Zum 200. Geburtstag von Gustave Flaubert

Die Lebensgeschichte eines Eigenbrötlers

05:50 Minuten
Cover der Flaubert-Biografie von Michel Winock
© Carl Hanser Verlag

Michel Winock

Übersetzt von Horst Brühmann und Petra Willim

FlaubertCarl Hanser Verlag, München 2021

655 Seiten

36,00 Euro

Von Rainer Moritz · 11.12.2021
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Seine Romane setzten Meilensteine. Doch über Gustave Flauberts Leben gab es bislang wenig zu lesen. Eine neue Biografie zeigt den Autor als Hypochonder, Perfektionist und Sextourist.
Blickt man auf die europäische Literatur des 19. Jahrhunderts, gibt es allenfalls eine Handvoll von Schriftstellern, deren Bücher kaum Patina aufweisen und die bis heute produktiv rezipiert werden. Ganz oben auf dieser Rangliste steht Gustave Flaubert, der vor 200 Jahren, am 12. Dezember 1821, geboren wurde.

Meister des psychologischen Realismus

Seine Romane „Madame Bovary“ und „L’Éducation sentimentale“ gelten als Meilensteine der Gattung und weisen ihren Autor nicht nur als Meister des psychologischen Realismus, sondern auch als scharfsinnigen Analytiker der französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts aus.
„Heute“, schrieb einst die französische Schriftstellerin Nathalie Sarraute, die Grande Dame des Nouveau Roman, „heißt unser Meister Gustave Flaubert. Über ihn besteht Einmütigkeit: Er ist der Vorläufer des zeitgenössischen Romans.“
Während das Interesse der Literaturwissenschaft an Flaubert ungebrochen hoch ist, im deutschsprachigen Raum Autorinnen und Autoren – von Jean Améry über Kurt Drawert bis Ulrike Draesner – sich immer wieder aufs Neue essayistisch mit Flaubert auseinandersetzen und vor allem dank Elisabeth Edl zuletzt maßgebliche Neuübersetzungen erschienen, ist das Leben Flauberts eher schwach ausgeleuchtet.

Reisen, Affären, reale und eingebildete Krankheiten

Wer hierzulande nach einer Biografie sucht, muss sich in Antiquariaten umtun und dort beispielsweise Herbert Lottmans Arbeit aus dem Jahr 1992 erwerben. Für Abhilfe im Jubiläumsjahr 2021 sorgt nun der französische Historiker Michel Winock mit seiner umfangreichen, im Original bereits 2013 erschienenen Biografie.
Winock, der in der Vergangenheit auch Germaine de Staël, François Mitterrand und Charles de Gaulle porträtierte, führt elegant (und mitunter weitschweifig) durch das Leben des Eigenbrötlers Flaubert.
Er schildert die Herkunft aus einem vermögenden Medizinerhaushalt, das freudige Abschiednehmen vom Jurastudium, das Sich-Abschotten in seinem Landhaus bei Rouen, die Pflege von Freundschaften, die realen und eingebildeten Krankheiten, die Besessenheit, zur stilistischen Perfektion zu gelangen, die Reisen, die, als sie in den Orient führen, Winock mit der Kapitelüberschrift „Sextourismus“ versieht, und den Entschluss, sich trotz zahlreicher Affären und nervenaufreibender Beziehungen wie zur Kollegin Louise Colet nie dauerhaft an eine Frau zu binden: „Das weibliche Wesen hat nie in mein Dasein gepasst.“

Verhasster Stumpfsinn des Bürgertums

Winocks Darstellung, die nicht zuletzt darauf fußt, dass Flaubert ein unermüdlicher, grandioser Briefschreiber war – die Edition in der Bibliothèque de la Pléiade umfasst fünf stattliche Bände –, hat große Stärken, wenn sie die französische Geschichte des 19. Jahrhunderts resümiert und zeigt, auf welche innovative Weise Flaubert diese in die „Éducation sentimentale“ integriert. Nicht minder anschaulich wird die Zerrissenheit des Bürgers Flauberts, der nichts mehr als die Stumpfsinnigkeit des Bürgertums hasste.
In den Werkinterpretationen – bei „Salammbô“ und vor allem beim Fragment gebliebenen Spätwerk „Bouvard und Pécuchet“, um das sich der Wallstein Verlag zuletzt mit Hans-Horst Henschens Edition so verdient gemacht hat – ist Winocks Zugang eher unergiebig. Was nichts daran ändert, dass mit dieser unaufgeregten, klaren Biografie auch Flauberts Leben nicht mehr als zugeschlagenes Buch vor uns liegt.
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