Multiresistente Krise

Beim Besuch Angela Merkels in Washington wird es vor allem um die Frage der Waffenlieferungen in die Ukraine gehen. Doch Barack Obama wird sich davor hüten, sein Land gegen Ende seiner Amtszeit in einen neuen, militärischen Konflikt zu verstricken, meint Stephan Detjen.
Über Keime und Bakterien will Angela Merkel mit Barack Obama sprechen. Kein Kraut scheint gegen sie gewachsen zu sein. Immer wieder versuchen die Experten mit neuen Mitteln gegen sie anzukämpfen - vergebens. Die Krankheitserreger scheinen ihren medizinisch hoch gerüsteten Gegnern überlegen zu sein. Sie lernen und passen sich an. Sogenannte multiresistente Erreger machen unter anderem die Tuberkulose zu einer der tödlichsten Krankheiten der Erde. Millionen sterben deswegen in Afrika und zunehmend auch wieder in Europa. Angela Merkel hatte den Kampf gegen die gefährlichen Keime ganz oben auf die Agenda des G7 Gipfels gesetzt, bei dem sie im Juni im oberbayerischen Schloss Elmau die Gastgeberin sein wird. Bei ihrem auf vier Stunden angesetzten Gespräch mit US-Präsident Obama wollte Merkel - so der ursprüngliche Reiseplan - das G7 Treffen unter deutschem Vorsitz vorbereiten. Doch der Kampf gegen die vernachlässigten Krankheiten dieser Welt steht jetzt ganz im Schatten der weiter eskalierenden Krise in der Ukraine. Merkel dürfte sich dabei an die tückische Wirkungskraft der multiresistenten Erreger erinnert fühlen. Kein diplomatisches Heilmittel konnte die Gewalt bislang eindämmen. Nicht die unzähligen Telefonate mit dem russischen Präsidenten und dem ukrainischen Premier Poroschenko. Nicht die Sanktionen der EU, über deren Verlängerung die europäischen Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfel in Brüssel am kommenden Donnerstag beraten wollen.
Einen Tag vorher, am Mittwoch, will Merkel zusammen mit dem französischen Präsidenten Hollande der politischen Konfliktlösung eine weitere und vielleicht letzte Chance geben. In Minsk wollen sie sich im sogenannten Normandie-Format mit Putin und Poroschenko noch einmal über Landkarten und den Friedensplan beugen, der im vergangenen September in der weißrussischen Hauptstadt ausgehandelt worden war. Ein halbes Jahr und viele tausend Tote später werden nun zwei Fragen im Mittelpunkt stehen. Erstens: Welche Linie erkennt Poroschenko als faktische Grenze seiner Staatsgewalt im eigenen Land an? Aus Sicht der Bundesregierung wäre es für ihn schon ein Erfolg, wenn die im Minsker Abkommen vereinbarte Demarkationslinie erneut bekräftigt würde. Tatsächlich reicht die Macht der von Russland unterstützten Separatisten mittlerweile rund tausend Quadratkilometer darüber hinaus. Merkel wird Poroschenko drängen, die von Putin geschaffene Macht des Faktischen weitgehend anzuerkennen. Mehr als den Verzicht auf eine noch aggressivere Ausdehnung seiner Einflusszone wird er sich von Putin in Minsk kaum erwarten dürfen. Die zweite Kernfrage betrifft den Status der Separatisten.
Für Merkel geht es auch um die eigene Rolle
Nach wie vor verweigert Kiew jeden förmlichen Kontakt mit den Separatistenführern. Die aber haben ihre Stellung sowohl politisch als militärisch inzwischen so weit gefestigt, dass eine Lösung des Konflikts ohne sie nicht mehr zu erreichen ist. Früher oder später wird sich Poroschenko auf das Gespräch mit den Gegnern einlassen müssen, versucht Merkel dem ukrainischen Regierungschef bei ihren Telefonaten und persönlichen Begegnungen immer wieder klar zu machen. In Minsk wollen Merkel und Hollande nun einen ersten Annäherungsschritt ermöglichen: Während das Normandie-Quartett der Staats- und Regierungschefs tagt, sollen Vertreter der Separatisten in einem anderen Hotel mit der sogenannten trilateralen Kontaktgruppe aus Vertretern Russlands, der Ukraine und der OSZE zusammenkommen. Emissäre beider Tagungsgruppen könnten dann zwischen den Verhandlungsorten hin und her pendeln und die prorussischen Machthaber aus Ostukraine so zumindest indirekt in die Verhandlungen einbinden.
