Michael Lentz: "Schattenfroh"

Gespräche mit dem großen Anderen

Cover: "Michael Lentz: Schattenfroh" und Bild des Autors
"Man nennt es schreiben" - So beginnt das mehr als tausend Seiten umfassende Buch "Schattenfroh" von Michael Lentz. © S. Fischer Verlag / dpa / picture alliance / Erwin Elsner
Von Carsten Hueck · 13.09.2018
Mit "Schattenfroh" hat Michael Lentz eine gewaltige Textlandschaft erschaffen: ein obsessives Selbstgespräch, eine virtuose Sprach-Architektur voll Aufbegehren gegen alle Instanzen der Macht: Vater, Über-Ich, Kirche, Gott und Tod.
Wer endlos mit Worten hantiert, läuft Gefahr, die Welt zu sprengen und sich in Unendlichkeit zu verlieren. Schon das Johannes-Evangelium endet mit der Feststellung, dass die Welt, wollte man jedes Geschehen niederschreiben, nicht genügend Platz böte für all die benötigten Bücher.
Diese Vision vor Augen hat Michael Lentz es gerade so noch einmal geschafft, einen Punkt zu setzen. Der Schriftsteller, Lyriker, Lautpoet und Professor des Leipziger Literaturinstituts entschied sich nach über eintausend Seiten dafür, seinen Schreibfluss zu stoppen. Aber er deutet an, was alles noch sein könnte – und hat so eines der beeindruckendsten und herausforderndsten Werke der deutschen Literatur geschaffen.
"Man nennt es schreiben", heißen gleichlautend, aber keineswegs gleichklingend, der erste und der letzte Satz von "Schattenfroh". Es gibt kein Entkommen, der Kreis ist geschlossen, doch könnte alles gleich wieder anfangen: fortgesetztes, fortsetzendes Sprechen, Schreiben, Denken und Leiden. Dazu jede Menge Zumutungen für den Leser: Wie soll er diesem Maniac Lentz folgen, wissen, was der weiß, lesend nachvollziehen, was der Autor mit brachialer Souveränität innerhalb von zehn Jahren zu einer monumentalen Liturgie zusammengefügt hat?

Die Sprache als Waffe

Es wird nicht gelingen, die feinen Verästelungen, die kabbalistischen Querverweise und Denkweisen, Zahlenmystik und Bibelexegese, Lentzsches Seinsempfinden und literarische Zitate in ihrer Gesamtheit zu würdigen.
Kafka, Borroughs, Brinkmann, Cervantes, Jabès, Isaak Luria, die Evangelisten, Descartes und Foucault – das sind nur einige der Resonanzräume, die Lentz in seinem Buch durchschreitet.

"Schattenfroh" trägt den Untertitel "Ein Requiem". Dem Buch also ist der Tod eingeschrieben, und mit jedem Wort wehrt sich der Autor gegen den Tod: vital, wütend, verzweifelt, kühl, immer mittels Sprache. Sie ist seine Waffe. Wer spricht, lebt.
Es gibt eine Stimme, die aus der Position eines Ich-Erzählers nicht nur die eigene Kindheit, sondern auch die Geschichte von Lentz' Heimatstadt Düren im Laufe der Jahrhunderte schildert. Die ohne Chronologie, ohne Einteilung in Kapitel auskommt, vom Barock in die Epoche des Nationalsozialismus fließt, von den 1960er-Jahren in jene, da die Römer in Jerusalem herrschten.

Die Zunge – das Wörter fressende Tier

Der da spricht, befindet sich in einem hermetischen Raum. Er heißt "Niemand", Versehen mit einer Gesichtsmaske, fühlt er seine Zunge nicht, aber glaubt, sie sei ein Tier, das ihn aussauge und sich von Wörtern ernähre. Auf dem Kopf trägt er etwas, das an die Gebetskapseln frommer Juden erinnert. Freiwillig unterzieht er sich einem Verhör, mal in der Pose des gekreuzigten Heilands, mal der eines Delinquenten in einem dystopischen Albtraum.
Schattenfroh – das ist der große Andere, vielleicht Gott, vielleicht Luzifer, das eigene Über-Ich oder der Vater, der in einem an das kubanische Presidio Modelo erinnernden Büro das Sagen hat. Auch beim Verhör hat er es – und irgendwann vermischen sich die Rollen, das Gesagte ist das Gesagte einer Person. Auch wenn dem Verhörten Gott und Vater gestorben sind – sie sprechen durch ihn.
Die Lektüre dieser gewaltigen Textlandschaft ein Erlebnis: ausschweifende Meditation, obsessives Selbstgespräch, Lavastrom eines fiebrigen Hirns, virtuose Sprach-Architektur und -Malerei, Aufbegehren gegen alle Instanzen der Macht, gegen Vater, Über-Ich, Kirche, Gott und Tod.

Michael Lentz: "Schattenfroh. Ein Requiem", Frankfurt am Main, S. Fischer, 2018, 1007 Seiten, 36,00 Euro

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