Hohe Mietpreise

Wenn Berufstätige sich nur noch ein WG-Zimmer leisten können

Auf einer Hausmauer wird mit den Worten "Hier entsteht" ein Baumprojekt angekündig.
Wohnungsnot und hohe Mieten: in Großstädten ein wachsendes Problem. © picture alliance / Zoonar / Wodicka
Gedanken von Anne Backhaus · 01.08.2023
In Deutschland fehlen Millionen bezahlbare Wohnungen. Eine Folge: Berufstätige Großstädter mittleren Alters ziehen notgedrungen wieder oder sogar zum ersten Mal in ihrem Leben in WGs. Politisches Versagen hat dazu geführt, meint Anne Backhaus.
Ausschnitt aus einer Anzeige für eine Wohngemeinschaft in München: „Das Zimmer hat 20 qm, Erdgeschoss mit Fenster zur Ostseite. Es gibt ein Kühlschrankfach und eine eingerichtete Küche. In der WG leben insgesamt noch fünf weitere nette Mitbewohner. Zwei Männer und drei Frauen im Alter zwischen 40 und 63 Jahren. 600 Euro warm, inkl. Internet.“

600 Euro für ein WG-Zimmer sind längst normal

600 Euro fürs WG-Zimmer? Längst normal. In München, Hamburg und inzwischen auch Berlin lässt sich locker ein kleinerer Raum für mehr Geld finden. Doch Moment, die „netten Mitbewohner“ sind „im Alter zwischen 40 und 63 Jahren“? Ja, das steht da. So oder so ähnlich auch in anderen Anzeigen.

Knapp ein Drittel des Einkommens für Miete

Wohnungsmangel und steigende Mietpreise haben in Deutschlands Großstädten eine neue Mieter-Klientel hervorgebracht: Mittelalte Menschen, die notgedrungen wieder oder sogar zum ersten Mal in ihrem Leben in WGs ziehen. Häufig Singles, berufstätig. Laut Statistischem Bundesamt müssen sie besonders viel Geld fürs Wohnen ausgeben: knapp ein Drittel ihres Einkommens. „Ehrlich gesagt hätten wir selbst nicht gedacht, dass wir einmal in einer 7er WG wohnen würden“, heißt es in einem anderen Zimmer-Inserat. „Doch das Haus und die Möglichkeiten dort haben uns überzeugt.“  
Das geteilte Haus in einem Stadtviertel mit guter Verkehrsanbindung oder die zentrale Wohnung mit vielen Mietparteien. Vielleicht noch ein Garten, mehrere Bäder und genügend Parkplätze – die heutige Berufstätigen-WG löst sich in Größe und Ausstattung häufig von ihren Vorgängermodellen.

Von der „Kommune 1“ zur Zweckgemeinschaft

1967 gründete sich die „Kommune 1“ in Berlin. Das Motto: Weg von der spießigen Kleinfamilie, hin zum gleichberechtigten Leben für alle. Sie gilt als Vorgänger der WGs, die zu Beginn der 80er-Jahre mehr wurden und sich bald weg vom Politischen und hin zu Zweckgemeinschaften entwickelten. Orte unglamourösen Zusammenlebens, meist von Studentinnen und Studenten. Ohne Gruppensex, dafür mit durchaus spießigen Diskussionen über Klopapier-Kauf und Putzdienste.
In den vergangenen Jahren gesellten sich zu den Studierenden nach und nach andere Menschengruppen, die ebenfalls von einer Lebensgemeinschaft profitieren wollen. Alleinerziehende ziehen so ihre Kinder gemeinsam groß, Seniorinnen sitzen nicht mehr allein am Fenster. Und in der Berufstätigen-WG gibt es eine Dachterrasse, auf der die Singles abends gemeinsam Bier trinken und über ihre Midlife-Crisis philosophieren.

8,6 Millionen Menschen in überbelegten Wohnungen

Gemeinsamkeit und Fürsorge statt Putz-Streitereien? So romantisch ist die Realität nicht. Die neuen WG-Gemeinschaften fußen, selbst wenn sie im besten Fall zu einem liebevollen Miet-Miteinander führen, auf politischem Versagen. In Deutschland fehlt es an Millionen bezahlbaren Wohnungen. Rund 8,6 Millionen Menschen lebten 2021 in überbelegten Wohnungen, darunter viele Alleinerziehende und Kinder. Ex-Partner leben im Streit zusammen, weil es sich keiner leisten kann, auszuziehen.
Unsere Gesellschaft ist zur Anpassung im privatesten Lebensraum genötigt, bis tief in die Mittelschicht. Egal, wie viel dort gearbeitet und wie gut dort verdient wird: Die meisten werden sich nie, so wie die eigenen Eltern im gleichen Alter, eine Immobilie kaufen können. Und die, deren Eltern sich nichts gekauft haben, können nicht mal Wohnraum erben. Gleichzeitig müssen die jüngeren Generationen mit deutlich geringeren Renten rechnen – bei zukünftig noch höheren Mieten.

Heiratsmarkt im Stil Jane Austens?

So hoch wie in London zum Beispiel. Dort, im von Brexit und Inflation gebeutelten Großbritannien, munkelte kürzlich der Ökonom Peter Kenway, dass das Land bald einen „Heiratsmarkt im Stil von Jane Austen erleben könnte, da Millennials ohne Erbschaft versuchen, mit Millennials zusammenzukommen, die ein Haus erben werden“. Auch hier nicht auszuschließen. Oder halt die Großstadt-WG auf Lebenszeit.

Anne Backhaus, 1982, ist freie Autorin und Reporterin aus Hamburg. Ihr Schwerpunkt sind Reportagen und Interviews mit gesellschaftspolitischen und kulturellen Themen, die sie für u. a. die "Zeit", das "Zeit Magazin", "Süddeutsche Zeitung" und "Spiegel" schreibt. Außerdem unterrichtet sie an Journalistenschulen und der Akademie für Publizistik. Backhaus wurde für diverse Medienpreise nominiert und von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung für den besten Tageszeitungstext des Jahres 2017 ausgezeichnet.

Porträt der Journalistin Anne Backhaus
© privat
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