Mia Hansen-Løve über "Bergman Island"

Emanzipiert mit Ingmar Bergman

13:40 Minuten
Die französische Filmregisseurin Mia Hansen-Løve in Cannes, 2021.
Im Juli stellte Mia Hansen-Løve ihren Film "Bergman Island" in Cannes vor. © picture alliance / dpa / abaca / Niviere David
Moderation: Patrick Wellinski · 06.11.2021
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Die französische Regisseurin Mia Hansen-Løve hat auf der schwedischen Insel Fårö den Film "Bergman Island" gedreht. Das allgegenwärtige Gefühl von Regisseur Ingmar Bergman hat sie dabei ihre innere Freiheit finden lassen, sagt sie.
Ein Regiepaar auf der Ostseeinsel Fårö: Chris und Tony sind eingeladen zur jährlich stattfindenden Bergman-Woche. Die beide wollen vor Ort auch an ihren neuen Projekten arbeiten und dürfen dafür im alten Wohnhause von Regielegende Bergman übernachten. Die beiden Regisseure spüren, wie sehr das Werk und das Leben von Ingmar Bergman untrennbar mit dieser kleinen Insel verbunden ist.
Auch für Chris wird diese Insel im Spielfilm "Bergman Island" von Mia Hansen-Løve zu einem Ort, in dem sie mit ihren eigenen Dämonen konfrontiert wird. Kann sie kreativ und produktiv sein, und dabei eine gute Mutter und tolle Ehefrau? Wo sind Grenzen – ihre eigenen und die von außen auferlegten? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt von "Bergman Island", der seit Donnerstag in unseren Kinos zu sehen ist. Vorab haben wir mit der Regisseurin gesprochen.
Patrick Wellinski: Was ist Ihr Verhältnis zum Kino von Ingmar Bergman?
Mia Hansen-Løve: Ich würde zunächst sagen, dass sich mein Verhältnis zu seiner Arbeit durch die Arbeit an "Bergman Island" stark verändert hat. Ich hatte vor den Dreharbeiten eine leidenschaftliche Beziehung zu seinen Filmen. Aber durch die Zeit, die ich auf Fårö verbracht habe und durch die Begegnung mit Bergmans Weggefährten, ist mein Verhältnis zu seinem Werk und zu seinen Gedanken wesentlich intimer geworden. Jedenfalls empfinde ich das so.
Ich würde aber nie sagen, dass ich eine Erbin seines Kinos bin. Meine Filme sehen nicht aus wie seine. Ich mache nichts nach. Dennoch fühle ich mich diesem Kontinent Bergman verbunden. Man ist ja auch nie fertig mit diesem Werk. Es gibt so viele Filme, die ich immer wieder sehe. Mein Verhältnis zu ihm scheint ein Work-in-Progress zu sein. Obwohl Bergman auch schon tot ist, ist das Werk so lebendig für mich. Das unterscheidet ihn von so vielen anderen. Seine Filme sind nicht gestrig, sie haben sehr viel mit der Gegenwart zu tun.

Wellinski: War denn Ingmar Bergmans Werk auch der Ursprung für "Bergmans Island" oder hat sich dieses komplexe Beziehungsgeflecht erst entwickelt?
Hansen-Løve: Das hat sich erst entwickelt. Ich wollte ein filmisches Doppelporträt einer Regisseurin machen, in dem sich ihr Leben in ihrer Arbeit spiegelt. Denn es geht ja um die Emanzipation meiner Hauptfigur Chris. Das war der Ursprung meines Films. Daher war das auch biografisch geprägt. Ich wollte davon erzählen, welche Bedeutung das Kino für mich hat und wie der Entstehungsprozess eines Films die Leidenschaft ändert und prägt.
Ich wollte davon erzählen, wie ich Filme drehe, welche Bedeutung Drehorte auf die Geschichten haben, wie ich mit jeder kreativen Entscheidung kämpfe. Und natürlich wollte ich auch zeigen, wie diese Arbeit mich zwingt, eine Balance zwischen Künstlerleben und Familienleben zu finden. Erst als wir entschieden haben, diese Geschichte auf Fårö spielen zu lassen, kam Bergman ins Drehbuch. Es passierte noch mehr: Meine ganzen Ideen fügten sich, als würde der Bezugspunkt Bergman meine fragmentarischen Fiktionsideen in ein Ganzes gießen. Erst dann begann der Film.
Wellinski: Wie Sie bereits erwähnt haben, besteht der Film aus unterschiedlichen Ebenen. Realität, Traum, Film-im-Film; Dabei entwickeln sie eine sehr leichte Art, sich zwischen diesen Ebenen zu bewegen. Da ist Freiheit. Spiegelt das vielleicht das Gefühl, das Sie auch beim Schreiben des Films gefühlt haben?
Hansen-Løve: Ja! Und danke, dass Sie das so formuliert haben. Denn ich habe mich selten so frei gefühlt. Die Arbeit an diesem Drehbuch war selbst sehr emanzipatorisch für mich. Das hat auch viel mit der Insel Fårö zu tun. Ich habe alles dort geschrieben. Das muss 2016 gewesen sein. Und ich bin immer noch fasziniert davon, wie frei ich mich damals dort gefühlt habe. Es ist das Gegenteil dessen, was man vielleicht erwarten würde. Man sitzt da im Haus von Ingmar Bergman und denkt, dass sein Geist diese Räume ausfüllt. Ich dachte, das wäre eine Last, weil man diesem Genie irgendwie gerecht werden möchte.
Es war eine Angst, die ich als verletzliche und grübelnde Regisseurin hatte. Aber das war nicht so. Ich fühlte mich sicher und beschützt. Es öffneten sich plötzlich künstlerische Türen für mich, die mir ewig verschlossen schienen. Und das alles gelang wie von selbst, völlig ohne Anstrengung. Fårö und die Atmosphäre der Insel haben das erlaubt. Und ich versuche, dieses Gefühl jetzt immer wieder aufzurufen, wenn ich an meinem nächsten Projekt arbeite. Es wäre gut, ohne die üblichen Versagensängste und Hemmnisse zu arbeiten. Vielleicht gab es die ja auch damals 2016 auf der Insel. Aber ich habe sie vergessen und erinnere mich nur an dieses Gefühl der Freiheit. Das ist die Magie von Fårö: Eine Einladung zur Meditation über den kreativen Prozess und ein Sieg der Freiheit über die Angst.

