Michael Vassiliadis: Realistischer Energiemix notwendig
Der designierte Vorsitzende der IG Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE), Michael Vassiliadis, hat davor gewarnt, Kohle vorschnell als Energieträger aufzugeben. Notwendig sei vielmehr ein "realistischer" und "sicherer" Energiemix, der auch die Frage der Energiepreise beachte.
Deutschlandradio Kultur: Die Wirtschaft wächst. Die befürchtete Entlassungswelle ist ausgeblieben. Die Preise sind stabil. Herr Vassiliadis, ist denn die Rezession vorbei? Ist das Schlimmste überwunden?
Michael Vassiliadis: Zunächst einmal ist es gelungen, und das ist schon mal eine Nachricht und für einige auch eine Überraschung, dass im Zusammenwirken von Staat und auch Gewerkschaften, Unternehmen es gelungen ist, die schlimmsten Auswirkungen dieser Wirtschaftskrise und Rezession abzumildern. Es ist so, dass es jetzt einige Anzeichen gibt, dass es wieder in der Produktion und auch im Vertrieb bessere Zahlen gibt. Wir haben abzuwarten, ob das eine sogenannte "Sägezahnentwicklung" ist, also die Läger und diejenigen, die bestellen, sich wieder auffüllen auf das notwendige Maß, oder ob es wirklich die Talsohle ist. Ich bin da noch sehr vorsichtig.
Deutschlandradio Kultur: Teilen Sie denn den Optimismus, den Experten zu pflegen versuchen, dass die deutsche Wirtschaft gestärkt aus der Krise hervorgeht?
Michael Vassiliadis: Das kann sie. Dazu ist aber einiges erforderlich. Es ist nicht einfach wieder ein Anlaufen, in dem man dann schnell genug mitlaufen sollte und dann vorne ist, sondern es gibt einige Stärken der deutschen Wirtschaft, insbesondere ihre Innovationsfähigkeit und auch ihre Fähigkeit, moderne, neue, zukunftsträchtige Produkte zu platzieren, aber es gibt einige Strukturthemen jetzt zu bewältigen. Aber wir haben das Zeug dazu. Es ist allerdings notwendig, dass Politik und die Unternehmen nicht einfach nur weitermachen.
Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie sagen, Sie wären noch etwas vorsichtig, was die Entwicklung betrifft, wo sehen Sie denn die Gefahren?
Michael Vassiliadis: Es gibt eine spezifische Situation der deutschen Wirtschaft, insbesondere der deutschen Industrie, die uns in den letzten Jahren gefallen hat. Das ist die Exportabhängigkeit, die natürlich jetzt auch zum Problem wird. Da gibt es natürlich Volkswirtschaften, die in der Vergangenheit schon großen Nachholbedarf und große Dynamik hatten. Die sind auch jetzt noch da, allerdings nicht in derselben Dynamik, wie vor einigen Jahren. Da gibt es jetzt im Moment ein bisschen Normalisierung, aber wenn es an den Weltfinanzmärkten, an den Welthandelsmärkten zu Verzerrungen kommen wird – noch ist das nicht wieder im alten Lot -, dann schlägt das unmittelbar in unsere Wirtschaft zurück.
Zweitens gibt es einige Bereiche, die auch strukturell ein Problem haben, beispielsweise die Automobilindustrie. Da haben wir gelebt und da sind wir auch technologisch führend, weil wir Premiumfahrzeuge haben. Bis die Wirtschaft wieder so läuft, dass Premiumfahrzeuge einer speziellen Klientel wieder zugänglich gemacht werden könnten, dauert es eben.
Deutschlandradio Kultur: Aber eine Pleitewelle fürchten Sie nicht und damit ja auch, dass vielleicht die Innovativen, von denen Sie eben gesprochen haben, gar nicht mehr da sind, wenn die Krise vorbei ist?
Michael Vassiliadis: Ja, das ist es, was ich ein bisschen meine. Es wird natürlich zu Bereinigungen kommen. Und die, die nicht innovativ sind, wird es auf jeden Fall treffen, außer sie werden subventioniert. Die Tiefe der Krise ist allerdings nicht normal, sodass ich durchaus die Sorge habe, wenn man nicht aufpasst, kann das Unternehmen und Namen erreichen, an die wir bisher nicht gedacht haben. Und da kann es manchmal an Finanzierungsproblemen liegen. Manchmal liegt es an der fehlenden Pipeline technologisch und manchmal vielleicht an Umständen, die an speziellen Märkten entstehen. Wir müssen in der Wirtschaftspolitik jetzt darauf achten, dass wir das globale Thema im Auge behalten und dass wir in einer investiven Sicht eben auch Technologieführerschaft, Leitprojekte von Zukunftstechnologien wirklich auch gemeinsam fördern und voranbringen. Das ist die einzige Chance, wirklich dieses Gewinnen aus der Krise auch in Realität umzusetzen.
Deutschlandradio Kultur: Deshalb gibt es ja von Ihnen auch den Begriff der "nachhaltigen Industriepolitik". Sie sagen, die Unterstützung müsse stärker von der Politik auch kommen. Was meinen Sie eigentlich damit?
Michael Vassiliadis: Es gibt nicht mehr ein gemeinsames Verständnis von den treibenden Kräften des Fortschritts. Da, wo das besonders sichtbar wird, ist in der Frage: Haben wir in dieser Gesellschaft eigentlich noch eine gemeinsame Vorstellung von guter Technologie, von Führerschaft in der Technologie und von Märkten der Zukunft? Wenn ich sage "nachhaltige Industriepolitik", dann meine ich, dass natürlich die Entscheidung darüber, welche dieser Technologien und Produkte zukunftsgängig ist, nicht alleine der Markt beantworten kann. Da gibt es auch Fehlsteuerungen. Sondern es gehört dazu, das gibt es auch in anderen Ländern, eine gemeinsame industriepolitische Vorstellung in einem Land, eine strategische Positionierung. Ein bisschen so etwas machen wir im Bereich der neuen Technologien für Ökologie und Energie. Aber das sind ja nur Tropfen auf den heißen Stein. In unserer Gesellschaft gibt es – glaube ich – eine solche Vorstellung von dem, was Leitlinien einer nachhaltigen zukunftsträchtigen Wirtschaftspolitik sind, nicht.
Deutschlandradio Kultur: Das klingt ja sehr gut, aber wenn ich mir die Themen, die Sie meinen könnten, aussuche, grüne Agrartechnik oder grüne Gentechnologie oder Atomenergie oder aber deutsche Kohle, das sind ja umstrittene Technologien, wo die öffentliche Meinung auch sagt, eigentlich brauchen wir die nicht oder nicht so, wie sie derzeit gefördert werden. Und Sie sagen als Gewerkschaft: Doch, wir brauchen sie.
Michael Vassiliadis: Ich finde dieses Urteil auch salopp, weil ich weiß nicht, auf welcher Grundlage ein solches finales Urteil zu fällen wäre. Ich sehe schon die Probleme und akzeptiere auch die Probleme, die beispielsweise der Klimaschutz und die Verstromung von Kohle mit sich bringen. Da bin ich aber der Meinung, dass wir uns auf den Weg machen sollten, die Kräfte, insbesondere die Innovativen Kräfte, die wir in Deutschland haben, zu nutzen, um die Probleme zu lösen und nicht die Technologie zu beenden. Es geht mir darum, dass es eine Illusion ist, dass man per Beschluss und per Gesinnung aus einer Technologie, die langfristig aufgestellt ist, für die wir uns vor einigen Jahrzehnten entschieden haben, aussteigen kann, und dass wir damit in ganz gefährliche Situationen kommen. Wir müssen von A nach B kommen. Dazu braucht man Zeit. Da braucht man Engagement, da braucht man Intelligenz. Die haben wir, aber wir brauchen eben auch eine gemeinsame Akzeptanz dessen, dass wir noch eine Zeit dafür brauchen.
Deutschlandradio Kultur: Sie sagen, wir brauchen dann also länger Atomkraftwerke, wir brauchen länger Kohlekraftwerke und wir brauchen nicht die ökologische Modernisierung mit voller Kraft, wie sie die Grünen fordern, teilweise auch die SPD?
