#MeToo

Warum es in der Popbranche so still blieb

Eine junge Frau hält ein Smartphone mit dem Hashtag "#MeToo" in der Hand
Unter dem Hashtag #MeToo wenden sich Frauen gegen sexuelle Belästigung. © picture alliance / dpa / Britta Pedersen
Ann Powers im Gespräch mit Christoph Reimann · 27.12.2017
Sexuelle Belästigungen und sexueller Missbrauch seien in der populären Musik tief verwurzelt. Deshalb habe die #MeToo-Kampagne bislang wenig Resonanz erzeugt, sagt die US-Journalistin Ann Powers. Aber: "Es dauert ein bisschen, den Ball ins Rollen zu bringen, aber es passiert."
Christoph Reimann: Eines der wichtigsten Themen in diesem Jahr war die #MeToo-Kampagne. Aus der Popmusik kam allerdings relativ wenig. Die großen Künstlerinnen meldeten sich kaum zu Wort, von den männlichen Musikern ganz zu schweigen. Wie erklären Sie sich das?
Ann Powers: Ich denke, dass sexuelle Belästigung und sexueller Missbrauch seit der Ära des Rock ’n’ Roll tief in der Geschichte der populären Musik verwurzelt sind. Wir haben uns fast schon daran gewöhnt, dass Frauen angegrapscht werden oder dass man ihnen hinterherpfeift. Die geringe Beteiligung von Frauen an der #MeToo-Kampagne liegt demzufolge daran, dass es erst mal ein bisschen braucht, bis man feststellt, wie sexistisch die amerikanische Popkultur überhaupt ist.
Aber ich denke auch, dass sich im Moment etwas ändert. In diesem Jahr gab es gleich ein paar Alben von Musikerinnen, die sich gegen das Ungleichgewicht von Macht ausgesprochen haben: Kesha zum Beispiel, die ihrem Ex-Produzenten Dr. Luke sexuellen Missbrauch vorwarf und gerichtlich gegen ihn vorging. Ihr neues Album "Rainbow" erzählt, wie sie mit dieser belastenden Geschichte umgegangen und schließlich daran gewachsen ist. Auch im Indie-Rock gab es tolle Alben, etwa von Allison Crutchfield oder ihrer Schwester Katie Crutchfield, die unter dem Namen Waxahatchee Musik macht. Auf ihren Alben geht es jeweils um das Ende einer Beziehung, aber auch, wie man Stärke daraus zieht. Selbst das neue Album von Lorde, "Melodrama", dreht sich um solche Themen: wie es ist, eine junge Frau zu sein, das Gefühl zu haben, eine Last für andere zu sein, eine Beziehung zu beenden, die einem nicht guttut. Ich denke, im nächsten Jahr werden noch mehr #MeToo-Beiträge aus der Popmusik kommen.
Reimann: Als die Kampagne hochkochte, haben Sie für den amerikanischen Radiosender NPR eine Liste von Songs zusammengestellt, die selbst #MeToo-Beiträge hätten sein können. Lieder von Tori Amos und Fiona Apple etwa, in denen es um Vergewaltigungen geht. Diese Songs existieren seit Jahren. Aber es scheint so, als würde die breite Öffentlichkeit darüber hinwegsehen oder sie nicht ernst nehmen.

Es wird auch den Mainstream erreichen

Powers: Amerikanische Populärmusik ist ein weites Feld, das von Graswurzelbewegungen im Indie-Bereich bis zum Mainstreampop reicht. Im Indie-Bereich gab es zuletzt tatsächlich einige Fälle, in denen Männern sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen wurde. Einem der beiden Mitglieder der queeren Band PWR BTTM zum Beispiel, dann Jesse Lacey von der Rockband Brand New. Dann einem der Mitglieder von Pinegrove. Diese Typen müssen jetzt damit klarkommen, dass sich Frauen gegen ihr Verhalten zu Wehr setzen. Auf der Graswurzel-Ebene gibt es das also schon, und ich glaube, es wird auch den Mainstream erreichen. Im Moment gibt es zum Beispiel die Kontroverse um den Hip-Hop-Mogul Russell Simmons, dem verschiedene Frauen sexuellen Missbrauch vorwerfen. Also, noch mal: Es dauert ein bisschen, den Ball ins Rollen zu bringen, aber es passiert.
Reimann: In Schweden und Australien gab es groß angelegte Unterschriftenaktionen, in Deutschland und den USA gab es nichts Vergleichbares. Hätten Sie sich einen größeren Aufschrei gewünscht?
Powers: Ich wünschte, es gäbe ein größeres feministisches Bewusstsein, gerade im Mainstream-Pop. Aber ich denke, hier muss man zwei Dinge hervorheben: Erstens ist es wichtig, dass die Männer, denen Vorwürfe gemacht werden, ein ordentliches, rechtstaatliches Verfahren bekommen. Zweitens: Solche Bewegungen brauchen Zeit. Die "New York Times" hatte die Harvey-Weinstein-Geschichte sehr genau und sorgsam aufgeschrieben. Das hat den Grundstein dafür gelegt, dass sich weitere Frauen in Hollywood zu Wort melden konnten. Ich denke, dass auch in der Populärmusik ähnlich Artikel in Vorbereitung sind. Auch wenn Popmusik die Bewegung nicht anführt, wird sie von ihr verändert werden.

