Merkel in der Flüchtlingsfrage

Kraftvoll, menschlich und nah an der Utopie

Bundeskanzlerin Merkel posiert in Berlin-Spandau mit einem Flüchtlinge für ein Selfie. Beide sind von Menschen umringt.
Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Besuch der Erstaufnahme-Einrichtung in Berlin. © picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka
Von Florian Felix Weyh · 19.09.2015
Kanzlerin Merkel hat sich emotional gezeigt. Sie ließ die Flüchtlinge ins Land und verwahrte sich gegen Kritik daran. Damit habe sie einerseits gegen die Regeln guter Staatsführung verstoßen, meint Florian Felix Weyh – aber womöglich auch eine politische Revolution ausgelöst.
"Gott hat keinen Witz, und die Könige sollten auch keinen haben", schrieb einst Lessing. "Denn hat ein König Witz: Wer steht uns für die Gefahr, dass er deswegen einen ungerechten Ausspruch tut, weil er einen witzigen Einfall dabei anbringen kann?"
Gemach: Wir leben nicht mehr in der Monarchie, und Angela Merkel macht keine Witze. Aber dadurch, dass man in Demokratien den Machtwechsel weniger willkürlich organisiert, wird Staatsmacht keineswegs etwas Privates. Denn der von den Königen ererbte Staatskörper besteht in seinen Eigenheiten weiter. Eine davon lautet: Machthaber sollten keine Gefühle haben, Gefühle begünstigen Willkürhandlungen. Die Historie steckt voller Beispiele von schlechten Herrschern, denen Willkür die Hand lenkte, nicht kühler Verstand. Bürokratie, Gewaltenteilung und als Krönung der Rechtsstaat wurden alle ersonnen, das Persönliche aus der Machtsphäre zu tilgen.
Wer wüsste das nicht besser als Angela Merkel, der nie emotionaler Überschwang, sondern stattdessen Drögheit vorgeworfen wurde. Sich in Wahlkämpfen als Person zu präsentieren – diese Umstellung fiel Merkel immer schwer. Ihre Sprache verkörperte bislang die ideale Symbiose zwischen unaufgeregtem Temperament und Staatsraison.
Umso unerhörter die Vorgänge der letzten Wochen. Schon als die Kanzlerin zum ersten Mal aus dem Käfig des gezirkelten Machtsprechens ausbrach, ging mehr als nur ein Knirschen durchs Staatsgebäude. Der Asyl-Obergrenzen-Satz darf von jedem Juristen, jedem Studienrat, kurzum jedem Bürger ausgesprochen werden – nicht aber von einer Kanzlerin. Er enthält ein implizites Versprechen, das der Staat einlösen muss, nicht die Machthaberin auf Zeit, die gerade für ein paar Sekunden ihre Rolle vergessen hat. Der Staat ist noch da, wenn sie längst weg sein wird. Das markiert das Problem.
Seither ist nichts mehr wie zuvor, und alle Machttaktiker in der CDU wissen es. Indem die Überperson Merkel den Schutzraum der Institution verließ – eben jenen Schutzraum, der sie erst zur Überperson gemacht hat –, ist sie verwundbar geworden. Zugleich hat sie diesen Schutzraum beschädigt, weswegen sich allerlei Heckenschützen ermuntert fühlen dürften, schon mal die Gewehrläufe zu polieren.
Kein sterbender König nahm je sein Reich mit ins Grab
Zudem gilt: Auch Staaten haben eine metaphysische Dimension, nämlich die, um den Preis jeder Individualität die Zeitläufte zu überleben. Kein sterbender König nahm je sein Reich mit ins Grab. Umgekehrt sinkt kein Staat je ins Grab, sondern schafft eher Massengräber, wenn es darum geht, sich selbst zu erhalten. Dieser Schreckensvorstellung muss man als Politiker stets gewahr sein: Man darf den Staat nie an seine Grenzen führen.
Angesichts der Lage, in der alle Fernsehbilder nach moralischen Statements aus der Politik schreien, scheint diese Betrachtungsweise unterkühlt. Gibt es denn gar keine Hoffnung? Vielleicht doch: Die indische Autorin und Bürgerrechtlerin Arundhati Roy notierte in einem ihrer Bücher die Maxime: "Kraft achten, nicht Macht."
Merkels verbale Rollenbrüche zeugen von einer unglaublichen Kraft, einer moralischen und menschlichen Kraft, die vielleicht sogar diese Krise in den Griff bekommen könnte. Es ist aber bei allem die Kraft der Privatfrau, nicht die Kraft der Institutionen. Erst wenn wir Arundhati Roys Maxime in einen politisch-gesellschaftlichen Gesamtrahmen stellen würden, rückte Utopia ein Stückchen näher. Dann nämlich wäre der aus dem Herzen gespeiste, bürgerschaftliche Hilfswille größer als jede staatliche Hilfszusage. Der Staat träte in die zweite Reihe, weil auch die Wähler fürderhin mehr auf Kraft als auf Macht achten würden. Mit einer offeneren Sprache würde sich die Politik ändern, und Angela Merkel hätte eine politische Revolution ausgelöst. Hätte.
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