Michael Vassiliadis: Meine Kritik lautet nicht "volle Kraft in andere Energieerzeugungsformen", gerne auch das, auch Subvention, aber es kann nur in einem Mix sein, der realistisch und sicher und auch die Energiepreise beachtend ist, die werden ja häufig ignoriert, um den Weg von A nach B zu gehen.
Deutschlandradio Kultur: Nun muss man ja nicht unbedingt etwas gegen die Kohle haben. Man muss auch nicht unbedingt etwas gegen Atomenergie haben. Aber ist nicht das Problem, dass beide Bereiche – zum Beispiel in der Energiewirtschaft – mental das Thema Energieeffizienz blockieren. Das heißt also, dass die alte Industrie so mächtig ist, dass sie das Neue eigentlich nicht so richtig hochkommen lässt, auch nicht mit ihrem vielen Geld, das sie investieren kann und mit dem sie eigentlich auch sperren kann.
Michael Vassiliadis: Weder ich noch die IGBCE wollten so eine Schwarz-Weiß-Positionierung von guter neuer Technologie und alter schlechter. Die Energieeffizienz von Kohleverstromung ist nicht schlecht. Die Energieeffizienz mancher noch nicht zu Ende ausgereifter Technologien, die wir als grüne Energie erzeugen, ist katastrophal. Ich glaube, wir müssen ertragen, einen Mix auch für die Zukunft zu brauchen, der nicht alle Zielkonflikte auf einmal löst. Wir sind überzeugt, dass, wenn man sich tendenziell beispielsweise einer weiteren Effizienzsteigerung bei Kohlekraftwerken verschließt, indem man sagt, die bauen wir jetzt nicht, dass wir dann in eine Sackgasse laufen.
Es gibt eine Technologie CCS, die die CO2-Problematik der Kohleverstromung lösen will. Die ist noch nicht überzeugend. Sie ist auch noch nicht fertig. Das sind aber andere Technologien auch nicht. Dass das jetzt zur Blockade wird, also dass wir das nicht tun, ist ja beschlossen worden, dass wir diesen Weg im Moment nicht gehen, halte ich für fatal.
Deutschlandradio Kultur: Vorübergehend.
Michael Vassiliadis: Vorübergehend, ja gut, aber immerhin. Mein Ansatz wäre: Lasst uns für einen Zeitraum, den wir absehen können, die Kohleverstromung erstens weiter verfolgen, die Effizienz steigern. Lasst uns überlegen und daran arbeiten, wie wir das CO2-Problem dieses Energieträgers lösen. Weil das ist einer, den wir hier haben. Wenn es uns gelingt, ist es Klasse, wenn nicht, haben wir ein Problem. Und lasst uns gleichzeitig unsere Engineeringkapazität gerne auch für neue regenerative Energien nutzen. Dagegen hat niemand was. Aber das wird fast religiös mittlerweile.
Deutschlandradio Kultur: Als Gewerkschafter geht es Ihnen ja sicher auch um die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Man kann sagen, wir machen das in dem Kohlebereich oder so, wie die Grünen und auch teilweise Herr Gabriel es fordern, dass sie sagen, verstärkt in die erneuerbaren Energien, das sind die Märkte der Zukunft, das sind die künftigen Arbeitsplätze. Die sind langfristig sicher.
Also, da muss man sich doch auch für eine Richtung entscheiden, wo man den Schwerpunkt hinlegen möchte.
Michael Vassiliadis: Ich glaube, dass es beides geben wird. Es kann sein, dass wir auf diesen Technologiezweig in Deutschland verzichten, weil wir das politisch entscheiden. Dann werden da auch Arbeitsplätze wegfallen. Und wir werden in dem Segment regenerativer Energien sicherlich eine Menge machen. Aber ich prophezeie, dass wir dann Grundlaststrom von woanders herholen. Und wir werden eben an der Frage weiterarbeiten müssen: Können wir den Energieträger Kohle – auch deshalb, weil er weltweit verwandt wird – technologisch optimieren? Wir haben dazu die Kompetenz. Und ich weiß nicht, warum wir daraus aussteigen sollten. Das hat jetzt niemand so konkret gefordert, aber tendenziell wäre das der Fall.
Deutschlandradio Kultur: Nun ist in dieser Wirtschaftskrise sehr viel über den Mittelstand, also über die kleinen Unternehmen gesprochen worden. Auch in dem industriepolitischen Konzept, das Sie gemeinsam mit der IG Metall angemahnt haben, IG Bergbau Energie und Chemie zusammen mit der IG Metall, steht ja etwas von der Wertschöpfungskette drin. Was befürchten Sie, dass dieser Mittelstand eben in der Krise, wie wir eben schon angesprochen haben, stirbt?
Michael Vassiliadis: Zumindest gibt es große Gefahren, weil diese Wertschöpfungsketten, die ganz früher mal - in der Nachkriegszeit waren das häufig riesige Unternehmen, in denen diese Wertschöpfungsintegration im Unternehmen stattgefunden hat, in den letzten Jahrzehnten eben zu einem Netzwerk geworden sind, teilweise sogar weltweit, aber vor allen Dingen eben auch hier in Deutschland. Und wenn da einzelne Zähne rausbrechen, ist es wie beim Uhrwerk. Dann steht die Uhr.
In diesem mittelständischen Bereich ist unheimlich viel Kompetenz, aber auch unheimlich hohe Beschäftigungsintensität. Deshalb haben wir uns mit der IG Metall auf den Weg gemacht, das, was wir dort kennen und wissen, zunächst einmal noch mal zu analysieren und die Empfindlichkeiten – beispielsweise Bankenkredite, Finanzierung, aber auch das Verhalten der End-User, beispielsweise der Automobilindustrie mit Blick auf diese Vorlieferketten – zu diskutieren und auch zu problematisieren. Hier und da ist es sogar gelungen, den Druck, der beispielsweise von den Automobilproduzenten in die Zulieferkette erzeugt wird, nicht dazu führen zu lassen, dass es Insolvenzen oder Konkurse gibt, sondern dass man darüber einfach noch mal konzeptioneller geredet hat und da auch wieder Vernunft hineingebracht hat.
Deutschlandradio Kultur: Herr Vassiliadis, die IG BCE ist bekannt dafür, dass sie relativ kooperativ mit den Arbeitgebern zusammengearbeitet hat in den letzten Jahren. Jetzt kandidieren Sie im Herbst für den Vorsitz dieser drittgrößten Gewerkschaft. Wie wird man sich das in Zukunft angesichts dieser doch krisenhaften Situation, die wir haben, vorstellen müssen, auch wenn wir möglicherweise schon einiges geschafft haben? Wird der Kurs im Umgang in der Tarifpolitik und in anderen Bereichen möglicherweise unter Ihrer Führung härter werden?
Michael Vassiliadis: Das ist keine Dimension einer neuen Führungspersönlichkeit, sondern unser Konzept ist erfolgreich, weil es funktioniert hat und weil es erfolgreich war. Es besteht ja vor allen Dingen darin, dass wir mit den Arbeitgebern versuchen, die verschiedenen Interessen, die Unternehmen und Beschäftigte, Gesellschaft und Umwelt eben auch haben, zu diskutieren und in Einklang zu bringen. Das geht nicht immer. Es gibt Zielkonflikte. Es gibt auch Auseinandersetzungen. Aber der Stil darin ist nicht, dass man sich gegenseitig mit Notenaustausch versieht und mit Kampfdrohungen, sondern mit Problemlösungsmotivation.
Das hält jetzt auch in der Krise bislang. Ich sehe da auch ganz wichtige Bestandteile, die uns eben auch helfen, dass es hier nicht zu Fehlentwicklungen kommt. Das heißt, es ist nicht eine Frage von Kurs, den der neue Vorsitzende vorgibt, sondern es ist eine Frage, ob die Realität in den Unternehmen weiterhin die Grundlage bietet, einen solchen Kurs auch zu begründen.
Deutschlandradio Kultur: Bei niedriger Inflation oder gar keiner, bei geringer Wertschöpfung im Moment fangen schon die Arbeitgeberverbände an, zu sagen: Lohnverzicht wäre das Gebot der Stunde im nächsten Jahr. Da müssen Sie sich ja dazu verhalten.
