Michael Henry aus Boston

Der König der Bettler

Der Bettler Michael Henry ist in Boston eine kleine Berühmtheit.
Der Bettler Michael Henry ist in Boston eine kleine Berühmtheit. © Nora Sobich
Von Nora Sobich |
Seit gut 20 Jahren steht der Bettler Michael Henry in Bostons historischem Beacon Hill, in einer der feinsten Ecken Amerikas. Immer wieder gewinnt Michael die Herzen und täglich mehrere hundert Dollar, so die Legende. Unsere Autorin hat ihn getroffen.
"They are over here in the fridge by the deli."
"Oh. Michael. Awesome. I lived here all my life and he's been here basically as long as I can remember. Basically everybody in the neighborhood knows Michael."
Die junge Verkäuferin in dem kleinen Bostoner Supermarkt strahlt. Michael greift sich den Melonensalat vom Counter und sagt "Thank You".
Dann geht er raus auf die Straße.
Er ist ein kleiner afroamerikanischer Mann Ende Fünfzig, schmächtig wie ein Jockey. Er trägt ein schlabberiges weites Hemd, das ihm mindestens zwei Nummern zu groß ist. Fast immer hat er eine Baseballmütze auf. Heute eine in knallorange. Vor einem Starbucks-Coffeeshop setzt er sich in den Eingang.

"Thanks daddy"

Gleich gegenüber liegt der Boston Common, einer der ältesten Stadtparks Amerikas. Dahinter wächst Bostons Skyline in den Himmel. Gerade will Michael seinen Melonensalat öffnen, da kommt über den rot gepflasterten Bürgersteig ein vornehm gekleideter Bostonian, der wohl Stammkunde ist. Er steckt Michael einen Dollarschein zu.
"Thanks daddy! Good evening to you daddy, sir. Thanks Papa. Give me your hand. Daddy. Daddy. Here is the finger pump. All right. Yes sir. Okay pal."
Für jeden, der in Bostons historischem Zentrum an ihm vorbeigeht, - Geschäftsleute, Büroangestellte, Studenten, Nannies, Touristen - , hält Michael so eine liebevolle Litanei Kosenamen bereit, in immer neu gemischter Reihenfolge: "Mammy", "Dear Mum", "Hon", "Sweety". Oder: "Sir", "Buddy", "Pal", "Daddy", "Dad". Alle sind Familie. Vor allem die Stammkunden. Michaels Stimme kann krächzend laut werden. Oder leise und zärtlich sein, wie jetzt bei dem Anzugträger, der sich an ihm vorbei zu schleichen versucht:
"Hey you, I see you. I see my little family, Sir. Hey...."
Jeden "deal", wie es Michael nennt, besiegelt ein ‚Handschlag oder eine Umarmung. Alle machen die allerdings nicht mit, obwohl Michael alles andere als verwahrlost ist. Kopfnickend wiederholt er "I'll be right here", "Ich werde da sein", als wäre das eine Art Mantra, sich keine Sorgen machen zu müssen, weil er ja da sein wird. Was er auch ist.
"It's almost like a business, where you get so much in business..."
Im Winter wie im Sommer, ob es klirrend kalt oder brütend heiß ist. Von morgens um acht bis abends um sechs.
"zero degrees you can't stand outside...It doesn't matter how many gloves – what ever you put on the cold...'s..."

