Metaphysische Lyrik

Rezensiert von Katharina Döbler · 24.08.2006
Zu ihren Lebzeiten hat die amerikanische Dichterin Emily Dickinson nur sieben Gedichte veröffentlicht. Erst nach ihrem Tod wurde ein Großteil ihrer Gedichte, mehr als 1700, entdeckt. In ihrer Lyrik streift Dickinson Grundfragen der Existenz wie Tod und Entsagung. Ihre Gedichte sind so modern und formal offen, dass die jetzt erschienene deutsche Übersetzung eher hausbacken und unbeholfen klingt.
Emily Dickinson ist eine der seltsamsten Dichterinnen der Weltliteratur. Ihr ganzes Leben (1830 bis 1886) verbrachte sie im Haus ihres Vaters in Amherst/Massachusetts. Sie wurde puritanisch-fromm erzogen, lebte äußerst zurückgezogen und schrieb ein umfangreiches und vielschichtiges lyrisches Werk nur für die Schublade: eine menschenscheue, stets in weiß gekleidete kleine Frau, die kaum einer kannte.

Zu ihren Lebzeiten erschienen gerade einmal sieben Gedichte; aber sie pflegte ihren Freunden welche zu schicken, Briefen beigelegt. Nach ihrem Tod fand man vierzig selbstgebundene Büchlein mit Gedichten. Die aktuelle Zählung, nach der letztgültigen Herausgabe ihres Werks kommt auf etwa 1788. Diese Zahl bleibt ein wenig im Ungefähren, da zahlreiche Fragmente existieren, verschiedene Fassungen, Entwürfe.

Und was die einsame Dame in Massachusetts Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb, ist so modern und formal so offen, dass die Grenzen zwischen Notat und Gedicht nicht für jeden Forscher stets eindeutig waren.

Emily Dickinson zu lesen ist etwas Besonderes. Die deutsche Übersetzerin und Herausgeberin der aktuellen Ausgabe, Gunhild Kübler, spricht von einer "beinah körperlich spürbaren Intoxikation", die die Lektüre Dickinsons mit sich bringe. Der Eindruck ist stark und nachhaltig: Kaum ein Gedicht erschließt sich auf den ersten Blick und manches auch nicht nach dem zehnten.

Es ist eine Herausforderung, sich mit ihnen zu beschäftigen, denn sie öffnen ihren Lesern die Welt eines erstaunlich unabhängigen Geistes, der sich voller Poesie und Mut Fragen stellte und Einsichten formulierte, vor denen die meisten Menschen sich fürchten. Da geht es nicht nur um das Wesen der Literatur, sondern auch um Bedingungen des Lebens, um die Verfasstheit des Menschen, um seinen Platz in der Welt, in der Natur. Es geht um Verzicht und Einsicht in die eigene Begrenztheit.

Emily Dickinsons Lyrik wurde oft als metaphysisch bezeichnet; und sie ist es weniger in einem religiösen Sinne, als in einer ständigen und vielseitigen Annäherung an das grundsätzliche Geheimnis jeder menschlichen Existenz. Dabei sind ihre Beobachtungen so weitreichend wie vieldeutig formuliert.

Ihr spezielles Stilmittel ist der Gedankenstrich, der manchmal einen Bruch, manchmal einen Übergang, mal ein Paradoxon, mal eine Intensivierung einleiten kann. In ihren späteren Gedichten versteckt sich fast hinter jeder vermeintlichen Auflösung eine andere Frage, eine weitere Möglichkeit, eine neue Ambivalenz. Übersetzbar ist eine solche Lyrik nicht.

Die zahlreichen Bedeutungsebenen, die das Englische, zumal das Dickinsonsche, in täuschend einfachen und kurzen Formulierungen herstellen kann, sind im Deutschen kaum oder nur andeutungsweise und interpretatorisch wiederzugeben.

So ist auch Gunhild Küblers Übersetzung, die oft hervorragende und überzeugende Lösungen findet, im Vergleich zum Original doch schwerfällig und gewunden; und mehr der deutschen Lyrik jener Zeit verwandt als der so erfrischenden Modernität Dickinsons.

Emily Dickinson: Gedichte
Neu übersetzt von Gunhild Kübler
Hanser Verlag, München 2006
559 Seiten, 45 Euro