Michael Vassiliadis: Das ist ja das, was ich mit "Notenaustausch" meine. Da gibt es Gewerkschaften und da gibt es auch Arbeitgeberverbände, die diesen Stil weiter haben müssen oder haben – das kann ich nicht beurteilen, will ich auch nicht. Aus unseren Branchen haben Sie das noch nicht gehört, sondern wir werden uns dieser Situation stellen. Und wenn das so ist, wie Sie sagen, dass wir eine schwierige wirtschaftliche Entwicklung haben, dass wir Unternehmen haben, die rote Zahlen schreiben, dann hat das in der Vergangenheit die Tarifpolitik beeinflusst und das wird auch in der Zukunft so sein. Es gibt eine Korrelation von wirtschaftlicher Situation und Entwicklung und natürlich auch solchen Elementen.
Deutschlandradio Kultur: Aber dann ist doch die Frage des Lohnverzichts wieder aktuell, selbst wenn Sie dementiert haben. Denn Beschäftigungsgarantien und Sicherheiten bekam man auch in der Vergangenheit nur, indem man was dafür bezahlt hat.
Michael Vassiliadis: Sehen Sie, wir haben in vielen Unternehmen im Moment Kurzarbeit. Das ist so was wie Lohnverzicht. Aber warum man daraus eine programmatische Debatte machen muss? Es ist ja immer das Gleiche, dass man jetzt sozusagen die Tarifsystematik herbeizieht und sagt: Wenn man da jetzt in nennenswertem Umfang eingreifen würde, dann würde das also beschäftigungssicher. Ich sage nicht, dass das keine Korrelation hat, aber es ist eigentlich ein bisschen der alte Kram.
Und wenn man mal überlegt, dass wir zum Teil in durchrationalisierten Produktionen Lohnkostenanteile zwischen 6 und 15 Prozent haben und wenn dann die Beschäftigten auf 10, 15 Prozent verzichten, viel mehr geht bei vielen sowieso nicht, dann haben Sie gar nicht die Wirkungen. Beim Energiepreis, wenn da die Schraube einmal nach links oder rechts geht, dann schlägt das um andere Dimensionen durch. Das heißt, sich ein bisschen auch die Sache anzuschauen. Da will ich nicht ausschließen, dass wir hier und dort zu Flexibilitäten kommen müssen – das haben wir vorgesehen. Aber ich bin ein bisschen müde, mir die Uraltdiskussion der 70er immer wieder vorlegen zu lassen.
Deutschlandradio Kultur: Eine neue Diskussion ist, Franz Müntefering hat sie mit angestoßen, die Rente mit 67, also länger arbeiten in Anbetracht dessen, dass die Menschen auch länger leben. Rente mit 67 könnte doch ein Thema sein, das die Gewerkschaften auch unterstützen. Sie finden es aber nicht so gut.
Michael Vassiliadis: Rente mit 67 ist ja ein Label für eine gewisse politische Diskussion, eine politische Initiative. Und drum herum gibt es ein ernsthaftes reales und großes Thema. Das ist die demografische Entwicklung. Das ist die Frage, wie wir die Sozialsysteme insgesamt den neuen Zeiten, den gesellschaftlichen Realitäten entsprechend aufstellen, wie wir Wettbewerbsfähigkeit im Blick behalten. Das ist ja das große Thema.
Ich halte es für einen Fehler es zu verjüngen auf die Frage: Arbeiten Arbeitnehmer zwei Jahre länger oder nicht? Ja, wir sehen, dass die Menschen länger leben. Und ja, man könnte trivial den Rückschluss ziehen, man könnte doch auch ein paar Jahre länger arbeiten. Das können Sie dann, wenn das System, das Arbeit zur Verfügung stellt, auch kompatibel gemacht wird. Es kann nicht bei dem Einzelnen liegen, sich jetzt sozusagen einem System, das davon ausgeht, dass man jung, leistungsfähig rund um die Uhr mit extremer Motivation unterwegs ist – so ist das ganze System in Industrie und Wirtschaft in der Regel aufgebaut – dass man eben an einer Schraube dreht und sagt, so, dann wollen wir das mal zwei Jahre verlängern.
Deutschlandradio Kultur: Aber gerade darum würde ich sagen, der DGB hat den falschen Weg eingeschlagen, indem er gegen die Rente mit 67 opponiert, sondern er hätte umgekehrt sagen müssen: Jeden Morgen rufen wir bei den Arbeitgebern an und fragen: Was habt ihr dafür getan, dass alte Menschen länger arbeiten können? Dann würden sie die Arbeitgeber unter Druck setzen. So machen sie eigentlich mit bei der Politik der olympiareifen Mannschaft.
Michael Vassiliadis: Die IG BCE hat ja damals schon in der Agenda-Auseinandersetzung u.a. diesen Punkt kritisiert. Es darf nicht rüberkommen, dass die Menschen nicht länger arbeiten wollen, weil sie keine Motivation haben oder weil sie an der Stelle sich des Sozialstaats bedienen wollen. Sondern die Frage ist: Gibt es überhaupt diese Arbeitsplätze? Das ist der erste Punkt. Und zweitens: Gibt es diese Arbeit? Und wenn es die nicht gibt, dann ist das am Ende stillschweigende Akzeptanz von Rentenkürzung, weil man sie einfach früher in Rente schickt und dann Kürzungen vornimmt. Das war unsere Kritik.
Deswegen haben wir genau das getan. Wir haben unseren Arbeitgebern gesagt: So, wir wollen jetzt über alterns- und altersgerechte Arbeit reden. Wir wollen über die Arbeitsplätze reden. Wir wollen uns auf den Weg machen, das zu gestalten. Und wenn wir das fertig gestaltet haben, dann können wir auch darüber reden, ob denn und wann denn und wie denn die Altersgrenze wirklich real vorhanden ist. Wir haben eine Diskrepanz von fünf Jahren zwischen Realität und wirklicher formaler Verrentung. Wir haben dazu einen Tarifvertrag gemacht.
Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie sagen, Sie wollen mit den Arbeitgebern über altersgerechte Arbeit reden, wo ist denn der Stand der Dinge momentan? Wie sieht es konkret aus?
Michael Vassiliadis: Wir haben im vergangenen Jahr einen Tarifvertrag gemacht, den sogenannten Demografie-Tarifvertrag, der ein längerfristiger Tarifvertrag ist, weil man Demografie nicht in einer Runde abarbeiten kann. In diesem Jahr wird in jedem Unternehmen der chemischen Industrie eine sogenannte Demografieanalyse angefertigt. Das heißt, wir schauen uns gemeinsam die Betriebsparteien intensiv an, und zwar in mehreren Dimensionen. Wen haben wir da eigentlich vor uns? Wie alt sind sie? Männlein, Weiblein, Qualifikationen und so weiter? Und dann gibt es einen Maßnahmenkatalog. Den kann man vielleicht auch zukünftig erweitern. Jedenfalls haben wir erst mal einen, der unter anderem auch die Gestaltung altersgerechter Arbeit beinhaltet, Weiterbildung, verschiedene Aspekte. Und da wird dann auch Geld hineingetan, und zwar in einen betrieblichen Topf, wo auch die Betriebsparteien flexibel die spezifischen Fragen des jeweiligen Betriebes angehen und nicht irgendwo so eine Gleichmacherei ist.
Wir hoffen und wir glauben, dass wir damit genau das bewegen können, nämlich ein wirkliches Nachdenken nicht nur über technokratische Lösungen, sondern über das Wahrnehmen vor allem der industriellen Logik, dass man ältere Arbeitnehmer auch in den Prozessen denken muss. Es ist nicht eine Frage allein von Technik – Helm auf und Beleuchtung. Das ist auch ein Thema. Sondern Sie müssen sozusagen die Logik von Arbeit auf die Frage abstimmen: Können denn die Menschen diesen Takt bis zum Ende wirklich durchhalten? Das ist ein großer, übrigens auch gewerkschaftlicher Gestaltungsauftrag, wo wir eine Menge zu tun haben werden.
Deutschlandradio Kultur: Nehmen wir mal das Beispiel der Bergleute, nämlich das Beispiel derer, die den Vorruhestand in der Bundesrepublik mit eingeführt haben. Wenn einer aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten kann im Bergbau, ist ja die klassische Frage, mit 50 oder 52, kriegt der noch eine Chance über Tage?
