Merethe Lindstrøm: "Nord"

Magischer Raum für Katastrophen

04:42 Minuten
Das Cover des Buches "Nord" von Merethe Lindstrøm zeigt die schwarze Silhouette eines großen Baums mit dicken kahlen Ästen.
© Matthes & Seitz

Merethe Lindstrøm

Aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger

NordMatthes & Seitz, Berlin 2022

204 Seiten

22,00 Euro

Von Rainer Moritz · 03.12.2022
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Drei junge Menschen in einer apokalyptischen Landschaft, einer Welt voller Kriege, Vergewaltigungen, Todesmärsche. Wo und wohin sie wollen, bleibt in der Schwebe - als wolle der Roman "Nord" einen magischen Raum für alle Katastrophen schaffen.
Wo liegt Nord? Was hat es mit jenem geheimnisvollen Ort auf sich, den Merethe Lindstrøms 17-jähriger Ich-Erzähler als seine Heimat bezeichnet? Irgendwo im kalten Norden darf man diesen Fluchtpunkt, auf den der Erzähler zu Fuß zusteuert, vermuten. Er macht sich nicht allein auf den Weg: Ein schweigsamer Junge, der verängstigt auf einem Baum saß, schließt sich ihm an; später lesen die beiden ein kleines Mädchen in einem verlassenen Dorf auf, während der Hund des Erzählers nicht mehr aufzufinden ist. Als technisches Hilfsmittel steht ihnen nur ein Kompass zur Verfügung.
Es ist eine apokalyptische Landschaft, durch sich das Trio bewegt. Flugzeuge kreisen, es scheint Krieg gegeben zu haben. Leichen liegen am Wegrand, und viele Dörfer sind dem Erdboden gleichgemacht. Von Sammellagern, von mit Nummern gebrandmarkten Häftlingen ist die Rede, und sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart sind Flüchtlinge unterwegs. Wovor und wohin sie fliehen, bleibt in der Schwebe.

Düstere Atmosphäre

Die 1963 im norwegischen Bergen geborene Merethe Lindstrøm wurde hierzulande erst vor kurzem entdeckt, mit ihrem Roman „Tage in der Geschichte der Stille“ etwa, der 2012 mit dem angesehenen Literaturpreis des Nordischen Rats ausgezeichnet wurde. Ihre Prosa zeichnet sich durch eine düstere Atmosphäre aus, die in „Nord“ (das im Original 2017 erschien) noch einmal an Beklemmung zunimmt. Mit einem kühnen Kunstgriff nämlich vermeidet es Lindstrøm, ihre Prosa topografisch und historisch eindeutig zuzuordnen – ganz so, als wollte sie alle denkbaren Menschheitskatastrophen bündeln und dafür einen umfassenden magischen Rahmen schaffen.

Schwankende Identitäten

Auf ihrem von Hunger und Furcht begleiteten Weg passieren sie Kirchen, Friedhöfe und verrottete Jahrmarktskarusselle, begegnen Soldaten und einer Schauspielertruppe, schlachten eine Gans, versuchen Ziegen und Kühen ein paar Tropfen Milch abzuringen. Und immer wieder schweift der Erzähler, der einst wegen einer merkwürdigen Deformation seiner Schulterblätter als Krüppel verschrien wurde, zurück in eine Vergangenheit, deren Konturen verschwimmen.
Wie war das damals, als er im Dorf Welcherweg auf Aneska traf, die in ihm ihren gefallenen Mann Martin sehen und von ihm ein Kind haben wollte? Was veranlasste die notorisch fremdenfeindliche Bevölkerung von Welcherweg dazu, mit zusammengerafftem Hab und Gut ihre Heimat plötzlich zu verlassen? Und was hat es mit den schwankenden Identitäten des Textes auf sich, mit dem rätselhaften Baumjungen, der sich plötzlich in ein Mädchen zu verwandeln scheint?

Gleichnishafter Text

Nichts in dieser aufwühlenden, mit intensiven Naturbildern ausgestatteten Prosa bietet Verlässliches. Und vielleicht ja existiert Nord gar nicht, vielleicht ist dieser Name eine bloße Schimäre, ein imaginierter Rettungsanker in einer Welt voller Kriege, Vergewaltigungen, Todesmärsche und Zerstörungen. Am Ende scheinen der Erzähler und seine Begleiterin Nord ganz nahe zu kommen, doch Grenzbeamte verweigern den Zutritt, wollen Papiere sehen.
Merethe Lindstrøms „Nord“ ist ein gleichnishafter Text, der glücklicherweise seine Geheimnisse bis zur letzten Seite nicht preisgibt.

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