Dem Profibettler gefällt seine Rolle als "Street Celebrity"

Michael ist amerikanischer Profibettler, "Panhandler". Er hat sich in der Gasse eingerichtet. Schon seit fast dreißig Jahren steht er in Bostons historischer Wohngegend Beacon Hill, eine der wohlhabendsten von Amerika. In denkmalgeschützten Backsteinhäusern – Brownstones - leben Finanzinvestoren, Football-Stars, Professoren, der alte Ostküsten-Adel. Auch Amerikas Außenminister John Kerry hat hier sein Haus. Mehr Tradition geht in Amerika kaum. Beacon Hills Ahnengalerie ist ein "Who is who" amerikanischer Gründungsgeschichte. Überall stehen Statuen, hängen Erinnerungsplaketten. Vielleicht kommt irgendwann auch mal eine für Michael hinzu?
"That would be really famous of me mum, you know. Not that I'm not famous now mum. But this would be good. But I don't think so. No."
"Keine Ahnung, mum", sagt er. Jedenfalls wäre es "really famous" für ihn. Nicht, dass er nicht schon jetzt berühmt ist. "Aber nein!" er glaubt nicht dran. Dann lacht er wieder. Seine Rolle als "Street Celebrity" gefällt ihm, das ist nicht zu übersehen.
Zum ersten Mal traf ich ihn 2010. Wir waren damals zwei Stockwerke über einen Irish-Pub an das untere Ende der Charles Street gezogen, Beacon Hills lebendige Geschäftsstraße – mit Tante-Emma-Laden, Hardwarestore, Drogerie, ein paar Boutiquen, Restaurants und Cafes. Mit dem Amerika, was man so aus dem Fernsehen kennt, hat die Gegend wenig zu tun, es ist eine idyllisch entrückte urbane Bilderbuchwelt. Armut kommt hier sozusagen nur als Charity vor. Damals stand Michael noch direkt gegenüber von unserer Wohnung - vor der Tür eines kleinen Gemischtwarenladens.
"Yes this was cool. I had a little seat there. His name was uncle Tracy. Yes. Tracy was good. He was good. He was a nice man. When he lost that place so many people didn't want him to leave. Everybody liked the store and getting along with him, yeah."
Als der Laden schloß, zog Michael die Charles Street hoch an die Ecke Beacon Street, wo er seitdem auf dem Bürgersteig vor Starbucks steht.
"Of course it's better in the morning. Because everybody who is coming by has some money."
Auch hier hat sich Michael mit seiner liebenswürdig einfühlsamen Art durchgesetzt. Er kann die Toiletten benutzen, sich vom langen Stehen ausruhen. Der anfangs nicht ganz so nette Manager, meint Michael, wisse inzwischen, wer er ist, dass ihn jeder im Viertel kennt jedenfalls ziemlich viele.
"He knows me and I see him all the time. He knows I know everybody in town here – a lot of people."

Alle scheinen ihn zu kennen und dann doch auch wieder nicht

In der ersten Zeit war Michael für mich nur ein aufmerksamer Bettler, wie es ihn in jeder anderen Stadt auch gibt: der Passanten charmant anzusprechen weiß, der auf Hunde aufpasst, hilfsbereit die Tür aufhält, ein freundliches Wort für jeden hat, denen man hin und wieder Geld und was zu Essen gibt. Da Michael allerdings nie aus seinem Leben plaudert, nie erzählt, wann es bei ihm sozusagen mal eine andere Richtung eingeschlagen hat, hätte man denken können, er sei als Bettler schon auf die Welt gekommen. Er war wie ein Mysterium. Alle schienen ihn zu kennen, und doch auch wieder nicht.
Sally, 16 aus Beacon Hill: "He knows people. I mean he knows...if he had seen you once he will recognize you. It's interesting. He is quite an phenomenon there is no doubt about it."
Wo er eigentlich wohnte? Warum ausgerechnet er der einzige Bettler der Gegend war? Was ihn auf die Straße gebracht hatte? Ich wurde neugierig, begann, Freunde und Nachbarn zu fragen. Jeder hatte eine Meinung zu ihm, seine eigene kleine Michael-Theorie. Viele auch eine Geschichte. Manche geradezu eine Beziehung.
"Alle hier, glaube ich, sind einfach froh, dass er da ist und uns aufheitert. Man spricht mit ihm morgens und abends. Er ist wie ein Muntermacher für den Tag. Jeden nennt er Familie, Freund, was auch immer. Er ist einfach großartig!"
Matt McCord, ein zwanzigjähriger DJ, kann sich wie viele, die in Beacon Hill aufgewachsen sind, gar nicht mehr an eine Zeit ohne Michael erinnern. Für Matt gehört Michael einfach dazu.
"Jeder respektiert ihn und er respektiert jeden. Er passt einfach hierherein. Und ich glaube, Michael mag es. Er ist in Becaon Hill ja auch schon weiß Gott wie lang. In den vielen Jahren hat er sich auch nie geändert. Er ist immer der heitere, wunderbare Typ geblieben."
Grenzenlos ist Michaels Fangemeinde allerdings nicht. Ein Bettelverbot, wie es in vielen US-Innenstädten inzwischen üblich wird, ist gegen Michael zwar geradezu unvorstellbar. Dennoch - einige dulden ihn, wie es heißt, nur mehr oder weniger zähneknirschend in Beacon Hill. Und das auch nur, weil er höflich ist und nicht aggressiv bettelt. Jeden anderen hätte man schon längst vertrieben.