Michael Vassiliadis: Das ist immer der Versuch, dass man leistungsgeminderte oder vielleicht sogar kranke Arbeitnehmer, die eben nicht vollständig aus dem Arbeitsleben ausscheiden, sondern auf sogenannten Schonarbeitsplätzen, auf Arbeitsplätzen, die eben nicht mehr diese körperlichen Stressanforderungen haben, beschäftigt. Das ist ein Klassiker. Das gibt es auch heute noch, aber nicht mehr in dem Umfang. Das heißt, die Rationalisierung hat natürlich auch diese Lösungsoption - man nimmt den Menschen und bringt ihn zu einer anderen Arbeit – weitgehend weg rationalisiert. Bergbau ist ein sehr extremes Beispiel, weil es natürlich wirklich körperliche Arbeitslasten gibt. Da gibt es Grenzen dessen, was man gestalten kann. Da kann man eine Menge Erleichterungen machen, aber es bleibt ein Job, der hart ist. Aber in den klassischen Produktionsprozessen, die wir beispielsweise in der Chemie kennen, haben wir diese körperlichen Anteile weitestgehend reduziert. Da sind andere Faktoren - Stress, Arbeitszeiten, Kompatibilitäten von Maschine und Mensch – gefordert. Und da muss man investieren. Das meine ich auch so. Das geht nicht von alleine mit ein bisschen besserem Management. Da wird sicherlich Veränderung notwendig sein.
Viele Unternehmen sind geeicht auf Selektion, sowohl bei der Einstellung als auch im Prozess. Das verändert sich gerade. Das ist auch ein Lernprozess, sich eben zu bemühen, förderlich zu sein, zu investieren, das ist etwas, was für die Unternehmen neu ist. Es passiert aber. Im Moment ist es noch so, dass erst mal das Ziel formuliert wird, dass man die Älteren halten will. Man hofft hier und dort, dass das nicht viel kostet. Das glaube ich nicht, sondern man wird eine Menge verändern müssen. Das wird noch ein bisschen was dauern. Ohne das wird es nicht gehen.
Deutschlandradio Kultur: Warum hinken Sie da so hinterher? Seit Jahren haben wir diese Problematik, dass sehr viele Menschen früher aussteigen, dass wir überhaupt diese lebenslange Arbeitswelt nicht mit lebenslangem Lernen verbinden. Jetzt stellen Sie Modelle vor. Die hätte man doch schon vor 20 Jahren auf den Tisch legen können.
Michael Vassiliadis: Die gibt es seit 20 Jahren, da haben Sie recht.
Deutschlandradio Kultur: Aber wer bremst?
Michael Vassiliadis: Und es gibt kein Erkenntnisproblem, sondern es hat etwas damit zu tun, wie auch unternehmerisches Regime und Konzept ist, und Gesellschaftliches. Nehmen wir mal die Kritik am Vorruhestand, der ja jetzt auch massiv als ein öffentlich gefördertes Personalabbaukonzept kritisiert wird. Das ist auch nicht ganz unberechtigt. Aber als er entstanden ist – das ist auch durchaus etwas, was andere Entwicklungen verzögert hat – Mitte der 80er-Jahre, war diese Gesellschaft noch davon überzeugt, dass das Massenarbeitslosigkeitsproblem ein Phänomen ist. Mittlerweile ist, glaube ich, klar, dass – wenn wir es lösen wollen – wir eine Menge Veränderung und Investition brauchen. Das war damals noch anders. Also hat man den Blickwinkel auf die vorhandenen Belastungen Älterer genommen und hat gesagt, wir schicken Sie früher und holen – das war immer unser Ansatz – Jüngere rein, Ausbildungsplatzproblem der 80er. Also, es war eine Reflexion auf konkrete wirtschaftliche und gesellschaftliche Situationen dort.
Manchmal ist es aber so, dass die Reflexion auf neue Anforderungen ein bisschen was dauert. Und noch mal: Wir stellen uns der Frage demografischer Entwicklung, von mir aus auch mit dem Vorwurf, dass insgesamt die Politik und die Akteure es zu spät tun. Aber es geht trotzdem nicht per Schalter. "Basta" geht nicht bei der Frage, schalten wir jetzt um von Vorruhestand auf Verlängerung der Regelrente. Das ist etwas einfach. Wir sind immer in der Situation es in der Realität machen zu müssen. Da gehören wir hin, da, wo die Arbeit stattfindet und wo die Menschen sind. Deswegen brauchen wir dafür Übergangsmodelle.
Deutschlandradio Kultur: Sie sind Arbeiterkind, wurden ausgebildet zum Chemielaboranten bei Bayer und nun auf dem Weg zum Gewerkschaftsführer. Im Oktober wollen Sie gewählt werden. Ist so eine Karriere heute noch für ein Arbeiterkind möglich?
Michael Vassiliadis: Offensichtlich. Es ist so, dass ich natürlich eine Entwicklung gemacht habe, die für einen Gewerkschafter früher klassisch war und eher die Normalität. Heute ist es eher ungewöhnlich. Ich fühle mich ganz gut gewappnet.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt können Sie ja sagen, ich bin ein Arbeiterkind und Punkt! Aber Sie sagen, Sie sind im "Grunddesign ein Arbeiterkind". Sind Sie jetzt ein Arbeiterkind oder sind Sie keines?
Michael Vassiliadis: Ich bin eins, aber ich habe die Chance bekommen in der weiteren Entwicklung, eine ganze Menge Realitäten, natürlich auch Ausbildungen kennenzulernen. Die sind nicht typisch für ein Arbeiterkind. Ich habe eine Managementausbildung. Ich bin international sehr viel unterwegs gewesen. Ich konnte mich sehr früh in sehr komplexen Prozessen und Projekten auch in Führungspositionen bewähren. Die Chance haben Sie üblicherweise nicht als Arbeiterkind. Deswegen sage ich "Grunddesign". Ich habe eine Menge Chancen bekommen, für die ich auch dankbar bin. Und deswegen habe ich natürlich in den letzten 25 Jahren eine Menge mehr gesehen als ein klassisches Arbeiterkind.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem hält man ja einen Moment inne an ihrer Biografie, wenn man PISA-Studien liest, und erfährt: Ein junger Mann mit Migrationshintergrund aus einer Arbeiterfamilie, ja so einer darf eigentlich gar keinen Erfolg haben. So einer hat bei uns gar keine Chance, heißt es in den PISA-Studien.
Michael Vassiliadis: So irrsinnig viele finden Sie auch nicht. Aber es ist auch so, dass es in dieser Klientel Arbeiterkind, ich lasse mal Migration einen kleinen Moment noch außer Acht, natürlich auch viel Motivation und Leistungsehrgeiz gibt. Ich will das gar nicht systematisieren. Man darf es trotzdem nicht typisieren. Es ist eher ungewöhnlich.
Deutschlandradio Kultur: Da gibt es noch einen Begriff, der uns etwas stutzig gemacht oder überrascht hat. Sie bezeichnen sich auch noch als "wertorientierten Pragmatiker". Hat das auch was mit dieser "Arbeiterbiografie" – in Anführungszeichen – zu tun, dass dort Werte hochgehalten wurden, die zum Pragmatismus führen?
Michael Vassiliadis: Das glaube ich schon. Ich hatte mir selbst – und hatte eine große Motivation – natürlich auch die großen sowohl Theorien, aber eben auch die großen historischen und politischen Gegebenheiten sozusagen zu erarbeiten. Dabei habe ich mich schon verortet und habe dieses Koordinatensystem der Werte auch wirklich – ich würde mal sagen – "modernisiert" immer wieder, aber im Kopf. Und auf der anderen Seite sind Arbeiter und Gewerkschaften immer Pragmatiker. Ich sage das immer gerne: Wenn man in die Gewerkschaftsgeschichte guckt, gibt es ganz viele hohe Ansprüche und es gibt die praktische Politik das Beste draus zu machen, was geht. Ich glaube, wenn man sich nur auf den Pragmatismus konzentriert, ist man so eine technokratische Abarbeitungsmaschine von Realität. Und wenn man sich in einem Wertekontext verliert, dann wird es warm und romantisch. Das nutzt aber unserer Klientel auch nicht täglich was.
