migräne sind vor allem Serotonin und das sogenannte Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP).

Keine dauerhaften Schäden im Gehirn

Die Kommunikation an sich ist aber nicht das Ungewöhnliche, sondern was mitgeteilt wird. Die Theorie: Der Trigeminus teilt den Gefäßen der Hirnhaut über die Botenstoffe mit, dass sich diese entzünden sollen. Warum sie das tun, das ist nicht ganz klar.
Und es gibt noch eine Besonderheit: Diese rhythmisch auftretenden, vorübergehenden Funktionsstörungen des Gehirns hinterlassen keine dauerhaften Schäden – die Migräne ist in dieser Hinsicht harmloser als andere neurologische Erkrankungen.

Blinkende Lichter, Sterne, Lichtblitze

Neben diesen "Vorsymptomen", wie extreme Müdigkeit oder häufiges Wasserlassen, haben rund 20 bis 30 Prozent der Migräne-Patientinnen und -Patienten auch noch eine sogenannte Aura.
"Als ich zwölf Jahre alt war, hatte ich diese visuelle Halluzination. Da waren diese blinkenden Lichter in meinem Sichtfeld und dann haben sie mir die ganze Sicht versperrt."
Damals hatte K. C. Brennan Angst. Heute beschreibt der Neurologe diesen Augenblick als Auslöser für seine Faszination für Migräne. Vor allem interessieren ihn die Lichtblitze oder Sterne, die einige Migränepatientinnen und -Patienten circa eine halbe Stunde vor dem Einsetzen des Schmerzes sehen.
Bei einigen kommt es aber auch zu Ausfällen an einer Gesichtshälfte und Empfindungsstörungen in den Händen. Hier scheint der erhöhte Serotonin-Spiegel die Gefäße in bestimmten Bereichen, wie in der Nähe des Sehnervs, sehr zu verengen. Das passiert vor der Migräneattacke.
Untersuchungen haben allerdings auch gezeigt, dass die Migräne mit Aura meist schwerer und schmerzhafter ist. Auch K. C. Brennan hat in seiner Forschung die Migräne mit Aura genauer betrachtet. Er beschreibt die Vorgänge bei der Erregungswelle, die sogenannte spreading Depolarisation, die während der Aura über das Gehirn läuft:
"Wenn du einen Stein in einen Teich wirfst: so sieht eine spreading Depolarisation aus. Es startet normalerweise in der Mitte. Entweder stoßen die Zellen zu viele feuernde Transmitter aus oder die angesprochenen Nervenzellen können die feuernden Transmitter nicht verarbeiten."

Welche Rolle spielt Glutamat bei Migräne?

Der Neurologe von der University of Utah untersucht diesen Vorgang an Mäusen. Durch ein in die Schädeldecke gebohrtes Loch können die Forscher mit einem Mikroskop die Gehirnaktivität und die Erregungswelle beobachten, während die Mäuse auf einem rotierenden Ball laufen.
In einer seiner jüngsten Untersuchungen beschreibt er vermehrte Ansammlungen des erregenden Neurotransmitters "Glutamat" in kleinen Wölkchen bei Mäusen mit Migräne. Das deutet darauf hin, dass dieser Neurotransmitter nicht seinen eigentlichen Zweck erfüllt, also die nächste Zelle erregt, sondern sich im Hirn staut.
"Es stellt sich heraus, dass diese nicht nur mehr bei Mäusen mit Migräne auftreten, sondern vor allem, wenn das Gehirn gerade mit der spreading Depolarisation beginnt."
Ob und wie diese Glutamat-Wölkchen beim Menschen auftreten, kann er noch nicht sagen. Ähnliche Erregungswellen können auch bei einem Schlaganfall, einem Hirntrauma oder einem epileptischen Anfall auftreten. Herauszufinden, welche Rolle das Glutamat bei diesen Prozessen spielt, könnte auch helfen, Mechanismen anderer neurologischer Krankheiten besser zu verstehen.

