Messner: Kletterhallen haben nichts mit Alpinismus zu tun

Reinhold Messner im Gespräch mit Ulrike Timm · 16.07.2012
Viele Hobby-Kletterer überschätzen nach Auffassung des Extrembergsteigers Reinhold Messner ihr Können und sollten sich demzufolge nicht in schwierige, steile Gebirge begeben.
Ulrike Timm: Am Wochenende erfroren zwei Menschen am Mont-Blanc-Massiv, sie waren auf einem Grad in einen Sturm gekommen. Und bereits am Donnerstag wurden neun Menschen dort von einer Lawine verschüttet. Diese Lawine war, nach allem, was man weiß, auch für erfahrene Bergsteiger nicht vorauszusehen. Die Alpinisten waren trainiert, erfahren, und sie hatten keine Warnungen missachtet.

Bei vielen Bergunfällen mit tödlichem Ausgang ist aber genau das eine Ursache für Stürze. Über tatsächliche und vermeintliche Sicherheit am Berg sprach ich am vergangenen Freitag mit Reinhold Messner, einem der bekanntesten Bergsteiger dieser Welt. Er war auf allen 14 AchtTausendern unterwegs, und ich fragte ihn, ob dieses Lawinenunglück am Mont Blanc eine Katastrophe war, wie man sie einfach nicht vermeiden kann – ein Unglück eben.

Reinhold Messner: Bei all diesen Unfällen ist es ganz schwierig, von außen konkret ein Urteil zu geben. Also, ich bin natürlich auch betroffen, und Sie können schon recht haben, was die Fachleute in Chamonix sagen, dass diese Lawine nicht abschätzbar war. Ich habe nur gehört, dass in der Nacht Nordwestwind war, der in diesen Hang – ich kenne diesen Hang, das ist der steilste Hang an dieser relativ leichten Route – Schnee hineingeblasen haben könnte. Wenn nun dort Treibschnee oder Triebschnee hängen geblieben ist und hart geworden ist, dann ist es natürlich möglich, wenn viele Menschen auf diesem Schneebrett stehen, dass es abgeht, und das ist natürlich dann der Auslöser einer Katastrophe.

Timm: Nun gibt es jedes Jahr eine ganze Reihe von Bergunfällen. Gehen oft Menschen in den Bergen ans Limit, die gar nicht wissen, wo ihr persönliches Limit liegt?

Messner: Also in einem haben Sie vielleicht recht: Die Regel "Das Können ist des Dürfens Maß", das ist die Grundregel des Bergsteigens, des klassischen Bergsteigens, aufgestellt schon vor mehr als 100 Jahren, zum Teil nicht eingehalten wird. Die Leute klettern heute in der Halle, sie klettern in Klettergärten. Sie klettern sehr gut, sind sehr gut ausgerüstet, aber es fehlt ihnen die Erfahrung im Umgang mit der wilden Natur.

Der Berg ist ein Gefahrenraum. Das heißt, so lange Menschen auf die Berge steigen, wird es Tote geben. Weil das letzte Restrisiko nicht auszuschalten ist, auch vom besten Bergsteiger. Und das heißt, ich muss bei einer Bergtour unentwegt achtsam sein, alle Sinne wach haben. Ich muss meine ganze Lebenserfahrung als Bergsteiger sozusagen im Rucksack mittragen und abwägen, gehe ich weiter, gehe ich zurück. Ich war beim Klettern mit meinem Sohn in einer schwierigen Dolomitenwand. Es kam um die Mittagszeit schon ein dichter Nebel auf, und wir haben lange überlegt, sollten wir absteigen, abseilen, weil sonst der Blitz kommen könnte. Wenn es blitzt und ich bin auf einem Gipfel gerade, ist es möglich, dass mich dieser Blitz einfach vom Grat schleudert und ich abstürze.

Timm: Was halten Sie denn von organisierten Bergtouren für Touristen im Hochgebirge. Kann ein Bergführer überhaupt die Verantwortung für andere Menschen übernehmen?

Messner: Also ein Bergführer übernimmt einen größeren Teil der Verantwortung. Er kann nicht alle nehmen. Auch zwischen dem Gast und dem Bergführer wird die Verantwortung in einem Schlüssel geteilt. Je nachdem, wie gut dieser Gast ist, umso mehr übernimmt er auch Verantwortung.