Deutschlandradio Kultur: Herr Vassiliadis, herzlichen Dank für das Gespräch.
Michael Vassiliadis: Vielen Dank.
Michael Vassiliadis: Zunächst einmal ist es gelungen, und das ist schon mal eine Nachricht und für einige auch eine Überraschung, dass im Zusammenwirken von Staat und auch Gewerkschaften, Unternehmen es gelungen ist, die schlimmsten Auswirkungen dieser Wirtschaftskrise und Rezession abzumildern. Es ist so, dass es jetzt einige Anzeichen gibt, dass es wieder in der Produktion und auch im Vertrieb bessere Zahlen gibt. Wir haben abzuwarten, ob das eine sogenannte "Sägezahnentwicklung" ist, also die Läger und diejenigen, die bestellen, sich wieder auffüllen auf das notwendige Maß, oder ob es wirklich die Talsohle ist. Ich bin da noch sehr vorsichtig.
Deutschlandradio Kultur: Teilen Sie denn den Optimismus, den Experten zu pflegen versuchen, dass die deutsche Wirtschaft gestärkt aus der Krise hervorgeht?
Michael Vassiliadis: Das kann sie. Dazu ist aber einiges erforderlich. Es ist nicht einfach wieder ein Anlaufen, in dem man dann schnell genug mitlaufen sollte und dann vorne ist, sondern es gibt einige Stärken der deutschen Wirtschaft, insbesondere ihre Innovationsfähigkeit und auch ihre Fähigkeit, moderne, neue, zukunftsträchtige Produkte zu platzieren, aber es gibt einige Strukturthemen jetzt zu bewältigen. Aber wir haben das Zeug dazu. Es ist allerdings notwendig, dass Politik und die Unternehmen nicht einfach nur weitermachen.
Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie sagen, Sie wären noch etwas vorsichtig, was die Entwicklung betrifft, wo sehen Sie denn die Gefahren?
Michael Vassiliadis: Es gibt eine spezifische Situation der deutschen Wirtschaft, insbesondere der deutschen Industrie, die uns in den letzten Jahren gefallen hat. Das ist die Exportabhängigkeit, die natürlich jetzt auch zum Problem wird. Da gibt es natürlich Volkswirtschaften, die in der Vergangenheit schon großen Nachholbedarf und große Dynamik hatten. Die sind auch jetzt noch da, allerdings nicht in derselben Dynamik, wie vor einigen Jahren. Da gibt es jetzt im Moment ein bisschen Normalisierung, aber wenn es an den Weltfinanzmärkten, an den Welthandelsmärkten zu Verzerrungen kommen wird – noch ist das nicht wieder im alten Lot -, dann schlägt das unmittelbar in unsere Wirtschaft zurück.
Zweitens gibt es einige Bereiche, die auch strukturell ein Problem haben, beispielsweise die Automobilindustrie. Da haben wir gelebt und da sind wir auch technologisch führend, weil wir Premiumfahrzeuge haben. Bis die Wirtschaft wieder so läuft, dass Premiumfahrzeuge einer speziellen Klientel wieder zugänglich gemacht werden könnten, dauert es eben.
Deutschlandradio Kultur: Aber eine Pleitewelle fürchten Sie nicht und damit ja auch, dass vielleicht die Innovativen, von denen Sie eben gesprochen haben, gar nicht mehr da sind, wenn die Krise vorbei ist?
Michael Vassiliadis: Ja, das ist es, was ich ein bisschen meine. Es wird natürlich zu Bereinigungen kommen. Und die, die nicht innovativ sind, wird es auf jeden Fall treffen, außer sie werden subventioniert. Die Tiefe der Krise ist allerdings nicht normal, sodass ich durchaus die Sorge habe, wenn man nicht aufpasst, kann das Unternehmen und Namen erreichen, an die wir bisher nicht gedacht haben. Und da kann es manchmal an Finanzierungsproblemen liegen. Manchmal liegt es an der fehlenden Pipeline technologisch und manchmal vielleicht an Umständen, die an speziellen Märkten entstehen. Wir müssen in der Wirtschaftspolitik jetzt darauf achten, dass wir das globale Thema im Auge behalten und dass wir in einer investiven Sicht eben auch Technologieführerschaft, Leitprojekte von Zukunftstechnologien wirklich auch gemeinsam fördern und voranbringen. Das ist die einzige Chance, wirklich dieses Gewinnen aus der Krise auch in Realität umzusetzen.
Deutschlandradio Kultur: Deshalb gibt es ja von Ihnen auch den Begriff der "nachhaltigen Industriepolitik". Sie sagen, die Unterstützung müsse stärker von der Politik auch kommen. Was meinen Sie eigentlich damit?
Michael Vassiliadis: Es gibt nicht mehr ein gemeinsames Verständnis von den treibenden Kräften des Fortschritts. Da, wo das besonders sichtbar wird, ist in der Frage: Haben wir in dieser Gesellschaft eigentlich noch eine gemeinsame Vorstellung von guter Technologie, von Führerschaft in der Technologie und von Märkten der Zukunft? Wenn ich sage "nachhaltige Industriepolitik", dann meine ich, dass natürlich die Entscheidung darüber, welche dieser Technologien und Produkte zukunftsgängig ist, nicht alleine der Markt beantworten kann. Da gibt es auch Fehlsteuerungen. Sondern es gehört dazu, das gibt es auch in anderen Ländern, eine gemeinsame industriepolitische Vorstellung in einem Land, eine strategische Positionierung. Ein bisschen so etwas machen wir im Bereich der neuen Technologien für Ökologie und Energie. Aber das sind ja nur Tropfen auf den heißen Stein. In unserer Gesellschaft gibt es – glaube ich – eine solche Vorstellung von dem, was Leitlinien einer nachhaltigen zukunftsträchtigen Wirtschaftspolitik sind, nicht.
Deutschlandradio Kultur: Das klingt ja sehr gut, aber wenn ich mir die Themen, die Sie meinen könnten, aussuche, grüne Agrartechnik oder grüne Gentechnologie oder Atomenergie oder aber deutsche Kohle, das sind ja umstrittene Technologien, wo die öffentliche Meinung auch sagt, eigentlich brauchen wir die nicht oder nicht so, wie sie derzeit gefördert werden. Und Sie sagen als Gewerkschaft: Doch, wir brauchen sie.
Michael Vassiliadis: Ich finde dieses Urteil auch salopp, weil ich weiß nicht, auf welcher Grundlage ein solches finales Urteil zu fällen wäre. Ich sehe schon die Probleme und akzeptiere auch die Probleme, die beispielsweise der Klimaschutz und die Verstromung von Kohle mit sich bringen. Da bin ich aber der Meinung, dass wir uns auf den Weg machen sollten, die Kräfte, insbesondere die Innovativen Kräfte, die wir in Deutschland haben, zu nutzen, um die Probleme zu lösen und nicht die Technologie zu beenden. Es geht mir darum, dass es eine Illusion ist, dass man per Beschluss und per Gesinnung aus einer Technologie, die langfristig aufgestellt ist, für die wir uns vor einigen Jahrzehnten entschieden haben, aussteigen kann, und dass wir damit in ganz gefährliche Situationen kommen. Wir müssen von A nach B kommen. Dazu braucht man Zeit. Da braucht man Engagement, da braucht man Intelligenz. Die haben wir, aber wir brauchen eben auch eine gemeinsame Akzeptanz dessen, dass wir noch eine Zeit dafür brauchen.
Deutschlandradio Kultur: Sie sagen, wir brauchen dann also länger Atomkraftwerke, wir brauchen länger Kohlekraftwerke und wir brauchen nicht die ökologische Modernisierung mit voller Kraft, wie sie die Grünen fordern, teilweise auch die SPD?
Michael Vassiliadis: Meine Kritik lautet nicht "volle Kraft in andere Energieerzeugungsformen", gerne auch das, auch Subvention, aber es kann nur in einem Mix sein, der realistisch und sicher und auch die Energiepreise beachtend ist, die werden ja häufig ignoriert, um den Weg von A nach B zu gehen.