Migräne und Multiple Sklerose

Einige Forschungsarbeiten konzentrieren sich auf mögliche Verbindungen zwischen Migräne und Multipler Sklerose (MS): "Im Moment scheint es so zu sein, dass es zwei verschiedene Hauptszenarien gibt. Es kann sein, dass der Patient eine Multiple Sklerose hat und unabhängig eine Migräne. Aber es kann eben auch sein, dass ein Teil der Patienten durch die Multiple Sklerose migräneartige Kopfschmerzen entwickeln."
Multiple Sklerose ist eine chronisch entzündliche, nicht ansteckende Erkrankung des zentralen Nervensystems. Das gesamte Gehirn und Rückenmark können betroffen sein. Eine Forschungsgruppe wies in Untersuchungen nach, dass die Entzündungszellen von Multipler Sklerose auch auf der Hirnhaut zu finden sind.
Das ist äußerst ungewöhnlich. Zuvor gingen Forscherinnen und Forscher davon aus, dass die Kopfschmerzen von einer Zweiterkrankung ausgelöst werden müssen. Interessant ist aber auch, wie sich diese Kopfschmerzen meist anfühlen und wann diese auftreten, erklärt ein Doktorand von Uwe Zettl. Marcel Gebhardt vom Martha-Maria Krankenhaus in Halle hat eine Untersuchung durchgeführt, bei der er 50 Patienten bei der Erstdiagnose der MS auch auf Kopfschmerzen untersucht hat.
Gefunden hat er bei 78 Prozent, "dass Patienten in der Frühphase der Erkrankung, also der Multiplen Sklerose, häufiger Kopfschmerzen hatten. Eben auch Patienten, die noch geringer körperlich betroffen waren und auch weniger MRT-Veränderungen hatten – und dass in der Frühphase eher die migräneartigen Kopfschmerzen auftraten, während bei den langjährig erkrankten Patienten eher Kopfschmerzen vom Spannungstyp häufiger waren."
Es könnte also sein, dass diese Entzündungszellen der MS zu Beginn der Erkrankung auf der Hirnhaut einen migräneartigen Schmerz auslösen, später die Entzündungen aber eher zur Wirbelsäule wandern und damit auch der migräneartige Kopfschmerz verschwindet.

Hormone könnten eine wichtige Rolle spielen

Arne May vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, der zur Entstehung der Migräne forscht, ist skeptisch. "Was man nicht vergessen darf: Die Migräne ist extrem häufig. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass jemand mit der MS auch eine Migräne hat, ist auch recht hoch und nicht wirklich überraschend. Hat jetzt die MS die Migräne gemacht? Das glaube ich nicht. Sie brauchen die Genetik dafür, wenn sie die Genetik nicht haben, dann kriegen wir es halt auch nicht. Wenn sie Migräne-Genetik haben, dann kriegen sie das vielleicht auch nicht, sondern sie brauchen irgendwelche von außen kommenden Auslöser."
So liegt zum Beispiel die Vermutung nahe, dass Hormone vor allem bei Frauen eine wichtige Rolle bei der Entstehung einer Migräne spielen.

