Messen, wiegen, zählen

Von Susanne Billig |
Der Directmedia Verlag hat eine interaktive DVD herausgebracht und sich ausführlich mit der Geschichte des Messens und Zählens auseinandergesetzt. Die Silberscheibe umfasst gleich zwei Grundlagenwerke: Die "Weltchronik des Messens" und die "Quellen der Messkunst".
Messen, wiegen, zählen – der Anfang dieser Künste verliert sich in den Tiefen der Evolution. Schon Tiere können intuitiv Mengen und Gewichte erfassen: Ein Blick und die Tiermutter weiß, ob eines ihrer Jungen fehlt. Ein kurzes Zögern – und der Jaguar beißt an der richtigen Stelle zu, um eine schwere Beute auf einen Baum zu schleppen.

Wie es die menschlichen Kulturen halten mit dem Sortieren der Welt in Zahlen und Daten, davon berichtet ausführlich die neue DVD "Universalgeschichte des Messens". Wie alle Werke aus dem Directmedia Verlag ist die Silberscheibe schlicht gehalten. Interaktive Multimedia-Erlebnisse bietet sie nicht. Stattdessen gibt es digitalisierte Buchseiten, die sich mit einer Suchfunktion erkunden lassen. Das ist dennoch spannend, denn Buchautor Heinz-Dieter Haustein erzählt in seiner "Weltchronik des Messens" anschaulich und mit philosophischem Tiefgang.

"Symmetrie und Regelmäßigkeit sind frühe Vorstufen des Messens, die der Natur abgelauscht sind. In Bilzingsleben hat man dreihunderttausend Jahre alte Ritzmuster auf polierten Tierknochen gefunden. Siebzigtausend Jahre alte Ockerstücke aus Südafrika tragen gleichmäßige Kreuze, die oben und unten durch parallele Linien eingerahmt werden. Solche Kerben und Ritzungen sind ein verlässliches und kommunizierbares Mengengedächtnis."

Vor fünfzigtausend Jahren beginnen Menschen zu tauschen. Wer etwas hergibt, wünscht sich eine - angemessene - Gegengabe: meine fünf Speere gegen deine zwei Äxte. Bald beginnt ein Handel über weite Entfernungen; Bernstein, Lapislazuli und Obsidian wechseln den Besitzer. Ob die steinzeitlichen Kulturen Zahl-Worte kennen oder sich beim Tausch einfach auf ihren Gerechtigkeitssinn verlassen, kann heute niemand mehr sagen.
Die uns so vertraute Schriftlichkeit des Zählens beginnt in den frühen Hochkulturen.

"Die Präzision der Cheops-Pyramide hat bereits ihre ersten Erforscher begeistert. Heute wissen wir, dass die Schenkel der Grundfläche mit einer Abweichung von höchstens zwei Bogenminuten zu rechten Winkeln zusammenstoßen - genauer kann man Bauwerke solcher Dimension auch nicht mit lasergestützten Messgeräten errichten."

Die frühen Hochkulturen institutionalisieren das Zählen und Messen. Regeln, Maßeinheiten und Gesetze entstehen - in der alten Stadt Ur gibt es bereits eine zentrale Prüfstelle für Maße und Gewichte. Doch die Kunden sind mit den Sachwaltern der neuen Genauigkeit nicht immer zufrieden. Im üppigen Quellenteil der DVD findet sich der Text einer alten Papyrusrolle. Da beklagt sich ein Bauer bei seinem Gutsverwalter:

"Die Standwaage steht schief, das Zünglein irrt, das Maß schwankt, der Verteiler ist geizig, der Rechnungsprüfer legt auf die Seite und die Richter schnappen sich das Gestohlene."

Wie der Gutsverwalter reagierte, ist auch überliefert: Er bestrafte - erst einmal den Bauern.
So durchquert die DVD in großen Schritten die Geschichte. Vom römischen Reich ist die Rede, das so viele Länder erbeutete, dass es mit der Herstellung von Geldmünzen für all seine Kolonien nicht hinterher kam. Von den Fronherren des Mittelalters ist die Rede, die ständig die Maße veränderten, so dass ihre Bauern mehr und mehr Abgaben leisten mussten. Ins Zeitalter der Entdeckungen tauchen wir ein, lernen wagemutige Seefahrer kennen, die Karten und Navigationsinstrumente optimieren.

"Stürmisch beginnt die Periode der Industrialisierung, die in eine unvergleichliche Ära des Messens führt. Die Naturwissenschaft wendet sich der Messung von Bewegungen, Stoffen, Kräften und Massen zu, getrieben von dem Drang nach Erkenntnis stabiler Gesetze des Universums. Neue Messinstrumente werden erfunden: Wärmemesser, Mikrometerschraube, Heliotrop, Magnetometer, Dezimalbrückenwaage, Widerstandsmessbrückenschaltung und Seismographen."

Auch wenn es erstaunen mag - das Messen ist bis heute mit Mystik und Magie verbunden. Wer den Zollstock an die Welt anlegt, der eignet sie sich auch an - er will Macht über Dinge und Menschen. Deshalb sind Zahlen und Messvorgänge immer auch mit Tabus belegt, erläutert die DVD. Das Tabu zieht eine Grenze - dahinter beginnt das Reich der Götter, der Geister und diffusen Ängste.

"In Böhmen war es verpönt, Kinder zu messen und zu wiegen, da es ihnen schaden könnte. Noch im neunzehnten Jahrhundert wagten estnische Bauern nicht, längere Zeit in einen Brunnen zu blicken, als ob sie dessen Tiefe ausmessen wollten - sonst würde der Brunnen austrocknen. Goethe weigerte sich, seinen Kopf ausmessen zu lassen. Die Angst vor der angeblichen Unglückszahl dreizehn ist längst nicht ausgestorben."

Die uralte Angst vor dem Messen: Es gibt sie noch heute. Bei der Volkszählung verweigert sich das Volk. Statistiken riechen schnell nach gefälschten Zahlen. Und wer zu genau wissen will, in wie viel Quadratmetern wir wohnen oder was wir verdienen - der ist uns suspekt.

Universalgeschichte des Messens
Directmedia Verlag, 30 Euro