Mehr Produzentinnen, mehr Soundtechnikerinnen

Reimann: Sind denn die Machtverhältnisse in der Musikindustrie mit denen in der Filmindustrie vergleichbar?
Powers: Ja, das Ungleichgewicht zwischen einer Interpretin und einem Musikproduzenten kann ganz ähnlich aussehen wie zwischen einer Schauspielerin und einem Regisseur. Besonders, wenn es sich um junge Frauen handelt, die von männlichen Produzenten beraten beziehungsweise ausgebeutet werden. Eine Sache, die sich grundlegend ändern muss, ist die Anzahl von Frauen, die hinter den Kulissen arbeiten: Wir brauchen mehr weibliche Produzenten, mehr Soundtechnikerinnen, mehr Studiomusikerinnen. Denn wenn eine Frau in diese männlich dominierte Sphäre eintritt, kann das für sie sehr unangenehm sein.
Reimann: Und wie kommen wir dahin?
Powers: Ich glaube, man muss ganz früh anfangen. In den USA gibt es zum Beispiel die Rock Camps. Dort lernen Mädchen im Alter von acht bis zwölf Jahren von vorwiegend weiblichen Dozenten, wie man ein Instrument spielt, dass auch sie Bandleader sein, ein Mischpult bedienen, Schlagzeug spielen können, sich also nicht nur auf die klischierte Rolle der Sängerin reduzieren lassen müssen.
Außerdem müssen wir, ebenfalls so früh wie möglich, Jungen zeigen, dass man Aufgaben in einer Band mit Frauen teilen kann. Ich sehe immer mehr Bands von Teenagern, in denen junge Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Sie teilen sich die Songwriting-Rechte, sie lassen einander denselben Raum auf der Bühne. Ich glaube, das ist total wichtig.
Reimann: Popmusik – das zeigen Sie in Ihrem neuen Buch "Good Booty" recht überzeugend – hat Frauen und sexuellen Minoritäten zu neuen Freiheiten verholfen. Wie kommt es dann, dass diese Branche nicht weniger frei von Sexismen ist?
Powers: Wann immer man sich in einem Raum bewegt, der sich gegenüber sexuellem Begehren und Sinnlichkeit öffnet, wird es Leute geben, die diese Offenheit im negativen Sinne nutzen und Grenzen überschreiten. In meinem Buch "Good Booty" versuche ich zu zeigen, wie die Freiheit, die Popmusik bietet, immer in Verbindung steht mit stärkeren Formen der Unterdrückung.
Das gilt nicht nur für Sexismen, sondern auch für Rassismen. Denn die amerikanische Populärmusik ist vor allem afrikanisch-amerikanische Musik. Ihre Geschichte begann mit Afrikanern, die hier als Sklaven ankamen. Die Ausdauer dieser Menschen, sich gegen Unterdrückung zu Wehr zu setzen und ihr eigenes kulturelles Erbe auch musikalisch zu wahren, hat uns einen großen Reichtum beschert.
Und das gilt auch in Hinblick auf Frauen. Frauen können in ihren Songs schon lange ihre Sexualität thematisieren oder über Dinge singen, die sonst ungehört blieben. Die breite Gesellschaft hat das aber nicht verändert. Das hat nicht zu gleichen Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen geführt, weder im Kapitalismus noch in der Familie. Der symbolische Raum der Populärmusik führt zu einer provisorischen Freiheit, nicht zur absoluten Freiheit.

"Ich meine, den Backlash schon spüren zu können"

Reimann: Die Geschichte der Popmusik – auch das zeigen Sie in Ihrem Buch – ist geprägt von Fortschritt und Rückschritt. Was meinen Sie, in welcher Phase befinden wir uns im Moment?
Powers: Unsere Gesellschaft bewegt sich so rasend schnell, vor allem mit dem Internet, dass Fortschritt und Gegenreaktion fast untrennbar voneinander sind. Dass die #MeToo-Geschichten erzählt werden, fühlt sich fortschrittlich an. Aber ich meine, den Backlash schon spüren zu können. Und ich hoffe, dass wir, als Gesellschaft, ihm Widerstand leisten können.
Reimann: Ein Backlash personifiziert in Trump – oder wo sehen Sie ihn?
Powers: Sicher haben die Politik der USA und ganz generell der Ausgang von Wahlen auf der ganzen Welt einen erheblichen Einfluss auf das Leben eines jeden Einzelnen. Gleichzeitig denke ich, dass neue Technologien unser Leben noch weitaus stärker verändern können. Die ersten Digital Natives werden jetzt erwachsen. Sie haben viel Zeit im Internet verbracht, haben als Avatare gelebt – das bringt ein anderes Identitäts- und Freiheitsverständnis mit sich, von dem wir profitieren werden. Das wird unsere Vorstellungen von Mann und Frau verändern.
Ich mag es, vorauszublicken, nicht nur den Moment zu analysieren. Vielleicht macht mich das optimistischer, vielleicht höre ich mich daher manchmal nach Science Fiction an. Aber so sehe ich die Welt.
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