Merkels Geheimnis
Bis heute wird die Frage gestellt, was das Geheimnis ist von Angela Merkel. Das erste Geheimnis ihres Erfolges ist wahrscheinlich, dass sie unterschätzt wird. Zuerst hieß sie "Kohls Mädchen", wie um zu zeigen, dass sie ohne Kohls Patronage ein Niemand der Parteihierarchie gewesen wäre. Heute spricht man in der Bundestagsfraktion wie im Berliner Kommentariat von "Mutti", obwohl doch unter den Eigenschaften der Kanzlerin das Mütterliche nicht die ausgeprägteste ist.
Solche selten freundlich gemeinten Beinamen sind Selbstberuhigung der klein gemachten Granden und verraten die innere Weigerung der Männer in ihrer Umgebung, die deutsche Iron Lady als das zu sehen, was sie ist: Eine Frau aus Stahl, wie wenige, gehärtet in Jahrzehnten der Durchsetzung gegen eine in der DDR systematisch misstrauische, im vereinten Deutschland überwiegend missgünstige Umgebung.
Sich gegen die West-Männerwelt der Bonner Politik zu behaupten und es in der Rheinischen Republik gar zur Generalsekretärin der CDU zu bringen, erforderte Kaltblütigkeit, Leidenschaft und viel Arbeit – und Glück. Vielleicht half ihr wiederum die allgemeine Unterschätzung, die sie begleitete, wahrscheinlich bis heute.
Kairos nannten die alten Griechen den glücklichen Moment, der alles gibt, wenn man zupackt, oder alles verweigert. Angela Merkels Kairos kam, als Ende 1999 der große Ehrenvorsitzende im Fernsehen wie nebenbei preisgegeben hatte, er habe größere Summen empfangen für die Partei, aber unter der Bedingung, dass die Spender öffentlich nicht genannt würden. Das war selbst für das milde deutsche Parteienfinanzierungsrecht entschieden zu viel, die Gremien der Union wussten nicht mehr weiter, die starken Männer waren schreckgelähmt, fassungslos. Das aber war die Stunde der Generalsekretärin. In einem offenen Brief an die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" beging sie, was die eine Hälfte der Partei als Vatermord ansah, die andere als Rettung in der Not: Sie vollzog die Trennung von Helmut Kohl. Alles, was dann kam, bis hin zur Kanzlerkandidatur der Union, gehört zu den Folgen dieser rettenden Tat, denen Angela Merkel, selbst wenn sie es gewollt hätte, sich nicht mehr entziehen konnte. Aber sie wollte gar nicht.
Das auf beiden Ufern des Atlantiks bei den Eliten viel gelesene Londoner Wirtschaftsmagazin "The Economist" machte jüngst mit einer Titelgeschichte auf: "The mystery of Mrs. Merkel" – Frau Merkels Geheimnis. Der Maßstab wurde groß gewählt mit der These: "Die fähigste Politikerin Europas muss sehr viel kühner sein in Sachen Reform, um als eine historische Kanzlerin gesehen zu werden". Die Prognose für die Zukunft: "Die Frage ist nicht, ob Frau Merkel die Macht behält, sondern ob sie damit etwas anfängt". Das aber ist nun leichter gesagt als getan: 2005, als Frau Merkel in Leipzig die Union in Richtung neue Soziale Marktwirtschaft führen wollte, sind ihr die Wähler kaum gefolgt. Die ungewollte, aber unausweichliche Konsequenz war die Große Koalition. Und wie geht deren Management? Der "Economist" hat die Antwort gefunden: "Merkel is the message" – Die Botschaft heißt Merkel. Das geht auf Kosten des Ideenprofils, doch die Krise und ihre Bewältigung bisher haben diesen Kurs bestätigt. Die "Neue Zürcher Zeitung", wie der "Economist" auf der Suche nach Frau Merkels Geheimnis, brachte es auf die Formel: "Merkel herrscht mit der Macht der Mitte".
Da kommt die Kanzlerin wieder zu dem Mann zurück, von dem sie im Fach Taktik und Strategie am meisten gelernt hat, was die Menschen und die Macht angeht: Helmut Kohl. Der regierte nach dem Grundsatz: "Die Mitte bin ich", ließ die anderen ihre Fehler machen und entschied spät, aber nicht zu spät. Ob das im Herbst reichen wird für eine Koalition nach Wunsch? Jedenfalls ist Frau Merkel bisher das Glück des Tüchtigen treu geblieben. Sie hat das Land durch Weltwirtschaftskrise, Terrorgefahr und Kriegseinsatz an fernen Fronten navigiert, ohne dass den Deutschen die Schrecknisse der Lage voll bewusst geworden wären. In solchen Zeiten aber werden Führung, Macht und Kanzlerschaft nicht daran gemessen, wie sie die Welt verändern, sondern daran, ob sie Schlimmeres verhindern.