Merkel bemüht sich unterdessen, die Erwartungen an den gewagten Balanceakt zu dämpfen. Selbst ob das Treffen in Minsk überhaupt zustande komme, sei noch nicht zu 100 Prozent sicher, heißt es aus dem Umfeld der Kanzlerin. Auch Wladimir Putin hatte zuletzt greifbare Ergebnisse schon vor dem Gipfel zur Bedingung für seine Teilnahme gemacht. Den russischen Präsidenten dürfte es am wenigsten betrüben, wenn Merkels diplomatischer Vorstoß schon auf halber Strecke versandet. Er sitzt im Augenblick am längsten Hebel.
Für Merkel geht es in diesen Tagen auch darum, die eigene Rolle zu definieren. Um als neutrale Vermittlerin anerkannt zu werden, hat sie die russischen Völkerrechtsbrüche und Kriegshandlungen zu deutlich benannt. Mal agiert die Kanzlerin als Mahnerin im Namen der politischen Vernunft, mal als mütterliche Autorität, die den streitenden Kindern mit dem Entzug von materieller und emotionaler Fürsorge droht. Mehr und mehr droht Merkel aber auch zu einer durch den Konflikt Getriebenen zu werden. Das wurde ihr Ende letzter Woche bei der Münchner Sicherheitskonferenz vor Augen geführt, als amerikanische Senatoren die Kanzlerin mit ungewöhnliche Schärfe aufforderten, die Zügel straffer anzuziehen und in die Hand zu nehmen, was für amerikanische Hardliner nach wie vor das effektivste Mittel ist, um Ordnung in eine unordentliche Welt zu bringen: Waffen.
Merkel will Stellvertreterkrieg verhindern
In Washington ist auch Barack Obama mit immer lauteren Forderungen nach einer militärischen Unterstützung der Ukraine konfrontiert. Noch aber sind diejenigen, die Barack Obama in der Öffentlichkeit bedrängen, vor allem die üblichen Verdächtigen: republikanische Senatoren, die den Präsidenten im letzten Amtsjahr noch einmal als außenpolitischen Schwächling vorführen wollen. Innerhalb der Regierung gilt vor allem die Europabeauftragte im Außenministerium Victoria Nuland (bekannt geworden durch ihre "fuck the EU"-Aussage) als Verfechterin einer möglichst harten Linie gegenüber Putin. Der Präsident selbst aber ist noch unentschieden und er wird heute zunächst einmal seiner deutschen Besucherin aufmerksam zuhören. Angela Merkel wird Obama deutlich von Waffenlieferungen abraten. Für eine rein defensive Unterstützung der Ukraine ist es in ihren Augen zu spät. Wollte man die von Russland aufgerüsteten und gesteuerten Separatisten tatsächlich mit Waffengewalt zurückdrängen, müsste man zu einem Stellvertreterkrieg in Europa bereit sein, den Merkel um jeden Preis verhindern möchte.
Auch der Friedensnobelpreisträger im Weißen Haus wird sich davor hüten, sein Land auf den letzten Metern seiner Amtszeit in einen neuen, militärischen Konflikt zu verstricken. Er wird, wenn er nach der ersten Gesprächsrunde mit Merkel im Eastroom des Weißen Hauses vor die Presse tritt, die diplomatische Offensive der Kanzlerin preisen und ihr alles Gute wünschen. Als besondere Geste hat er Merkel eingeladen, die Nacht im Gästehaus des Präsidenten gegenüber vom Weißen Haus zu verbringen. Obama hat ein persönliches Interesse daran, dass die Kanzlerin heute gut ausgeschlafen nach Europa zurückfliegt.