Immer mehr Schmerztabletten, immer mehr Schmerzen

An meine erste Migräne kann ich mich nur düster erinnern. Ich muss so 17, 18 Jahre alt gewesen sein. Meine Eltern waren damals kegeln und ich war alleine zu Hause. Plötzlich wurde mir ganz schlecht und dann kamen diese heftigen Schmerzen. Im Arzneimittelschrank suchte ich nach einer Kopfschmerztablette und rief panisch meine Eltern an, weil mir dieser Zustand einfach auch Angst machte. An Migräne haben wir damals nicht gedacht. Susanne ging es ähnlich:
"Wenn wir am Wochenende eine Wanderung unternommen haben, sind weit gelaufen, habe vielleicht ein bisschen wenig getrunken, habe meine Mahlzeit ausgelassen, dann hatte ich Kopfschmerzen. Die haben sich gesteigert über einen Tag, und abends habe ich dann gebrochen, die Nacht gelegen, gebrochen, die nächsten Tag fast durchgeschlafen, und danach war ich wieder senkrecht. Das ging aber, wie gesagt, also bewusst seit meinem dritten, vierten Lebensjahr los."
Ich lerne die heute 40-Jährige in der Schmerzklinik von Michael Schenk in Berlin kennen. Sie bekam lange Zeit keine richtige Hilfe. Die Migräne wurde von Jahr zu Jahr schlimmer, die Schmerzen heftiger, die Verzweiflung größer. Ihre Attacken dauern meist einige Tage.
"Das hat sich über die Jahre durch Schule, Leistungsdruck, keine Ahnung, so verändert, dass man halt dann immer wieder Medikamente nimmt, um diese Anfälle zu vermeiden und trotzdem leistungsbereit zu sein und zu arbeiten. Man kommt dann in so einem Kreis rein, wo man eben viel zu viele Medikamente nimmt, die dann irgendwann auch nicht mehr wirken."
Susanne beginnt damit, sich selbst zu behandeln, mischt unterschiedliche Medikamente, tut alles, um zu funktionieren. Mit 32 Jahren wird sie dann schwanger. Aus Rücksicht auf ihr Kind verzichtet sie auf Medikamente und schafft die neun Monate gerade so durchzuhalten. Doch dann fängt ihr Albtraum erst an.
"Ein ganz, ganz schlimmer Punkt war, als ich mich nicht um mein Baby kümmern konnte."
Ihr Ausweg: der selbstgemischte Medikamentencocktail. Ich gebe zu, das lässt mich nicht kalt. Auch ich nehme zum größten Teil Medikamente aus der Apotheke und dann fast auch immer mehr als die Packung empfiehlt.
"Eigentlich müsste es doch nach der dritten Tablette besser sein oder nicht? Ich kann es kaum erwarten, diese Erleichterung zu spüren."
Doch auch zu viele Medikamente können Kopfschmerzen auslösen. Susanne hat kaum noch schmerzfreie Tage. Ihre letzte Hoffnung: die Behandlung von Michael Schenk und seinem Team.
Als ich sie kennenlerne, ist sie gerade auf Medikamentenentzug. Danach soll sie neu eingestellt und engmaschig überwacht werden, Strategien lernen, mit ihrer Migräne besser umzugehen. Ihr fällt es schwer, von ihrer Familie getrennt zu sein. Sie hat Angst vor der Zukunft.
"Aber das war jetzt der Hauptgrund für diesen Schritt hier, dass ich gesagt habe, dann kann ich mir auch diese zwei Wochen nehmen, kann versuchen, noch einmal das Ruder herumzureißen, irgendetwas zu ändern, damit es hinterher irgendwie ein anderes Leben wieder ist, als ich es jetzt die letzten Jahre so durchgezogen habe."

Ein Leben mit dem Schmerz

"Was ich mir vorher immer erträumt hatte, das war immer mein größter Wunsch, einmal mal keine Migräne zu haben. Ja, und nun ist wahr geworden. Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt schon realisiert habe."
Stefanie ist nur ein Jahr jünger als Susanne und doch an einem ganz anderen Punkt in ihrer Krankheitsgeschichte. Sie war ungefähr zwölf, als sie das erste Mal eine Migräne hatte.
"Ich weiß noch, dass ich mit diesen Kopfschmerzen aufgewacht bin. Dass ich nicht aufstehen wollte, konnte, weil der Schmerz so da war. Und ich natürlich meiner Mama Bescheid gesagt hatte, die dann zu mir gesagt hat: musst du schön gerade liegen bleiben und noch einmal die Augen schließen, vielleicht schläfst du noch mal ein und dann wird der Schmerz schon weggehen. Hat jeder mal so Kopfschmerzen."
Mit den Jahren wurden auch ihre Attacken schlimmer. Auch sie war Dauergast in der Apotheke, hat verschiedene Mittel durchprobiert.
"Ibuprofen, Paracetamol, ASS, Novalgin. Und was es alles so für Schmerzmittel gibt. Diclofenac. Mal hat es geholfen, mal hat es nicht geholfen. Das war immer so wie Russisch Roulette."
Erst mit 24 Jahren bekommt die Krankenschwester die Diagnose: Migräne. "Ist das jetzt so mein Leben? Ein Leben voller Schmerzen?"

Neue Medikamente gegen Migräne

Dann bekommt sie etwas völlige Neues verschrieben: Triptane. Die ersten Medikamente, die speziell bei Migräne helfen sollen. Die Mittel stoppen die Entzündung an den Gefäßen, hemmen die Weiterleitung des Botenstoffs CGRP, und verhindern auch, dass der Schmerzreiz von den Hirnhäuten an das Gehirn gemeldet wird. So helfen Triptane akut gegen den Schmerz. Doch die Ärztinnen und Ärzte haben mittlerweile auch noch andere Werkzeuge: die medikamentöse Prophylaxe.
"Es ist jetzt so, wenn man so eine Prophylaxe nimmt, und die gut funktioniert, dann wird man in der Regel immer noch Anfälle haben, aber wenn es gut geht, werden es weniger, die werden kürzer und sind auch nicht mehr so schmerzhaft."