Fangemeinde mit Grenzen

Auf dem Weg zum Einkaufen treffe ich auf der Charles Street Ryan, eine ältere Dame, die schon seit Jahrzehnten in Beacon Hill lebt. Sie erzählt von einer Freundin, die in den achtziger Jahren im Fashionstore von "Burberry" gearbeitet hat, wo man Michael oft mit Klamotten versorgt haben soll. Als die Freundin später Anwältin wurde, begegnete sie Michael zufällig im Gericht wieder. Die Burberry-Klamotten hätten sich da gut an ihm gemacht. Weswegen Michael allerdings vor Gericht stand, versichert Ryan auch nicht. Nur, dass es nichts Ernstes war. Michael ist "safe", sicher, meint Ryan. Keiner muss vor ihm Angst haben. Durch ihn bekäme Beacon Hills verwöhnte Welt mehr Realität. Es klingt, als wäre Michael hier der Quotenbettler.
Eine Zeitlang, weiß Ryan noch zu erzählen, hätte es in der Gegend auch eine Bettlerin gegeben. Die hätte irgendwann aber wohl genug eingesammelt und sei nach Florida abgedampft. Ryan sagt es, als sei das eben so in Amerika. Wie Tellerwäscher irgendwann Millionäre werden, dampfen Bettler irgendwann nach Florida ab.
Auch über Michaels Einnahmen kursieren fabelhafte Spekulationen. Als ich im "Liquor Store", einem kleinen Weinladen auf der Charles Street, wo immer ein dicker schwarze Kater im Schaufenster liegt, nach Michael frage, meinen die beiden Männer hinterm Tresen: Nein, beliebt ist Michael wirklich nicht. Sie selbst hätten aber nichts gegen ihn. Er fragt bei ihnen ja auch nie nach Geld, nur nach Zigaretten.
Die Gerüchte, dass Michael irgendwo einen Koffer mit Geld vergraben hat, kennen auch sie. Eine Bekannte aus der Nachbarschaft, die es von Michael selbst gehört haben will, erzählt, er mache täglich 150 Dollar. Andere schätzen seinen Gewinn auf 300 Dollar. Und rechnen hoch, was das für ein Jahresgehalt macht. Jemand schlägt vor, ich solle Michael mal nach Hause folgen und rauskriegen, wo er wohnt, ob er wirklich ein so tolles Haus mit Swimmingpool besitzt, wie viele behaupten. Michael sagt zu seinen Ersparnissen nichts. Er macht aber auch keinen Hehl daraus, was Betteln für ihn ist: eben Business.
Wenn er wollte, könnte er arbeiten. Das stimmt. Nachbarn bieten ihm immer wieder Gelegenheitsjobs an - wie Essenaustragen. Michael lehnt ab. Profibetteln bringt wahrscheinlich mehr ein als jeder Mindestlohn.
"Lazy - that is what a lot of people think. Why can't you work? And all that stuff. But everybody can't work. Ok!"If you don't want to give you don't want to give. That's it. All right! If I'm not working I'm not working. If you don't want to give you don't want to give. Go a head all. I don't have a trap."
Ja, sagt Michael, als ich ihn darauf anspreche, was die Leute in der Nachbarschaft so über ihn reden, manche finden ihn faul. Aber jeder kann eben nicht arbeiten. So ist das in der Welt. Dass man ihm deswegen in sein Leben reinredet, gefällt ihm nicht. Wer ihm nichts geben will, braucht ihm ja auch nichts zu geben. Er hat schließlich keine Falle aufgestellt. Und wenn er nicht arbeitet, dann arbeitet er nicht. Punkt. Manchmal sieht man ihn, wie er quasi "nach Dienstschluss" einen dicken Stapel Dollarscheine durchzählt. Macht man Witze, wird er ernst.
"It's all about a bunch of money, mum. You have to get money to get food, you have to get money to have a place and you have to have money to buy something. It's like that. It's a good deal mum. Don't worry."
Seinen Nachnamen hörte ich erst später. Ich hätte ihn fragen können, hatte aber keine Lust. So wie Michael niemanden nach dem Namen fragt, alle "family" sind, "Mummy", "Daddy", "Buddy", "Pal", "Friend". Selbst als ich ihm meine Visitenkarte geben will, damit er weiß, wem er eigentlich ins Mikrofon spricht, sagt er:
"Was redest Du denn da? Warum soll ich deinen Vornamen wissen? Du bist Mum und wirst immer hier sein mit mir. Ich brauche deine Karte nicht."
Es ist, als hätte Michael tatsächlich bei Charles Dickens gelesen: nicht das System umwerfen, Menschlichkeit verbreiten. Vielleicht wird man auf der Straße zum Diogenes in der Tonne. Vielleicht war Michael schon immer Philosoph, dass er Sätze sagt wie: Nobody should have a bad feeling about nobody.