Deutschlandradio Kultur: Nun muss man ja nicht unbedingt etwas gegen die Kohle haben. Man muss auch nicht unbedingt etwas gegen Atomenergie haben. Aber ist nicht das Problem, dass beide Bereiche – zum Beispiel in der Energiewirtschaft – mental das Thema Energieeffizienz blockieren. Das heißt also, dass die alte Industrie so mächtig ist, dass sie das Neue eigentlich nicht so richtig hochkommen lässt, auch nicht mit ihrem vielen Geld, das sie investieren kann und mit dem sie eigentlich auch sperren kann.
Michael Vassiliadis: Weder ich noch die IGBCE wollten so eine Schwarz-Weiß-Positionierung von guter neuer Technologie und alter schlechter. Die Energieeffizienz von Kohleverstromung ist nicht schlecht. Die Energieeffizienz mancher noch nicht zu Ende ausgereifter Technologien, die wir als grüne Energie erzeugen, ist katastrophal. Ich glaube, wir müssen ertragen, einen Mix auch für die Zukunft zu brauchen, der nicht alle Zielkonflikte auf einmal löst. Wir sind überzeugt, dass, wenn man sich tendenziell beispielsweise einer weiteren Effizienzsteigerung bei Kohlekraftwerken verschließt, indem man sagt, die bauen wir jetzt nicht, dass wir dann in eine Sackgasse laufen.
Es gibt eine Technologie CCS, die die CO2-Problematik der Kohleverstromung lösen will. Die ist noch nicht überzeugend. Sie ist auch noch nicht fertig. Das sind aber andere Technologien auch nicht. Dass das jetzt zur Blockade wird, also dass wir das nicht tun, ist ja beschlossen worden, dass wir diesen Weg im Moment nicht gehen, halte ich für fatal.
Deutschlandradio Kultur: Vorübergehend.
Michael Vassiliadis: Vorübergehend, ja gut, aber immerhin. Mein Ansatz wäre: Lasst uns für einen Zeitraum, den wir absehen können, die Kohleverstromung erstens weiter verfolgen, die Effizienz steigern. Lasst uns überlegen und daran arbeiten, wie wir das CO2-Problem dieses Energieträgers lösen. Weil das ist einer, den wir hier haben. Wenn es uns gelingt, ist es Klasse, wenn nicht, haben wir ein Problem. Und lasst uns gleichzeitig unsere Engineeringkapazität gerne auch für neue regenerative Energien nutzen. Dagegen hat niemand was. Aber das wird fast religiös mittlerweile.
Deutschlandradio Kultur: Als Gewerkschafter geht es Ihnen ja sicher auch um die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Man kann sagen, wir machen das in dem Kohlebereich oder so, wie die Grünen und auch teilweise Herr Gabriel es fordern, dass sie sagen, verstärkt in die erneuerbaren Energien, das sind die Märkte der Zukunft, das sind die künftigen Arbeitsplätze. Die sind langfristig sicher.
Also, da muss man sich doch auch für eine Richtung entscheiden, wo man den Schwerpunkt hinlegen möchte.
Michael Vassiliadis: Ich glaube, dass es beides geben wird. Es kann sein, dass wir auf diesen Technologiezweig in Deutschland verzichten, weil wir das politisch entscheiden. Dann werden da auch Arbeitsplätze wegfallen. Und wir werden in dem Segment regenerativer Energien sicherlich eine Menge machen. Aber ich prophezeie, dass wir dann Grundlaststrom von woanders herholen. Und wir werden eben an der Frage weiterarbeiten müssen: Können wir den Energieträger Kohle – auch deshalb, weil er weltweit verwandt wird – technologisch optimieren? Wir haben dazu die Kompetenz. Und ich weiß nicht, warum wir daraus aussteigen sollten. Das hat jetzt niemand so konkret gefordert, aber tendenziell wäre das der Fall.
Deutschlandradio Kultur: Nun ist in dieser Wirtschaftskrise sehr viel über den Mittelstand, also über die kleinen Unternehmen gesprochen worden. Auch in dem industriepolitischen Konzept, das Sie gemeinsam mit der IG Metall angemahnt haben, IG Bergbau Energie und Chemie zusammen mit der IG Metall, steht ja etwas von der Wertschöpfungskette drin. Was befürchten Sie, dass dieser Mittelstand eben in der Krise, wie wir eben schon angesprochen haben, stirbt?
Michael Vassiliadis: Zumindest gibt es große Gefahren, weil diese Wertschöpfungsketten, die ganz früher mal - in der Nachkriegszeit waren das häufig riesige Unternehmen, in denen diese Wertschöpfungsintegration im Unternehmen stattgefunden hat, in den letzten Jahrzehnten eben zu einem Netzwerk geworden sind, teilweise sogar weltweit, aber vor allen Dingen eben auch hier in Deutschland. Und wenn da einzelne Zähne rausbrechen, ist es wie beim Uhrwerk. Dann steht die Uhr.
In diesem mittelständischen Bereich ist unheimlich viel Kompetenz, aber auch unheimlich hohe Beschäftigungsintensität. Deshalb haben wir uns mit der IG Metall auf den Weg gemacht, das, was wir dort kennen und wissen, zunächst einmal noch mal zu analysieren und die Empfindlichkeiten – beispielsweise Bankenkredite, Finanzierung, aber auch das Verhalten der End-User, beispielsweise der Automobilindustrie mit Blick auf diese Vorlieferketten – zu diskutieren und auch zu problematisieren. Hier und da ist es sogar gelungen, den Druck, der beispielsweise von den Automobilproduzenten in die Zulieferkette erzeugt wird, nicht dazu führen zu lassen, dass es Insolvenzen oder Konkurse gibt, sondern dass man darüber einfach noch mal konzeptioneller geredet hat und da auch wieder Vernunft hineingebracht hat.
Deutschlandradio Kultur: Herr Vassiliadis, die IG BCE ist bekannt dafür, dass sie relativ kooperativ mit den Arbeitgebern zusammengearbeitet hat in den letzten Jahren. Jetzt kandidieren Sie im Herbst für den Vorsitz dieser drittgrößten Gewerkschaft. Wie wird man sich das in Zukunft angesichts dieser doch krisenhaften Situation, die wir haben, vorstellen müssen, auch wenn wir möglicherweise schon einiges geschafft haben? Wird der Kurs im Umgang in der Tarifpolitik und in anderen Bereichen möglicherweise unter Ihrer Führung härter werden?
Michael Vassiliadis: Das ist keine Dimension einer neuen Führungspersönlichkeit, sondern unser Konzept ist erfolgreich, weil es funktioniert hat und weil es erfolgreich war. Es besteht ja vor allen Dingen darin, dass wir mit den Arbeitgebern versuchen, die verschiedenen Interessen, die Unternehmen und Beschäftigte, Gesellschaft und Umwelt eben auch haben, zu diskutieren und in Einklang zu bringen. Das geht nicht immer. Es gibt Zielkonflikte. Es gibt auch Auseinandersetzungen. Aber der Stil darin ist nicht, dass man sich gegenseitig mit Notenaustausch versieht und mit Kampfdrohungen, sondern mit Problemlösungsmotivation.
Das hält jetzt auch in der Krise bislang. Ich sehe da auch ganz wichtige Bestandteile, die uns eben auch helfen, dass es hier nicht zu Fehlentwicklungen kommt. Das heißt, es ist nicht eine Frage von Kurs, den der neue Vorsitzende vorgibt, sondern es ist eine Frage, ob die Realität in den Unternehmen weiterhin die Grundlage bietet, einen solchen Kurs auch zu begründen.
Deutschlandradio Kultur: Bei niedriger Inflation oder gar keiner, bei geringer Wertschöpfung im Moment fangen schon die Arbeitgeberverbände an, zu sagen: Lohnverzicht wäre das Gebot der Stunde im nächsten Jahr. Da müssen Sie sich ja dazu verhalten.
