Merkel in Fesseln
Nach Fußballweltmeisterschaft und Sommerferien hat sich eine erschreckende Lähmung über die Politik und eine ebenso erschreckende Miesepetrigkeit über die Stimmung im Lande gelegt. Es ist also höchste Zeit, dass sich die Dinge ändern. Angela Merkel kommt dabei der wichtigste Part zu, nicht dem vielstimmigen Chor der Parteien-, Verbände- und Medienvertreter.
Geschwindigkeit ist immer relativ. Das wissen wir nicht erst seit Albert Einstein, sondern bereits aus der Geschichte vom Hasen und vom Igel. Und so geht es auch mit Deutschland. Wir bewegen uns zwar, aber nicht so zielstrebig wie unsere Nachbarn. Die fragen zuerst einmal danach, wie sie den Kuchen größer machen können und erst dann danach, wie er am gerechtesten zu verteilen wäre. Bei uns ist es eher umgekehrt. Und deshalb kommen wir nicht so recht voran.
Angela Merkel hatte dies schon früh und richtig analysiert. Aber bereits im Wahlkampf hat sie das Tempo zurückgenommen. Das Programm der Union blieb deshalb ebenso hinter den eigentlichen Notwendigkeiten zurück wie dasjenige der SPD. Es kam die so genannte Große Koalition. Die Konsequenz: Kompromisse an allen Ecken und Kanten, so dass der Koalitionsvertrag seinerseits noch einmal hinter den Wahlprogrammen zurückblieb.
Bereits vor einem Jahr also hat die Bundeskanzlerin die Fesseln gespürt, die auch ihren Vorgängern das Leben schwer gemacht haben. Jede Koalition in Deutschland muss einen gemeinsamen Nenner finden, und man kann immer nur hoffen, dass es nicht der kleinste sein wird. Jede Bundesregierung muss sich mit der Macht derjenigen auseinandersetzen, denen am ungeschmälerten Bestand des Wohlfahrts- und Ständestaates mehr liegt als an der Zukunft des Landes. Alle Regierungen haben mit einer Einstellung im Volke zu kämpfen, die mehr auf Bewahren als auf Risiko setzt. Und den Ministerpräsidenten der Länder war die nächste Landtagswahl schon immer wichtiger als das Wohl des Bundes.
Dennoch haben Bundeskanzlerin und Große Koalition insgesamt bis ins Frühjahr hinein einen guten Start gehabt. Und das Motto ihrer Regierungserklärung „Mehr Freiheit wagen“, das konnte schon Mut machen. Erst als es an die großen Baustellen ging, fing es an zu knirschen. Und allmählich spürte Angela Merkel auch die Fesseln, die sie sich selber angelegt hatte:
Sie hatte bereits vor den eigentlichen Koalitionsverhandlungen den Sozialdemokraten in einigen wichtigen Fragen Zugeständnisse gemacht – zu rasch, wie ich finde. Ein erfahrener Politiker wird sich derartige Nachgiebigkeit merken. Sie war der Taktiererei Edmund Stoibers ausgeliefert, die der SPD eine sehr starke Stellung im Kabinett verschaffte. Sie ließ zu, dass die Umsetzung des Koalitionsvertrages immer wieder verzögert wurde. An mehreren Stellen ließen sich entweder die Zeitpläne nicht einhalten oder die Inhalte wurden verwässert.
Vor allem aber wurden und werden die eigentlichen Verantwortlichkeiten immer mehr verwischt. Weder der Vorsitzende der SPD noch derjenige der CSU hat ein Regierungsamt in Berlin. Und die Unions-Ministerpräsidenten melden sich mittlerweile ungefragt bei jedem Thema zu Wort, anstatt die durch die Föderalismusreform gerade erst bekräftige Arbeitsteilung zwischen Bund und Ländern, zwischen Bundestag und Bundesrat zu respektieren.
Und so kam, was kommen musste. Nach Fußballweltmeisterschaft und Sommerferien hat sich eine erschreckende Lähmung über die Politik und eine ebenso erschreckende Miesepetrigkeit über die Stimmung im Lande gelegt. Daran können auch Wirtschaftsaufschwung und bessere Arbeitsmarktzahlen offenbar nichts ändern. Wenn sich das länger hineinzieht, dann wird Schaden für Deutschland angerichtet.