Kirche ist nicht sein Ding

Eine Galeristin auf der Charles Street hat mir von einem Artikel erzählt, der schon in den neunziger Jahren über ihn, den berühmten Bettler von Beacon Hill, in der LA Times erschienen ist. Da las ich zum ersten Mal seinen Nachnamen: Henry. Michael Henry wurde also in South Carolina geboren. Als Fünfjähriger floh er mit Mutter und Onkel vor einem trinkenden Vater nach Boston. Dort ging er zur Schule und begann eine Ausbildung als Maler. Anschließend arbeitete er als Tellerwäscher in Bostons Theaterviertel. Als er sich nach dem Tod der Mutter eine eigene Wohnung nicht mehr leisten konnte, zog er in ein "Shelter", ein Obdachlosenheim. Eine Zeitlang soll er auf Long Island gelebt haben, eine der Inseln, die Boston vorgelagert sind, wo es ein Obdachlosenheim und auch eine Entzugseinrichtung gibt. Obdachlos ist Michael heute jedenfalls nicht mehr. Er lebt in Charlestown, ein altes Werftarbeiterviertel.
"I leave the house at seven..."
Jeden Morgen fährt er mit dem Bus zur ‚Arbeit', den kleinen weißen Krankenhausbussen. Die sind umsonst, sagt er. Jeder kann sie benutzen:
"Yeah mum, yeah, yeah, yeah, yeah. As long as you go somewhere where the bus goes. Yeah you are on the bus. Yeah. Yeah, they go all over the place they even come by here."
Davor hat er in Lynn gewohnt, eine alte Industriestadt, die inzwischen Vorort von Boston ist.
"There are churches all over the place out there. Lynn must be a very religious place."
Ob Michael in die Kirche geht?
"I went to Sunday school a while back....I haven't been to church. I don't go to church too much, mummy, no. I don't know. It's just not my thing you know."
Zur Sonntagsschule ist er gegangen. Aber das ist schon ein bisschen her. Nein, eigentlich geht er nicht in die Kirche. Es ist nicht sein Ding. Außerdem ist er ja immer hier, um ein bisschen Cash zu machen.
"I'm always out here making a little cash..."