"Eine kleine Revolution"

Michael Schenk aus der Schmerzklinik in Berlin zählt eine Reihe von Medikamenten auf – mit jeder Menge Nebenwirkungen. Darunter sind unter anderem Antidepressiva und Betablocker.
"Wir haben jetzt eine Möglichkeit, eine fast nebenwirkungsfreie, sehr, sehr wirksame Therapie zu haben. Und ja, das ist schon eine kleine Revolution, das kann man schon sagen."
"Impfung gegen Migräne, kann ich mich so dran erinnern." – Gemeint sind Antikörper-Spritzen oder auch CGRP-Antagonisten. Wie der Name schon verrät: Sie basieren maßgeblich auf der Entdeckung des CGRPs, dem Neuropeptid, das aus 37 Aminosäuren besteht. Die Entdeckung seiner Bedeutung für die Migräne ist maßgeblich Peter Goadsby zuzuschreiben.
"Es wurde speziell dafür entwickelt, das CGRP zu binden und aus der Zirkulation zu nehmen, oder es am Rezeptor direkt zu stoppen. Diese Behandlungen reduzieren oder blockieren den Effekt von CGRP. Es stellt sich heraus, dass das während der Attacke hilft und auch bei der Prävention von Migräne."
Die Idee, diesen Botenstoff genauer zu untersuchen, kam ihm bei einem Vortrag seines Kollegen Lars Edvinsson. Damals lebte und forschte Goadsby noch in Australien.
"Es war der Mittsommer 1985, einfach sich zu erinnern, denn ich war vorher noch nie in Europa, und der Mittsommer in Schweden ist sehr merkwürdig für jemanden, der noch nie da war, weil es immer hell ist."
Zunächst fanden sie das CGRP in Mäusen und konnten auch zeigen, wie es unschädlich gemacht wird. Unter anderem mit Triptanen. Dann haben sie sich Menschen für die Untersuchung geschnappt.
"Ich würde nicht geschnappt sagen. Ich habe Menschen gefragt, die in Sydney zur Migräne-Untersuchung kamen, ob ich ihr Blut untersuchen dürfte, um zu verstehen, was bei der Migräne passiert."
So einfach ist es allerdings nicht. Das CGRP hat nur eine kurze Überlebensdauer im Blut, es zerfällt in seine Einzelteile. Deshalb musste er das Blut unter anderem aus der Halsvene nehmen – und das ist nicht ganz ungefährlich.

Die Hoffnung auf ein schmerzfreies Leben

Dass seine Forschung heute vielen Menschen helfen kann, hätte Peter Goadsby nie erwartet. Immerhin mindert die Immuntherapie mit Antikörpern bei rund 50 Prozent der Patientinnen und Patienten die Migräne, rund 25 Prozent spüren keine Attacken mehr und nur bei 25 Prozent hilft es gar nicht. Trotzdem bleibt Peter Goadsby, der heute am King’s College in London forscht, bescheiden.
"Es kommt mir so vor, als wäre es gestern gewesen. Aber es ist schon lange her, dass wir mit dieser Arbeit begonnen haben. Es ist ein Privileg, mit Menschen so zu kooperieren und dazu beizutragen, eine Erkrankung besser zu verstehen, die eine Milliarde Menschen betrifft, zu verbessern. Es ist unglaublich, ja."
Was das für die Menschen bedeutet, kann man bei Stefanie sehen. Sie hat 2018 an einer Studie eines dieser Medikamente an der Charité teilgenommen. Seit 2019 verabreicht sie sich selbst einmal im Monat die Antikörperspritze.
Würde ich das machen? Ein Medikament nehmen, bei dem noch nicht klar ist, was die Langzeitfolgen sind?
"Aber ohne Migräne habe ich ja bedeutend mehr Lebensqualität und ein glückliches Leben. Also würde ich ja lieber nur 80 werden und ein glückliches, schmerzfreies Leben haben, statt 90 zu werden und an meinen Schmerzen einzugehen."
Stefanie ist nicht migränefrei. Sie hat noch Attacken, aber nur sehr wenige – und die sind kaum schmerzhaft.