Es ist also höchste Zeit, dass sich die Dinge ändern. Angela Merkel kommt dabei der wichtigste Part zu, nicht dem vielstimmigen Chor der Parteien-, Verbände- und Medienvertreter. Das Grundgesetz sieht ja auch vor, dass der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik bestimmt. Nun wird sie ihre Fesseln nicht einfach ablegen können. Wunder dürfen wir also nicht erwarten.
Einiges aber ließe sich schon tun: Das Parlament sollte sich rasch darauf verständigen, die Wahlperiode von vier auf fünf Jahre zu verlängern. Angela Merkel sollte alle „Gipfel“ und ähnliche Alibiveranstaltungen sein lassen und sich auf die vom Grundgesetz vorgesehenen Institutionen sowie den Koalitionsausschuss beschränken. Wenn irgendwo das Sprichwort von den vielen Köchen gilt, die den Brei verderben, dann hier. Sie sollte die Zeitpläne für wichtige Reformen straffen, damit sie nicht am Ende der nächsten Wahlkampfzeit zum Opfer fallen. Beim Umsetzen sollte sie ihre Richtlinienkompetenz deutlicher nutzen als bisher, und zwar in Richtung Eigenverantwortung und Freiheit vom Staat. Und sie sollte für Denkanstöße über den Koalitionsvertrag hinaus sorgen, damit der nicht nur als Bremse wirkt.
So darf zum Beispiel die Blockade bei Kernkraft nicht tabuisiert werden. Und beim Abbau der Bürokratie lässt sich auch mehr Mut mobilisieren. Die Bundeskanzlerin sollte sich schließlich immer wieder und in aller Klarheit mit ihren Vorstellungen und Absichten an die Bevölkerung wenden. Wenn sie dabei ihrem inneren Kompass folgt und dazu aufruft, „mehr Freiheit zu wagen“, dann wird sie nach meiner Überzeugung Gehör und auch Zustimmung finden. Die Deutschen in ihrer Mehrheit sind nämlich heute weiter als ihre Politiker.
Manfred Lahnstein, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, ehemaliger Politiker, Publizist. Lahnstein, Jahrgang 1937, machte sich einen Namen in Gewerkschaft, Wirtschaft, Verwaltung und Politik. Er war Chef des Bundeskanzleramtes, Bundesfinanzminister unter Helmut Schmidt und Vorstandsmitglied bei der Bertelsmann AG. Seit 1994 ist Lahnstein Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, seit 1995 Vorsitzender des Kuratoriums der ZEIT-Stiftung. 2004 veröffentlichte er das Buch „Massel und Chuzpe“, soeben erschien „Die gefesselte Kanzlerin. Wie die Große Koalition sich selbst blockiert“.
Angela Merkel hatte dies schon früh und richtig analysiert. Aber bereits im Wahlkampf hat sie das Tempo zurückgenommen. Das Programm der Union blieb deshalb ebenso hinter den eigentlichen Notwendigkeiten zurück wie dasjenige der SPD. Es kam die so genannte Große Koalition. Die Konsequenz: Kompromisse an allen Ecken und Kanten, so dass der Koalitionsvertrag seinerseits noch einmal hinter den Wahlprogrammen zurückblieb.
Bereits vor einem Jahr also hat die Bundeskanzlerin die Fesseln gespürt, die auch ihren Vorgängern das Leben schwer gemacht haben. Jede Koalition in Deutschland muss einen gemeinsamen Nenner finden, und man kann immer nur hoffen, dass es nicht der kleinste sein wird. Jede Bundesregierung muss sich mit der Macht derjenigen auseinandersetzen, denen am ungeschmälerten Bestand des Wohlfahrts- und Ständestaates mehr liegt als an der Zukunft des Landes. Alle Regierungen haben mit einer Einstellung im Volke zu kämpfen, die mehr auf Bewahren als auf Risiko setzt. Und den Ministerpräsidenten der Länder war die nächste Landtagswahl schon immer wichtiger als das Wohl des Bundes.