"Ich wollte diesen Konflikt zeigen"

Wellinski: Diese Freiheit ist ein Ergebnis eines Emanzipationsprozesses. Und das bringt uns ja zu ihrer Hauptfigur Chris, die sehr große Schwierigkeiten hat, alles unter einen Hut zu bringen: Sie will eine gute Regisseurin sein, eine gute Ehefrau, eine tolle Mutter. Sie ist gequält von Ängsten, sie zögert und zaudert. Wie schwierig ist es, gerade für Künstlerinnen mit Erwartungen und eigenen Ansprüchen umzugehen? Wie sehr stehen diese inneren Prozesse im Gegensatz zum Arbeiten selbst?
Hansen-Løve: Es ist wahr, dass ich diesen Konflikt zeigen wollte. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das von vornherein als universelle Beschreibung weiblicher Zweifel und Schaffensängste verstanden habe. Ich hatte das nie geplant. Es ist am Ende aber im Skript drin gewesen. Also die Tatsache, dass es schwer ist für Frauen, narzisstisch veranlagt zu sein und dennoch eine Mutterrolle auszufüllen oder eine Familie zu haben und dennoch an dem künstlerischen Prozess teilzunehmen. Ich war mir gar nicht bewusst, wie stark meine Geschichte die Frage nach weiblicher Autorenschaft stellt.
Jetzt weiß ich es, weil es ja in allen Kritiken drin steht, weil in Interviews immer danach gefragt wird. Ich kann es jetzt nicht leugnen. Und ich will mich auch gar nicht darüber beschweren. Es ist mir aber wichtig, zu sagen, dass ich meinen Film nie als Anklage verstehen wollte. Ich wollte mich nicht über das Patriarchat beschweren, Männer pauschal verurteilen. Also Männer wie Ingmar Bergman, der so viele Kinder gezeugt hat, sich kaum um sie gekümmert hat, und sich den Luxus nahm, dennoch ein hochkreatives Leben zu führen. Ich verurteile das nicht. Es ist unfair, aber darauf wollte ich nicht hinweisen. Ich wollte meine Sicht auf diese Tatsachen zeigen, indem ich betone, wie es ist für Frauen, all das zu wollen, was Bergman hatte und dabei zu merken, dass dies kaum, nie oder nur sehr anders zu haben ist. Es sind andere mentale und psychische Prozesse, mit denen Frauen konfrontiert sind. Das sind Effekte, die kulturell und politisch bedingt sind, aber sie haben auch eine existenzielle Grundlage.

Bevor ich Kinder hatte, da hatte für mich meine Arbeit den Nimbus des Absoluten. Ich konnte mir nicht anderes vorstellen. Kunst war das Wichtigste – und die Liebe selbstverständlich. Aber wenn Kinder da sind, öffnet sich ein neuer mentaler Raum. Ich bin im permanenten Balancieren zwischen meinen Sehnsüchten als Künstlerin und den Notwendigkeiten, eine Mutter zu sein und für meine Kinder so gut wie möglich zu sorgen. Das ist sicher auch das Thema meines Films, wir reden ja gerade darüber, aber mir wäre noch wichtig zu betonen, dass dies eher indirekt ein Film darüber ist. Es ist eher das Geheimnis im Kern des Films. So direkt als Manifest habe ich den Film nicht angelegt.