Michael Vassiliadis: Das ist ja das, was ich mit "Notenaustausch" meine. Da gibt es Gewerkschaften und da gibt es auch Arbeitgeberverbände, die diesen Stil weiter haben müssen oder haben – das kann ich nicht beurteilen, will ich auch nicht. Aus unseren Branchen haben Sie das noch nicht gehört, sondern wir werden uns dieser Situation stellen. Und wenn das so ist, wie Sie sagen, dass wir eine schwierige wirtschaftliche Entwicklung haben, dass wir Unternehmen haben, die rote Zahlen schreiben, dann hat das in der Vergangenheit die Tarifpolitik beeinflusst und das wird auch in der Zukunft so sein. Es gibt eine Korrelation von wirtschaftlicher Situation und Entwicklung und natürlich auch solchen Elementen.
Deutschlandradio Kultur: Aber dann ist doch die Frage des Lohnverzichts wieder aktuell, selbst wenn Sie dementiert haben. Denn Beschäftigungsgarantien und Sicherheiten bekam man auch in der Vergangenheit nur, indem man was dafür bezahlt hat.
Michael Vassiliadis: Sehen Sie, wir haben in vielen Unternehmen im Moment Kurzarbeit. Das ist so was wie Lohnverzicht. Aber warum man daraus eine programmatische Debatte machen muss? Es ist ja immer das Gleiche, dass man jetzt sozusagen die Tarifsystematik herbeizieht und sagt: Wenn man da jetzt in nennenswertem Umfang eingreifen würde, dann würde das also beschäftigungssicher. Ich sage nicht, dass das keine Korrelation hat, aber es ist eigentlich ein bisschen der alte Kram.
Und wenn man mal überlegt, dass wir zum Teil in durchrationalisierten Produktionen Lohnkostenanteile zwischen 6 und 15 Prozent haben und wenn dann die Beschäftigten auf 10, 15 Prozent verzichten, viel mehr geht bei vielen sowieso nicht, dann haben Sie gar nicht die Wirkungen. Beim Energiepreis, wenn da die Schraube einmal nach links oder rechts geht, dann schlägt das um andere Dimensionen durch. Das heißt, sich ein bisschen auch die Sache anzuschauen. Da will ich nicht ausschließen, dass wir hier und dort zu Flexibilitäten kommen müssen – das haben wir vorgesehen. Aber ich bin ein bisschen müde, mir die Uraltdiskussion der 70er immer wieder vorlegen zu lassen.
Deutschlandradio Kultur: Eine neue Diskussion ist, Franz Müntefering hat sie mit angestoßen, die Rente mit 67, also länger arbeiten in Anbetracht dessen, dass die Menschen auch länger leben. Rente mit 67 könnte doch ein Thema sein, das die Gewerkschaften auch unterstützen. Sie finden es aber nicht so gut.
Michael Vassiliadis: Rente mit 67 ist ja ein Label für eine gewisse politische Diskussion, eine politische Initiative. Und drum herum gibt es ein ernsthaftes reales und großes Thema. Das ist die demografische Entwicklung. Das ist die Frage, wie wir die Sozialsysteme insgesamt den neuen Zeiten, den gesellschaftlichen Realitäten entsprechend aufstellen, wie wir Wettbewerbsfähigkeit im Blick behalten. Das ist ja das große Thema.
Ich halte es für einen Fehler es zu verjüngen auf die Frage: Arbeiten Arbeitnehmer zwei Jahre länger oder nicht? Ja, wir sehen, dass die Menschen länger leben. Und ja, man könnte trivial den Rückschluss ziehen, man könnte doch auch ein paar Jahre länger arbeiten. Das können Sie dann, wenn das System, das Arbeit zur Verfügung stellt, auch kompatibel gemacht wird. Es kann nicht bei dem Einzelnen liegen, sich jetzt sozusagen einem System, das davon ausgeht, dass man jung, leistungsfähig rund um die Uhr mit extremer Motivation unterwegs ist – so ist das ganze System in Industrie und Wirtschaft in der Regel aufgebaut – dass man eben an einer Schraube dreht und sagt, so, dann wollen wir das mal zwei Jahre verlängern.
Deutschlandradio Kultur: Aber gerade darum würde ich sagen, der DGB hat den falschen Weg eingeschlagen, indem er gegen die Rente mit 67 opponiert, sondern er hätte umgekehrt sagen müssen: Jeden Morgen rufen wir bei den Arbeitgebern an und fragen: Was habt ihr dafür getan, dass alte Menschen länger arbeiten können? Dann würden sie die Arbeitgeber unter Druck setzen. So machen sie eigentlich mit bei der Politik der olympiareifen Mannschaft.
Michael Vassiliadis: Die IG BCE hat ja damals schon in der Agenda-Auseinandersetzung u.a. diesen Punkt kritisiert. Es darf nicht rüberkommen, dass die Menschen nicht länger arbeiten wollen, weil sie keine Motivation haben oder weil sie an der Stelle sich des Sozialstaats bedienen wollen. Sondern die Frage ist: Gibt es überhaupt diese Arbeitsplätze? Das ist der erste Punkt. Und zweitens: Gibt es diese Arbeit? Und wenn es die nicht gibt, dann ist das am Ende stillschweigende Akzeptanz von Rentenkürzung, weil man sie einfach früher in Rente schickt und dann Kürzungen vornimmt. Das war unsere Kritik.
Deswegen haben wir genau das getan. Wir haben unseren Arbeitgebern gesagt: So, wir wollen jetzt über alterns- und altersgerechte Arbeit reden. Wir wollen über die Arbeitsplätze reden. Wir wollen uns auf den Weg machen, das zu gestalten. Und wenn wir das fertig gestaltet haben, dann können wir auch darüber reden, ob denn und wann denn und wie denn die Altersgrenze wirklich real vorhanden ist. Wir haben eine Diskrepanz von fünf Jahren zwischen Realität und wirklicher formaler Verrentung. Wir haben dazu einen Tarifvertrag gemacht.
Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie sagen, Sie wollen mit den Arbeitgebern über altersgerechte Arbeit reden, wo ist denn der Stand der Dinge momentan? Wie sieht es konkret aus?
Michael Vassiliadis: Wir haben im vergangenen Jahr einen Tarifvertrag gemacht, den sogenannten Demografie-Tarifvertrag, der ein längerfristiger Tarifvertrag ist, weil man Demografie nicht in einer Runde abarbeiten kann. In diesem Jahr wird in jedem Unternehmen der chemischen Industrie eine sogenannte Demografieanalyse angefertigt. Das heißt, wir schauen uns gemeinsam die Betriebsparteien intensiv an, und zwar in mehreren Dimensionen. Wen haben wir da eigentlich vor uns? Wie alt sind sie? Männlein, Weiblein, Qualifikationen und so weiter? Und dann gibt es einen Maßnahmenkatalog. Den kann man vielleicht auch zukünftig erweitern. Jedenfalls haben wir erst mal einen, der unter anderem auch die Gestaltung altersgerechter Arbeit beinhaltet, Weiterbildung, verschiedene Aspekte. Und da wird dann auch Geld hineingetan, und zwar in einen betrieblichen Topf, wo auch die Betriebsparteien flexibel die spezifischen Fragen des jeweiligen Betriebes angehen und nicht irgendwo so eine Gleichmacherei ist.
Wir hoffen und wir glauben, dass wir damit genau das bewegen können, nämlich ein wirkliches Nachdenken nicht nur über technokratische Lösungen, sondern über das Wahrnehmen vor allem der industriellen Logik, dass man ältere Arbeitnehmer auch in den Prozessen denken muss. Es ist nicht eine Frage allein von Technik – Helm auf und Beleuchtung. Das ist auch ein Thema. Sondern Sie müssen sozusagen die Logik von Arbeit auf die Frage abstimmen: Können denn die Menschen diesen Takt bis zum Ende wirklich durchhalten? Das ist ein großer, übrigens auch gewerkschaftlicher Gestaltungsauftrag, wo wir eine Menge zu tun haben werden.
Deutschlandradio Kultur: Nehmen wir mal das Beispiel der Bergleute, nämlich das Beispiel derer, die den Vorruhestand in der Bundesrepublik mit eingeführt haben. Wenn einer aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten kann im Bergbau, ist ja die klassische Frage, mit 50 oder 52, kriegt der noch eine Chance über Tage?