Sport, ausreichend Schlaf, regelmäßige Mahlzeiten

Der Schmerzexperte Michael Schenk möchte seinen Patientinnen und Patienten nicht nur mit Medikamenten helfen. In den zwei Wochen intensiver Therapie müssen sie auch ihre Migräne besser kennenlernen und herausfinden, was ihnen guttut.
"Wer regelmäßig einfach Ausdauersport macht, hat deutlich weniger Migräne, ist wissenschaftlich nachgewiesen. Dann kann man versuchen, so eine Art Alltagshygiene zu machen. Das heißt: regelmäßige Mahlzeiten zu bestimmten Uhrzeiten. Dann ist ganz wichtig der Schlaf."
Aber auch Stressbewältigung und die Psyche spielen eine wichtige Rolle. In der Schmerzklinik nehmen die Patientinnen und Patienten deshalb auch an einer Psychotherapie teil.
"Eigentlich hätte ich heute noch etwas für die Arbeit machen müssen. Aber ich kann eben nicht mehr. Nichts funktioniert. Ich bin frustriert, kaputt, genervt. Mein Kopf macht nicht, was ich will."

Migräne und psychische Erkrankungen

Stefanie Scheuchenstuhl ist psychologische Psychotherapeutin und hilft den Patientinnen und Patienten in der Schmerzklinik unter anderem dabei, ihre Erkrankung zu akzeptieren, und bespricht mit ihnen, woran sie nach der Entlassung weiterarbeiten müssen.
"Forschungen haben aber auch rausgefunden, dass bei Menschen mit einer chronischen Migräne gehäuft auch eine Bindungsstörung vorliegt, also dass die keine sichere Bindung erlebt haben, in der Kindheit unsichere Verbindungen zu Bezugspersonen erlebt haben."
Welche Auswirkungen die Migräne langfristig auf ihre Psyche hat, bekommt Stefanie vor drei Jahren zu spüren. Sie kann nicht mehr.
"Auf dem Überweisungsschein stand: generalisierte Angststörung und depressive Episoden."
Sie sucht sich eine Therapeutin, die ihr erst einmal Antidepressiva verschreibt und eine Gesprächstherapie beginnt.
"Es gibt zum Beispiel Studien, die sagen, dass Patientinnen und Patienten mit Migräne bis zu 60 Prozent erhöhtes Risiko haben, auch eine Depression zu entwickeln. Und umgekehrt hat man in Studien herausgefunden, dass Patientinnen und Patientinnen, die an einer Depression leiden, auch ein erhöhtes Risiko haben, eine Migräne zu entwickeln."
In einer eigenen Studie wollten Gernot Fugger und seine Kolleginnen und Kollegen aufzeigen, wie beide Erkrankungen zusammenwirken. Mithilfe von Fragebögen haben sie über 1400 Patientinnen und Patienten befragt:
"Patienten, die beide Erkrankungen haben, also eine Komorbidität aus Depression und Migräne, die sind schwerer depressiv. Und was auch ganz wichtig ist: Die sprechen schlechter auf die Therapie an. Also die haben circa zehn Prozent weniger Remissionsrate: Also die Remissionsrate ist die Rückbildungsrate der depressiven Symptomatik."
Es gibt erste Anzeichen auf einen Zusammenhang dieser beiden Erkrankungen, auch bei der Depression spielt der Botenstoff Serotonin eine wichtige Rolle. Doch wieder diese Ungewissheit: Sind es zwei unabhängige Erkrankungen oder bedingen sie einander?

Die Sorge, Migräne weiterzuvererben

Stefanie geht es heute gut. Das Einzige, was sie noch beschäftigt: Hat sie ihrem Sohn die Migräne vererbt?
"Vor Kurzem war es gewesen, dass er dann auf einmal gesagt hat: Irgendwie tut mir mein Kopf weh, Mama. Und wo bei mir dann gleich los ging, um Gottes willen, es wird doch wohl jetzt nicht eine Migräne sein? Wo ich gleich gefragt habe: Was hast du für einen Schmerz, wie tut es weh? Wo gleich meine Angst vorkam."
"Gestern hatte ich Migräne und heute bin ich aufgewacht und ich hab so viel Energie in mir. Der Anfall ist vorbei und ich hab keine Schmerzen mehr. Und ich bin ganz aufgedreht und möchte ganz viel machen. Genau das Gegenteil eigentlich von gestern."
Zumal ich jetzt weiß, dass ich mit meiner Migräne noch eine ganze Weile leben werde. Sie ist ein Teil von mir. Aber sie erinnert mich auch daran, dass ich nicht immer nur funktionieren kann. Jetzt muss nur noch die Gesellschaft an den Punkt kommen, dass ich es auch nicht muss.
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