Michael, die "Beacon-Hill-Institution"

Ich bin verabredet mit Kate Sosin, die für die lokale Zeitung "The Boston Courant" arbeitet. Sie hat vor einiger Zeit einen Artikel über Michael geschrieben, die "Beacon Hill – Institution"– wie sie sagt:
"Nice to meet you. Nice to meet you.....Tür schließen!"
Bevor sie das Interview zusagte, hat sie erst bei Michael gefragt, ob es auch Ok ist. Es war Ok. Kate ist Ende Zwanzig, dunkelblonde Kurzhaarfrisur und Brille, sie spricht langsam und überlegt.
"I'm new to Boston, I'm from Chicago... So I ask people what matters to you and Michael matters to people."
Um lokale Themen zu finden, sagt Kate, fragt sie die Menschen, was ihnen wichtig ist und Michael, ist den Menschen in Beacon Hill wichtig. Dennoch treffen auch ihn die üblichen Vorurteile.
"Alle trauen ihm jedenfalls nicht. Auf einer Konferenz hörte ich jüngst eine üble Geschichte über Michael. Sehr hässlich, so was wie organisiertes Verbrechen. Es ist eben auch einfach, so jemanden als schlechte Person abzutun. Das ist es ja, was uns über die, die betteln, auch beigebracht wird."
Jeder, der Michael kennt, weiß natürlich, dass solche Behauptungen Quatsch sind.
"Ich habe Michael ja auf der Straße erlebt und ich fragte ihn: Was ist mit Dir? Und er: Ich habe gerade erfahren, dass eine Frau sehr krank ist. Sie hat Krebs. Das ist sehr wertvoll für eine Nachbarschaft, eine Person wie Michael, die anteilnimmt und sich erinnert."
In Amerika hätten Obdachlose und Bettler generell einen schweren Stand, betont Kate. Das gelte selbst in einer Stadt wie Boston, eine der liberalsten und europäischsten in Amerika, die weniger Obdachlose und Bettler als andere US-Großstädte hat, in der inzwischen allerdings steigende Lebenskosten viele an den Rand drängen.
"It's so difficult to cover conversations about homelessness when there is so little compassion for it. Especially here right now."
Menschen, die überfordert sind, meint Kate, flüchten in Diskriminierungen. Michael hätte da in Beacon Hill sicherlich eine Sonderstellung.
"He is so exceptional"
Dennoch fragt sich Kate: "Ob viele Michael nicht bloß den Dollar geben, um sozusagen ihre Schuldigkeit für den Tag getan zu haben."
Dass Michael auch Vorzeigebettler ist, weiß er wahrscheinlich selbst am besten.
"When they don't see me at my corner...."
Wobei schwer zu sagen ist, was er als Afroamerikaner davon hält, in einer überwiegend weißen Wohngegend auch so was wie ein Maskottchen zu sein?
"Everybody has its own way you know..."