Aber in jüngster Zeit haben wir es auch erlebt, dass Gäste, also bezahlende Gäste die Bergführer drängen, trotz des schlechten Wetters, trotz vielleicht labilen Schneehängen loszugehen, weil sie eben unter Druck stehen, weil sie nur diese eine Woche, nur dieses eine Wochenende haben, um die Tour zu machen.

Und der Bergführer fühlt sich dann irgendwie verpflichtet. Er hat auch Angst, dass er vielleicht das nächste Mal nicht mehr engagiert wird. Und da passieren auch Unglücke. Aber man muss sagen, die Bergführer in den Alpen sind heute durchwegs exzellent und sind auch vorsichtig genug. Mit Bergführern passiert nicht nichts, das darf ich nicht sagen, aber es passiert dabei selten etwas. Aber ein Bergführer ist gut beraten, nicht Gruppen auf die großen Berge mitzunehmen, sondern maximal zwei Klienten oder drei Klienten, aber nicht ganze Haufen.

Timm: Und wünschen Sie ihnen manchmal den Mut zu sagen, du kommst nicht mit, du bist nicht fit, du hast die falschen Stiefel, das reicht nicht, was du kannst?

Messner: Also, das würde ich mir wünschen, dass die Bergführer sagen, du bleibst auf der Hütte, das geht nicht. Also die falschen Stiefel hat heute kaum jemand, aber am Everest ist es ja 96 bei dem großen Unglück, ich spreche jetzt allerdings vom Himalaya, passiert, dass die Bergführer auch die Fußkranken, die Lungenkranken mitgenommen haben. Und das war der Auslöser einer Tragödie, die zwölf Menschen das Leben gekostet hat.

Weil man eben versucht hat, als Organisator, als Bergführer möglichst viele Leute zum Gipfel zu bringen, um dann den Hype zu haben, ich habe mehr Leute raufgebracht als früher. Aber das soll jetzt nicht eine allgemeine Kritik an den Bergführern sein. Ich bin sogar der Meinung, dass wir heute weniger Menschen an den klassischen Bergrouten haben als früher.
Die Leute gehen nicht mehr richtig auf die schwierigen, komplizierten, gefährlichen Routen, sie gehen auf die berühmten Berge, Mont Blanc, Matterhorn, Everest, Aconcagua, Kilimandscharo. Da häufen sich die Gruppen, da ist ja mehr oder weniger Massenauftrieb.

Aber die Leute lernen nicht oder werden nicht irgendwie angehalten, diesen langen Lernprozess auf sich zu nehmen zwischen dem Klettern im Als-Ob-Gefahrenraum und der Wildnis draußen. Auch der Seilgarten hat mit Bergsteigen nichts zu tun. Am Berg ist die Natur alle Tage neu. Die Natur ist alle Tage kreativ. Und die Fehler im Zusammenhang Mensch und Berg macht nur der Mensch. Denn die Natur kann keine Fehler machen.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton, wir sprechen mit Reinhold Messner über die Gefahren des Bergsteigens. Herr Messner, die blanke Angst am Berg, kennen Sie die eigentlich selbst oder umschreibt das ein erfolgreicher Bergsteiger mit den Worten: Ich habe Respekt?

Messner: Also am Ende kommt heraus: Ich habe Respekt. Ich habe großen Respekt vor den Bergen. Und der Respekt ist nicht nur wegen meines Alters gewachsen, sondern auch, weil ich so viele – ja, Kameraden verloren habe. Die nicht mit mir, aber die umgekommen sind. Weil ich alle Woche irgendwo in der Zeitung von einer großen Tragödie lese. Das Bergsteigen muss nicht sein.

Und die Ängste, die Zweifel kommen mir im Vorfeld. Das heißt, bevor ich aufbreche in den Himalaya oder in die Anden oder jetzt zum Klettern in den Dolomiten, kommen Sorgen hoch, Ängste hoch, weil ich mir im Vorausvollzug alles vorstellen kann, was passieren könnte. Und ich muss diesen Gefahren, diesen Schwierigkeiten mein Know-how, meine Erfahrungen entgegensetzen, um überhaupt den Mut zu haben, rauszugehen.