Michael Stürmer: Historiker, Autor. Der 1938 in Kassel geborene Michael Stürmer studierte in London, Berlin und Marburg, wo er 1965 promovierte. Nach seiner Habilitation wurde er 1973 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Sozial- und Verfassungsgeschichte; außerdem lehrte er u.a. an der Harvard University, in Princeton und der Pariser Sorbonne. 1984 wurde Stürmer in den Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung berufen und zwei Jahre später zum Vorsitzenden des Forschungsbeirates des Center for European Studies in Brüssel. Zehn Jahre lang war er überdies Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: "Das ruhelose Reich", "Dissonanzen des Fortschritts", "Bismarck - die Grenzen der Politik" und zuletzt ‚Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte". Im sogenannten "Historikerstreit" entwickelte Stürmer die von Habermas und Broszat bestrittene These von der Identität stiftenden Funktion der Geschichte. Stürmer, lange Kolumnist für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", schreibt jetzt für die "Welt" und die "Welt am Sonntag".
Sich gegen die West-Männerwelt der Bonner Politik zu behaupten und es in der Rheinischen Republik gar zur Generalsekretärin der CDU zu bringen, erforderte Kaltblütigkeit, Leidenschaft und viel Arbeit – und Glück. Vielleicht half ihr wiederum die allgemeine Unterschätzung, die sie begleitete, wahrscheinlich bis heute.
Kairos nannten die alten Griechen den glücklichen Moment, der alles gibt, wenn man zupackt, oder alles verweigert. Angela Merkels Kairos kam, als Ende 1999 der große Ehrenvorsitzende im Fernsehen wie nebenbei preisgegeben hatte, er habe größere Summen empfangen für die Partei, aber unter der Bedingung, dass die Spender öffentlich nicht genannt würden. Das war selbst für das milde deutsche Parteienfinanzierungsrecht entschieden zu viel, die Gremien der Union wussten nicht mehr weiter, die starken Männer waren schreckgelähmt, fassungslos. Das aber war die Stunde der Generalsekretärin. In einem offenen Brief an die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" beging sie, was die eine Hälfte der Partei als Vatermord ansah, die andere als Rettung in der Not: Sie vollzog die Trennung von Helmut Kohl. Alles, was dann kam, bis hin zur Kanzlerkandidatur der Union, gehört zu den Folgen dieser rettenden Tat, denen Angela Merkel, selbst wenn sie es gewollt hätte, sich nicht mehr entziehen konnte. Aber sie wollte gar nicht.
Das auf beiden Ufern des Atlantiks bei den Eliten viel gelesene Londoner Wirtschaftsmagazin "The Economist" machte jüngst mit einer Titelgeschichte auf: "The mystery of Mrs. Merkel" – Frau Merkels Geheimnis. Der Maßstab wurde groß gewählt mit der These: "Die fähigste Politikerin Europas muss sehr viel kühner sein in Sachen Reform, um als eine historische Kanzlerin gesehen zu werden". Die Prognose für die Zukunft: "Die Frage ist nicht, ob Frau Merkel die Macht behält, sondern ob sie damit etwas anfängt". Das aber ist nun leichter gesagt als getan: 2005, als Frau Merkel in Leipzig die Union in Richtung neue Soziale Marktwirtschaft führen wollte, sind ihr die Wähler kaum gefolgt. Die ungewollte, aber unausweichliche Konsequenz war die Große Koalition. Und wie geht deren Management? Der "Economist" hat die Antwort gefunden: "Merkel is the message" – Die Botschaft heißt Merkel. Das geht auf Kosten des Ideenprofils, doch die Krise und ihre Bewältigung bisher haben diesen Kurs bestätigt. Die "Neue Zürcher Zeitung", wie der "Economist" auf der Suche nach Frau Merkels Geheimnis, brachte es auf die Formel: "Merkel herrscht mit der Macht der Mitte".
Da kommt die Kanzlerin wieder zu dem Mann zurück, von dem sie im Fach Taktik und Strategie am meisten gelernt hat, was die Menschen und die Macht angeht: Helmut Kohl. Der regierte nach dem Grundsatz: "Die Mitte bin ich", ließ die anderen ihre Fehler machen und entschied spät, aber nicht zu spät. Ob das im Herbst reichen wird für eine Koalition nach Wunsch? Jedenfalls ist Frau Merkel bisher das Glück des Tüchtigen treu geblieben. Sie hat das Land durch Weltwirtschaftskrise, Terrorgefahr und Kriegseinsatz an fernen Fronten navigiert, ohne dass den Deutschen die Schrecknisse der Lage voll bewusst geworden wären. In solchen Zeiten aber werden Führung, Macht und Kanzlerschaft nicht daran gemessen, wie sie die Welt verändern, sondern daran, ob sie Schlimmeres verhindern.
Michael Stürmer: Historiker, Autor. Der 1938 in Kassel geborene Michael Stürmer studierte in London, Berlin und Marburg, wo er 1965 promovierte. Nach seiner Habilitation wurde er 1973 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Sozial- und Verfassungsgeschichte; außerdem lehrte er u.a. an der Harvard University, in Princeton und der Pariser Sorbonne. 1984 wurde Stürmer in den Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung berufen und zwei Jahre später zum Vorsitzenden des Forschungsbeirates des Center for European Studies in Brüssel. Zehn Jahre lang war er überdies Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: "Das ruhelose Reich", "Dissonanzen des Fortschritts", "Bismarck - die Grenzen der Politik" und zuletzt ‚Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte". Im sogenannten "Historikerstreit" entwickelte Stürmer die von Habermas und Broszat bestrittene These von der Identität stiftenden Funktion der Geschichte. Stürmer, lange Kolumnist für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", schreibt jetzt für die "Welt" und die "Welt am Sonntag".

Michael Stürmer© Deutschlandradio / Bettina Straub