Michael Vassiliadis: Das ist immer der Versuch, dass man leistungsgeminderte oder vielleicht sogar kranke Arbeitnehmer, die eben nicht vollständig aus dem Arbeitsleben ausscheiden, sondern auf sogenannten Schonarbeitsplätzen, auf Arbeitsplätzen, die eben nicht mehr diese körperlichen Stressanforderungen haben, beschäftigt. Das ist ein Klassiker. Das gibt es auch heute noch, aber nicht mehr in dem Umfang. Das heißt, die Rationalisierung hat natürlich auch diese Lösungsoption - man nimmt den Menschen und bringt ihn zu einer anderen Arbeit – weitgehend weg rationalisiert. Bergbau ist ein sehr extremes Beispiel, weil es natürlich wirklich körperliche Arbeitslasten gibt. Da gibt es Grenzen dessen, was man gestalten kann. Da kann man eine Menge Erleichterungen machen, aber es bleibt ein Job, der hart ist. Aber in den klassischen Produktionsprozessen, die wir beispielsweise in der Chemie kennen, haben wir diese körperlichen Anteile weitestgehend reduziert. Da sind andere Faktoren - Stress, Arbeitszeiten, Kompatibilitäten von Maschine und Mensch – gefordert. Und da muss man investieren. Das meine ich auch so. Das geht nicht von alleine mit ein bisschen besserem Management. Da wird sicherlich Veränderung notwendig sein.
Viele Unternehmen sind geeicht auf Selektion, sowohl bei der Einstellung als auch im Prozess. Das verändert sich gerade. Das ist auch ein Lernprozess, sich eben zu bemühen, förderlich zu sein, zu investieren, das ist etwas, was für die Unternehmen neu ist. Es passiert aber. Im Moment ist es noch so, dass erst mal das Ziel formuliert wird, dass man die Älteren halten will. Man hofft hier und dort, dass das nicht viel kostet. Das glaube ich nicht, sondern man wird eine Menge verändern müssen. Das wird noch ein bisschen was dauern. Ohne das wird es nicht gehen.
Deutschlandradio Kultur: Warum hinken Sie da so hinterher? Seit Jahren haben wir diese Problematik, dass sehr viele Menschen früher aussteigen, dass wir überhaupt diese lebenslange Arbeitswelt nicht mit lebenslangem Lernen verbinden. Jetzt stellen Sie Modelle vor. Die hätte man doch schon vor 20 Jahren auf den Tisch legen können.
Michael Vassiliadis: Die gibt es seit 20 Jahren, da haben Sie recht.
Deutschlandradio Kultur: Aber wer bremst?
Michael Vassiliadis: Und es gibt kein Erkenntnisproblem, sondern es hat etwas damit zu tun, wie auch unternehmerisches Regime und Konzept ist, und Gesellschaftliches. Nehmen wir mal die Kritik am Vorruhestand, der ja jetzt auch massiv als ein öffentlich gefördertes Personalabbaukonzept kritisiert wird. Das ist auch nicht ganz unberechtigt. Aber als er entstanden ist – das ist auch durchaus etwas, was andere Entwicklungen verzögert hat – Mitte der 80er-Jahre, war diese Gesellschaft noch davon überzeugt, dass das Massenarbeitslosigkeitsproblem ein Phänomen ist. Mittlerweile ist, glaube ich, klar, dass – wenn wir es lösen wollen – wir eine Menge Veränderung und Investition brauchen. Das war damals noch anders. Also hat man den Blickwinkel auf die vorhandenen Belastungen Älterer genommen und hat gesagt, wir schicken Sie früher und holen – das war immer unser Ansatz – Jüngere rein, Ausbildungsplatzproblem der 80er. Also, es war eine Reflexion auf konkrete wirtschaftliche und gesellschaftliche Situationen dort.
Manchmal ist es aber so, dass die Reflexion auf neue Anforderungen ein bisschen was dauert. Und noch mal: Wir stellen uns der Frage demografischer Entwicklung, von mir aus auch mit dem Vorwurf, dass insgesamt die Politik und die Akteure es zu spät tun. Aber es geht trotzdem nicht per Schalter. "Basta" geht nicht bei der Frage, schalten wir jetzt um von Vorruhestand auf Verlängerung der Regelrente. Das ist etwas einfach. Wir sind immer in der Situation es in der Realität machen zu müssen. Da gehören wir hin, da, wo die Arbeit stattfindet und wo die Menschen sind. Deswegen brauchen wir dafür Übergangsmodelle.
Deutschlandradio Kultur: Sie sind Arbeiterkind, wurden ausgebildet zum Chemielaboranten bei Bayer und nun auf dem Weg zum Gewerkschaftsführer. Im Oktober wollen Sie gewählt werden. Ist so eine Karriere heute noch für ein Arbeiterkind möglich?
Michael Vassiliadis: Offensichtlich. Es ist so, dass ich natürlich eine Entwicklung gemacht habe, die für einen Gewerkschafter früher klassisch war und eher die Normalität. Heute ist es eher ungewöhnlich. Ich fühle mich ganz gut gewappnet.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt können Sie ja sagen, ich bin ein Arbeiterkind und Punkt! Aber Sie sagen, Sie sind im "Grunddesign ein Arbeiterkind". Sind Sie jetzt ein Arbeiterkind oder sind Sie keines?
Michael Vassiliadis: Ich bin eins, aber ich habe die Chance bekommen in der weiteren Entwicklung, eine ganze Menge Realitäten, natürlich auch Ausbildungen kennenzulernen. Die sind nicht typisch für ein Arbeiterkind. Ich habe eine Managementausbildung. Ich bin international sehr viel unterwegs gewesen. Ich konnte mich sehr früh in sehr komplexen Prozessen und Projekten auch in Führungspositionen bewähren. Die Chance haben Sie üblicherweise nicht als Arbeiterkind. Deswegen sage ich "Grunddesign". Ich habe eine Menge Chancen bekommen, für die ich auch dankbar bin. Und deswegen habe ich natürlich in den letzten 25 Jahren eine Menge mehr gesehen als ein klassisches Arbeiterkind.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem hält man ja einen Moment inne an ihrer Biografie, wenn man PISA-Studien liest, und erfährt: Ein junger Mann mit Migrationshintergrund aus einer Arbeiterfamilie, ja so einer darf eigentlich gar keinen Erfolg haben. So einer hat bei uns gar keine Chance, heißt es in den PISA-Studien.
Michael Vassiliadis: So irrsinnig viele finden Sie auch nicht. Aber es ist auch so, dass es in dieser Klientel Arbeiterkind, ich lasse mal Migration einen kleinen Moment noch außer Acht, natürlich auch viel Motivation und Leistungsehrgeiz gibt. Ich will das gar nicht systematisieren. Man darf es trotzdem nicht typisieren. Es ist eher ungewöhnlich.
Deutschlandradio Kultur: Da gibt es noch einen Begriff, der uns etwas stutzig gemacht oder überrascht hat. Sie bezeichnen sich auch noch als "wertorientierten Pragmatiker". Hat das auch was mit dieser "Arbeiterbiografie" – in Anführungszeichen – zu tun, dass dort Werte hochgehalten wurden, die zum Pragmatismus führen?
Michael Vassiliadis: Das glaube ich schon. Ich hatte mir selbst – und hatte eine große Motivation – natürlich auch die großen sowohl Theorien, aber eben auch die großen historischen und politischen Gegebenheiten sozusagen zu erarbeiten. Dabei habe ich mich schon verortet und habe dieses Koordinatensystem der Werte auch wirklich – ich würde mal sagen – "modernisiert" immer wieder, aber im Kopf. Und auf der anderen Seite sind Arbeiter und Gewerkschaften immer Pragmatiker. Ich sage das immer gerne: Wenn man in die Gewerkschaftsgeschichte guckt, gibt es ganz viele hohe Ansprüche und es gibt die praktische Politik das Beste draus zu machen, was geht. Ich glaube, wenn man sich nur auf den Pragmatismus konzentriert, ist man so eine technokratische Abarbeitungsmaschine von Realität. Und wenn man sich in einem Wertekontext verliert, dann wird es warm und romantisch. Das nutzt aber unserer Klientel auch nicht täglich was.
Deutschlandradio Kultur: Herr Vassiliadis, herzlichen Dank für das Gespräch.
Michael Vassiliadis: Vielen Dank.