Timm: Heißt das im Umkehrschluss, viele Klettergartentouristen, die zu Hause in Hallen trainieren, haben zu wenig Angst?

Messner: Ja, die sind großartig im Sport. Also, das ist ein reiner Sport. Und Sport ist etwas Großartiges. Der Klettersport in der Halle, da spreche ich auch vom Klettersport, oder der Klettersport an abgebohrten Routen, wo man nicht runterfallen kann, im Klettergarten, ist eine Sache. Hat aber mit dem Alpinismus ganz wenig zu tun.

Wenn jetzt aber jemand in der Halle den siebten, achten, neunten Schwierigkeitsgrad beherrscht und glaubt, er kann rausgehen und dann ähnliche Schwierigkeiten im Gebirge meistern, hat er sich völlig verschätzt. Weil im Gebirge sind eben die Griffe nicht angeschraubt. Im Gebirge gibt es dann Wetterstürze, und vor allem sind diese Sicherungshaken, auch wenn man sie inzwischen gebohrt hat, nie sicher.

Die Menschen müssen endlich lernen: In der Halle kann ich mich auf die Sicherung verlassen. Das ist eine Infrastruktur, die Sicherung, wie die Versicherung, die wir eingehen, Lebensversicherung oder was auch immer. Die Sicherheit, die in uns steckt, die wächst nur nach Jahren und Jahren der Erfahrung.

Und es ist viel schwieriger, ein erfahrener Bergsteiger zu werden, als irgendeinen Doktortitel sich zu erobern. Es ist nicht wichtig. Der Doktortitel ist wichtig. Wir brauchen gescheite, studierte, erfolgreiche Akademiker, um unsere Welt weiterzubringen. Aber wir brauchen nicht unbedingt extreme Bergsteiger. Wir sind und bleiben die Eroberer des Nutzlosen.

Timm: Kommen wir noch mal von den Extrembergsteigern zu den Touristen, die das als Hobby betreiben. Die Alpen sind auch ein Tourismusgebiet, die haben Infrastruktur. Da gibt es Kurse, sicheres Klettern, sicheres Bergsteigen. Wird mit solchen Bezeichnungen, mit solchen Kursen auch die Illusion, dass die Berge sicher sein könnten, nicht ein Stück weit auch mitgeliefert?

Messner: Also ich glaube, dass die Kurse, wenn sie von guten Bergführern, guten Lehrern gemacht werden, eine große Hilfe sind, einen ersten Schritt ins Gebirge zu tun, und die Infrastrukturen, sprich die Berghütten, die Steige, die Wege, die Klettersteige, diese Infrastrukturen sind ja da, dass möglichst viele auf flachen Wegen, ohne große Gefahren, also mit minimalen Gefahren das Gebirge genießen können. Ich kann Ihnen auch sagen: Die Berge von unten sind viel, viel schöner, als wenn man an ihnen klebt.

Timm: Das ist gut zu wissen, denn man kann ja fast generell die Menschen in zwei Sorten teilen, die, die der Berg ruft, und die, die der Berg nicht ruft. Können Sie in ein paar Worten sagen, was so toll daran ist, auf so ein Hindernis zu steigen und wieder runter, wenn man doch genau so gut außen rumgehen könnte?

Messner: Ja also, zuerst muss ich sagen, der Berg ruft natürlich nicht, das ist ein Klischee aus den 30er-Jahren. Aber der Berg ist da, und ein guter Bergsteiger sieht natürlich in jedem Berg, vor allem in einer Wand, eine Herausforderung. Und so schizophren das jetzt klingen mag, was ich sage, das gilt natürlich für die extremen Bergsteiger. Wir gehen dorthin, wo man umkommen könnte, um nicht umzukommen. Und das dürfen Sie einem, ja, einem Sonntagsbergsteiger, einem nicht erfahrenen Bergsteiger, nicht als Spielzeug geben.

Timm: Herr Messner, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch und wünsche Ihnen alles Gute für die nächste große oder auch kleine Tour. Reinhold Messner war das, einer der bekanntesten Bergsteiger überhaupt. Herzlichen Dank!

Messner: Dankeschön!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.