Hochsensibles Chamäleon

Als ich die deutsche Biologin Barbara nach Michael frage, die ihn jeden Tag sieht, weil sie in dem Appartementhaus über Starbucks an der Ecke Charles und Beacon Street wohnt, nennt sie Michael ein hochsensibles Chamäleon, das sich perfekt seiner Umgebung und der Stimmung seiner Kunden anzupassen weiß. Mehrere Male habe er ihrer hilfsbereiten und großzügigen Mutter mit der Masche, er brauche noch zwei große Scheine, um endlich nach Hause gehen zu können, schon 20 Dollar abgeluchst. Bei aller Empathie ist auch Michael nicht trick-frei. Er verkauft Illusionen, macht sein Geschäft mit dem Mitleid - lässt die Spender sich gut fühlen.
"Hey honey!..Give them a little laugh..."
Er hat ein hoch-professionelles Gespür dafür entwickelt, bei wem er wann nach was fragen kann. Wer sozusagen die 20-Dollar-Jungs sind, eben die aus Beacon Hills millionenschweren "Townhouses" und wer für die 25 Cents zuständig ist.
"When people say: Oh I'm sorry that's all I have I say: Hey thank you. I appreciate it. All right!
Viele halten ihre Dollarscheine schon bereit, bevor sie an ihm vorbeikommen.
"Oh there are five bugs coming down the street....".
Wie viel Michael tatsächlich verdient? Ich frage ihn nicht. So wie ich andere auch nicht nach ihrem Gehaltsscheck frage. Mit ihm 'on the set' zu stehen, wie er es nennt, ist – jedenfalls bei gutem Wetter -, als würde man einen älteren Signore auf den Marktplatz begleiten. Da jeder jeden kennt, trifft man auch gleich gemeinsame Bekannte. Was Michael amüsiert:
"Sag mir nicht, Du kennst meine Mum auch".
Die Zuneigung zu erleben, die ihm entgegengebracht wird, ist geradezu anrührend. Vor allem "mummies" gibt es endlos viele.
"All these ladies...How many girlfriends you got? He has this little black book, I think."
Jetzt steckt ihm schnell noch eine andere "Mummy" was zu, bevor sie ihre Kinder abholt.
Dann kommt ein Freund von ihm.
"Hey Bow, hey Hey. budy...I love you man. He is good, mum. He is a construction worker, he works on the street."
Nach einer Stunde sagt Michael plötzlich: Er müsse wieder arbeiten. Betteln geht wahrscheinlich besser allein. In der einen Stunde hat er sechs Dollar gemacht. Nicht sonderlich viel!

Michael gestaltet ein Stück öffentlichen Raum

Am nächsten Tag treffe ich den Anwalt Mark Kiefer, der in der Nachbarschaft sehr involviert ist, oft selbst bei Starbucks arbeitet, allerdings innen und mit Laptop.
"I have been here for 23 years, almost 24."
Auch Mark kann sich kaum mehr an eine Zeit ohne Michael erinnern. Dass Beacon Hill als homogene Domäne der Reichen gilt, hält Mark für ein bedauerliches Stereotyp.
"The north slope of Beacon Hill in the eighteen and nineteen century was a thriving African-American community. And was the epicenter of the abolitionist movement that eventually abolished slavery in this country. And again that is a legacy we are very proud of."
Beacon Hills ökonomische und politische Vielfalt habe eine lange Tradition. Zu der trägt gleichsam auch Michael bei. Er kassiert, könnte man sagen, auch dafür, dass er ein Stück öffentlichen Raum gestaltet.
Für zwei, drei Tage muss Michael nur mal an seiner Ecke nicht auftauchen - schon ist nicht nur seine Fangemeinde in größter Aufruhr und Sorge, ob mit ihm alles gut ist. Dann merkt jeder, dass der Ecke plötzlich ihr Leben fehlt.
Ihn zu unterstützen, erscheint fast wie Bürgerpflicht. Das sagt Mark allerdings nicht. Das familiäre Wunder, das Michael täglich an seiner Ecke aufführt, erklärt sich für ihn allein mit Michaels Persönlichkeit.
"Ich glaube auch nicht, dass er es allein wegen des Geldes macht. Wahrscheinlich kriegt er an einem Tag mehr Umarmungen als die meisten Menschen in einem Monat und das lässt einen geradezu demütig werden. Er scheint etwas sehr Fundamentales über menschliche Beziehungen verstanden zu haben."
Mark fügt hinzu:
"Wenn du einen Freund brauchst, ist der beste Weg, ein Freund zu sein, und Michael ist sehr, sehr gut darin."
Am Ende zitiert Mark aus dem amerikanischen Weihnachts-Klassiker "It's a wonderful Life" – "Ist das Leben nicht schön?" die Zeile: 'Niemand ist ein Versager, wenn er Freunde hat.'