Die Jagd nach dem Mysterium Bergman

Wellinski: Genau, denn das offensichtliche Thema des Films ist die Frage nach dem Verhältnis von Leben und Fiktion und was das für bedeuten kann. Es gibt eine tolle Szene. Es gibt eine Bergman-Safari auf der Insel, in der man Drehorte besucht, und die Fans im Bus wollen unbedingt das eine Haus sehen, in dem Bergman diese eine Szene gedreht hat. Aber das Haus gibt es nicht. Nur im Film. Wonach suchen wir eigentlich, wenn wir nach Dingen suchen, die nur in der Fiktion existieren?
Hansen-Løve: Ich habe selber diese Bergman-Safari gemacht. Sogar ein paar Mal, um den Film vorzubereiten. Und ich habe währenddessen viel Sympathie für diese Menschen entwickelt, weil ich auch so eine Suchende bin, die ständig auf der Jagd ist und Dinge finden will, die ich in Filmen gesehen habe. Ingmar Bergman löst das besonders stark aus, weil seinen künstlerischen Schaffensprozess so eine mystische Aura umgibt. Er hat ja 50 Spiel- und Dokumentarfilme gedreht, Bücher geschrieben und regelmäßig große und wichtige Theater- und Opernproduktionen auf die Beine gestellt. Und nicht zu vergessen die neun Kinder, die er gezeugt hat. Für mich ist es immer noch ein verblüffendes Mysterium und es bleibt dann doch unvorstellbar, wie Männer so viel "(er)schaffen" können ...
Aber um auf die Safari zurückzukommen: Die Jagd nach diesem Mysterium treibt diese Menschen an. Es hat ja auch was Romantisches zu denken, dass man die Magie des Films in unserer Welt finden können. Es gibt zwei Arten der Suche. Das eine ist die Cinephile. Das treibt die Safari-Besucher an. Und auch ich bin eine Cinephile und daher verstehe ich diesen Drang. Aber es gibt auch die Suche nach meiner eigenen, inneren künstlerischen Sensibilität. Was heißt das Kino für mich? Für mein Leben? Dieser Prozess interessiert mich mehr. Wie finde ich das, was ich als Künstlerin sagen möchte? Ich habe vor einigen Jahren in Interviews gesagt, dass das Kino mein Leben gerettet hat. Und das wurde nicht verstanden. Und ich denke, dass "Bergman Island" für mich ein Weg ist, noch mal zu erklären, was ich damit meine.
Denn das Kino ist für mich nicht nur eine Kunst, es ist eine Lebenskunst. Kino und das Leben sind stark verbunden für mich und ich genieße diese verschlungenen Wege, die das für meinen Alltag produziert. Manchmal ist es sogar gefährlich, das eigene Leben mit dem Filmleben zu vermischen. Manchmal weiß ich gar nicht mehr, wer ich bin und wo ich bin – lustigerweise handeln Bergmans Filme auch davon.
Sehen Sie sich "Persona" an! Ich wollte "Bergman Island" machen, um das alles auf den Punkt zu bringen, die Komplexität aufzuzeigen, die dieses Leben für eine Frau bedeuten kann. Und gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass das, was ICH über das Filmemachen und das Kinoleben sagen wollte, dass dies noch nicht gesagt und gezeigt wurde. Nennen Sie mich naiv und ich weiß, dass es wichtige und viele Filme über das Filmemachen gibt – aber ich hatte das Gefühl, dass meine Sicht der Dinge noch nicht artikuliert wurde. Deshalb habe ich diesen Film gemacht.
Wellinski: Diese Verbindung von Innen/Außen, Kino/Leben, das erinnerte mich daran, dass ich vor ein paar Jahren mit Liv Ullman sprechen konnte, und sie erzählte mir, dass Bergman so unnahbar war. Sie sagte, er war eine Insel. Und in seinen Filmen ist die Insel so düster, schwarz-weiß, harsch und abweisend. Ihre Insel erinnert an eine griechische Insel. Ihr Fårö ist hell, luftig und sonnig.
Hansen-Løve: Genau, weil ich die Insel so erfahren habe. Wenn ich die Insel von Bergman reproduziert hätte, hätte ich einen Dokumentarfilm gemacht, aber die gibt es ja schon. Es bringt nichts, Bergmans Vision von Fårö nachzuahmen. Die Insel ist bis heute von ihm besetzt. Man meint, seine inneren Dämonen zu spüren, die Bergman dort herausgelassen und inszeniert hat. Aber ich hatte das Gefühl, dass es auch noch Platz für meine Dämonen gibt, für meine Ideen. Es gibt also mehr als eine Insel auf Fårö. Oder ich habe eine andere Insel imaginiert. Ich wollte mit dieser Dialektik spielen, wollte dialogisieren mit Bergmans Vision und meiner. Ich musste mich selbst auf dieser Insel wiederfinden.
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