Dennoch haben Bundeskanzlerin und Große Koalition insgesamt bis ins Frühjahr hinein einen guten Start gehabt. Und das Motto ihrer Regierungserklärung „Mehr Freiheit wagen“, das konnte schon Mut machen. Erst als es an die großen Baustellen ging, fing es an zu knirschen. Und allmählich spürte Angela Merkel auch die Fesseln, die sie sich selber angelegt hatte:
Sie hatte bereits vor den eigentlichen Koalitionsverhandlungen den Sozialdemokraten in einigen wichtigen Fragen Zugeständnisse gemacht – zu rasch, wie ich finde. Ein erfahrener Politiker wird sich derartige Nachgiebigkeit merken. Sie war der Taktiererei Edmund Stoibers ausgeliefert, die der SPD eine sehr starke Stellung im Kabinett verschaffte. Sie ließ zu, dass die Umsetzung des Koalitionsvertrages immer wieder verzögert wurde. An mehreren Stellen ließen sich entweder die Zeitpläne nicht einhalten oder die Inhalte wurden verwässert.
Vor allem aber wurden und werden die eigentlichen Verantwortlichkeiten immer mehr verwischt. Weder der Vorsitzende der SPD noch derjenige der CSU hat ein Regierungsamt in Berlin. Und die Unions-Ministerpräsidenten melden sich mittlerweile ungefragt bei jedem Thema zu Wort, anstatt die durch die Föderalismusreform gerade erst bekräftige Arbeitsteilung zwischen Bund und Ländern, zwischen Bundestag und Bundesrat zu respektieren.
Und so kam, was kommen musste. Nach Fußballweltmeisterschaft und Sommerferien hat sich eine erschreckende Lähmung über die Politik und eine ebenso erschreckende Miesepetrigkeit über die Stimmung im Lande gelegt. Daran können auch Wirtschaftsaufschwung und bessere Arbeitsmarktzahlen offenbar nichts ändern. Wenn sich das länger hineinzieht, dann wird Schaden für Deutschland angerichtet.
Es ist also höchste Zeit, dass sich die Dinge ändern. Angela Merkel kommt dabei der wichtigste Part zu, nicht dem vielstimmigen Chor der Parteien-, Verbände- und Medienvertreter. Das Grundgesetz sieht ja auch vor, dass der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik bestimmt. Nun wird sie ihre Fesseln nicht einfach ablegen können. Wunder dürfen wir also nicht erwarten.
Einiges aber ließe sich schon tun: Das Parlament sollte sich rasch darauf verständigen, die Wahlperiode von vier auf fünf Jahre zu verlängern. Angela Merkel sollte alle „Gipfel“ und ähnliche Alibiveranstaltungen sein lassen und sich auf die vom Grundgesetz vorgesehenen Institutionen sowie den Koalitionsausschuss beschränken. Wenn irgendwo das Sprichwort von den vielen Köchen gilt, die den Brei verderben, dann hier. Sie sollte die Zeitpläne für wichtige Reformen straffen, damit sie nicht am Ende der nächsten Wahlkampfzeit zum Opfer fallen. Beim Umsetzen sollte sie ihre Richtlinienkompetenz deutlicher nutzen als bisher, und zwar in Richtung Eigenverantwortung und Freiheit vom Staat. Und sie sollte für Denkanstöße über den Koalitionsvertrag hinaus sorgen, damit der nicht nur als Bremse wirkt.
So darf zum Beispiel die Blockade bei Kernkraft nicht tabuisiert werden. Und beim Abbau der Bürokratie lässt sich auch mehr Mut mobilisieren. Die Bundeskanzlerin sollte sich schließlich immer wieder und in aller Klarheit mit ihren Vorstellungen und Absichten an die Bevölkerung wenden. Wenn sie dabei ihrem inneren Kompass folgt und dazu aufruft, „mehr Freiheit zu wagen“, dann wird sie nach meiner Überzeugung Gehör und auch Zustimmung finden. Die Deutschen in ihrer Mehrheit sind nämlich heute weiter als ihre Politiker.
Manfred Lahnstein, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, ehemaliger Politiker, Publizist. Lahnstein, Jahrgang 1937, machte sich einen Namen in Gewerkschaft, Wirtschaft, Verwaltung und Politik. Er war Chef des Bundeskanzleramtes, Bundesfinanzminister unter Helmut Schmidt und Vorstandsmitglied bei der Bertelsmann AG. Seit 1994 ist Lahnstein Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, seit 1995 Vorsitzender des Kuratoriums der ZEIT-Stiftung. 2004 veröffentlichte er das Buch „Massel und Chuzpe“, soeben erschien „Die gefesselte Kanzlerin. Wie die Große Koalition sich selbst blockiert“.