Michel Houellebecq: "Serotonin"

Die Depression des alten, weißen Mannes

Buchcover: "Serotonin" von Michel Houellebecq
Houellebecqs „Serotonin“ ist ein bittersüßes, tieftrauriges und humoristisches Road-Movie. © DuMont Buchverlag/picture alliance/dpa/Foto:Guillaume Pinon
Von Dirk Fuhrig · 05.01.2019
In "Serotonin" von Michel Houellebecq ist ein alter Mann in der Krise. Er fährt einen Diesel und schluckt ein Antidepressivum, um das Elend der Welt zu ertragen. Ein "echter" Houellebecq, der an manchen Stellen wie eine Vorlage für die Bewegung der "Abgehängten" wirkt.
Florent-Claude Labrouste ist einer dieser kaputten Typen, die wir seit mehr als zwei Jahrzehnten von Michel Houellebecq so gut kennen: Mittelklasse, beruflich mittelerfolgreich, in der Mitte des Lebens – und maximal frustriert. Es ist ein Wiedergänger des Michel aus den "Elementarteilchen", aber vor allem des Ich-Erzählers aus "Ausweitung der Kampfzone", Houellebecqs Debütroman von 1994, damals bereits ein Abgesang auf unsere moderne Lebensweise.
Michel Houellebecqs neuer alter Held ist ein Mann in der Krise. Er schluckt ein Antidepressivum, das die Ausschüttung des Glückshormons Serotonin im Hirn beeinflusst. Ohne diese Morgengabe könnte er das Elend der Welt nicht ertragen. Denn die Welt ist am Ende. Zumindest aus der Perspektive dieses einsamen Durchschnitts-Ingenieurs, der in seinem vierradgetriebenen Geländewagen schwäbischer Provenienz in melancholischer Verzweiflung vom Süden Spaniens nach Paris und in die französische Provinz fährt.

Ein Buch in Zeiten der "Gelbwesten"

Gelbe Westen sind auf den Straßen noch nicht in Sicht, denn dazu ist das Buch zu früh fertig gewesen – es musste schließlich in mehrere Sprachen übersetzt werden, um es fast gleichzeitig in Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien erscheinen zu lassen. Aber an manchen Stellen wirkt der Roman wie eine Vorlage für die Bewegung der "Abgehängten" und Frustrierten, die den Staat und die EU ablehnen – und sich von Tempolimits gegängelt fühlen. Auch Florent-Claude leidet schwer daran, dass er nicht über die Autobahnen rasen darf. Bauern in der Normandie lässt er den schwerbewaffneten Aufstand gegen das Senken der Milchquoten proben. Aber auch diese aufrechten Vertreter der guten, alten, protektionistischen Welt scheitern.
Die Unfähigkeit, Liebe, Sexualität und Partnerschaft zu leben, führt den Endvierziger aus der gehobenen Mittelschicht hinab in die Verzweiflung. Vom luxuriösen Loft am Eiffel-Turm zieht er in ein praktisches Mercure-Hotel und später in einen tristen Hochhausblock, aus dessen Fenstern er den Sprung in den Tod plant. Als Florent-Claude sein "Angeberauto", den G-Klasse Mercedes 350 (Diesel!), mit Tachostand 380.000 in der schmutzigen Tiefgarage abstellt, ist sein Lebensmut endgültig erloschen.
Florent-Claude hasst seinen Namen, hasst sich selbst, lästert über Schwule und Frauen. Aber insgesamt eher gemäßigt. Natürlich gibt es auch hier wieder die berühmt-berüchtigten Stellen zu sexuellen Praktiken und Männerfantasien, die Houellebecq seit den "Elementarteilchen" den – die Auflagen hochtreibenden Ruf des Provokateurs und erotischen Libertins – eingebracht haben. Wobei man den Eindruck hat, dass diesmal die eingestreuten sexuellen Explizitäten eher wie Selbstzitate wirken, um dem treuen Houellebecq-Leser seine vertraute Kost nicht vorzuenthalten.

Zentrales Thema des Buches: Lebensüberdruss

Der Roman "Unterwerfung", erschienen 2015 zufällig am Tag des Attentats auf das Magazin "Charlie Hebdo", war eine Satire auf das politische System Frankreichs und den wachsenden Einfluss des Islams. In "Serotonin" sind politische Bezüge nur schwach – auch wenn auf Seite 9 einmal der Name Macron auftaucht. Massentierhaltung, Massentourismus, die Immobilien-Hausse in Paris, der globale Freihandel oder die Verachtung der Arrivierten gegenüber der Unterschicht bilden zwar das atmosphärische Ambiente des Romans. Im Zentrum jedoch steht der Lebensüberdruss Florent-Claudes, der eher individuelle als gesellschaftliche Ursachen hat.
"Serotonin" ist ein bittersüßes, tieftrauriges und humoristisches Roadmovie. Etwas seltsam ist das Ende, wenn Houellebecq ziemlich unvermittelt und wahllos literarische Bezüge (zu Thomas Mann etwa, zu Proust und weiteren Schriftstellern) herstellt. Das wirkt aufgepfropft und sinnlos.
Sprachlich zeigt sich der Schriftsteller auf der Höhe seiner Kunst. Seine bestechenden Beschreibungen von Menschen und Dingen, der scharfe Blick auf die Absurditäten der modernen Gesellschaft, auf die Tristesse der Gewerbegebiete und Supermärkte; die pointierte, hochironische Art, seine Sätze zu formulieren, die sich so schnell und spannend weglesen. Dieser außergewöhnliche Stil, der zwischen schreiender Komik und abgrundtiefer Melancholie wechselt, macht auch dieses Buch zu einem "echten Houellebecq". Es ist eine Art Abrundung des Lebensthemas dieses Großmeisters des "Deprimismus": die Suche nach dem Glück. In diesem Fall kann auch das Serotonin nicht helfen.

Michel Houellebecq: Serotonin
Dumont-Verlag, Köln 2019
330 Seiten, 24,00 Euro

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