Horden von Touristen ziehen an Michael vorbei

Als ich Michael das nächste Mal an seiner Ecke treffe, möchte ich ihn am liebsten gleich umarmen – als wäre er wirklich der strahlende Stern, der sich als Bettler verkleidet unter die Menschen gemischt hat. Michael sieht allerdings erschöpft aus - kleiner und schmächtiger als sonst. Während Horden von Touristen an ihm vorbeiziehen, ohne ihn zu beachten, sitzt er – in der Hand sein Plastikbecher, halb gefüllt mit Kleingeld und einigen Dollarscheinen, - wie ein bettelnder Niemand auf der Treppe bei Starbucks.
"I'm tired, mum. I went to the movie last night. So I don't go anywhere today. Okay!?"
Müde blinzelt er unter der Baseballmütze hervor. Er wirkt plötzlich bemitleidenswert. Im Kino ist er gewesen, sagt Michael. Das macht er hin und wieder.
Dann erzählt er von einem Freund, der zwei Straßen weiter auf der Cambridge Street bettelt. Der habe eine Krücke. Michael scheint zu überlegen, ob eine Bettelstab-Krücke hilfreich ist. Oder ob er sich, wie eine ältere Dame es ihm vorgeschlagen hat, einen Stuhl anschaffen soll? Er lacht. Ein Bettler mit Stuhl geht irgendwie nicht. Zu bequem. Ob ich ihm etwas zu Trinken bringen kann?, frage ich.
Nein, sagt er, er ist zufrieden. Gleich wird jemand mit einem Tee rauskommen.
Eine Viertelstunde später steht ein lächelnder Mitdreißiger mit Tee in der Hand auf der Treppe.
"Here you are buddy."
"Thank you my buddy, sir! Lachen. See what I mean, mum. Now I got my tea, mum."
Sprecherin
Dann schiebt ein "Young Urban Professional" einen Kinderwagen vorbei. Auch ihm fällt auf, dass Michael müde aussieht.
Besorgt erkundigt sich der Mann, ob alles in Ordnung ist. Michael sagt "Yeah" und fragt – gleich wieder ganz der wache Profi - nach ein paar Scheinen. Cash hat der Vater nicht dabei, verspricht aber beim nächsten Mal, was zu geben.

Warum Michael gern ins Kino geht, will ich wissen?
Das kennst Du doch von Dir, sagt er. Wenn man immer unter Menschen ist, will man manchmal für sich allein sein. Deswegen geht er ins Kino.
So viele Menschen kämen täglich an ihm vorbei, und nicht jeder könne was geben. Das erschöpft ihn. Er weiß auch nicht. Dann muss er manchmal einfach weg. Da er aber nicht kurz mal nach Hause – ans andere Ende der Stadt nach Charlestown - fahren kann, denn dann würde er wirklich Geld verlieren, geht er ins Kino.
"Then I would really be losing money. So I just go to the movies."
Am nächsten Tag steht er wieder in alter Frische an seiner Ecke, auch am über- und überübernächsten. Ob von ihm irgendwann mal eine Postkarte aus Florida kommt? Er einfach abdampft, und seine Familie in Beacon Hill, seine "Hons", "Sweeties", "Mammies","Buddies", "Pals" und "Daddies", allein zurücklässt? Wahrscheinlich nicht.
"I will be right here", sagt er zum Abschied. So wird es sein.

"Michael ist eine amerikanische Geschichte, aber auch eine Geschichte, die davon erzählt, wie Menschlichkeit in unseren Alltag kommen kann. Wir können mit ihm eine neue Währung lernen, die Währung Menschlichkeit. Nicht zu vergessen: Michael ist kein Romantiker, er ist ein Profi - vielleicht auch ein Aufklärer."

Nora Sobich
© privat
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