Mentalitätsgeschichte der Moderne

16.01.2012
Wer heute ein Buch über die Aufklärung schreibt, meint nicht etwa, wie bei Romantik oder Barock, eine geschichtliche Epoche, er meint ein prinzipiell unendliches Projekt, glaubt der Autor Manfred Geier: "kein Zustand, sondern ein Prozess, kein Sein, sondern ein Werden, wobei der Ausgang der Geschichte offen ist".
Der Untertitel suggeriert: Es ist ein spezifisch europäisches Projekt, und für Geier hat es einen Guru: Kant: "Sind die Europäer Kantianer und wenn ja, warum sie dafür gute Gründe haben", so lautet eine Kapitelüberschrift. Sorgfältig und nachvollziehbar sortiert und bündelt Geier die Stränge, von John Locke (der sich eine Moral ohne Gott nicht vorstellen konnte und daher bestenfalls zur Vor-Aufklärung gehört) über Voltaire, Rousseau und – überraschend weil in dieser Erzählung Frauen herkömmlicherweise fast nie auftauchten: Olympe des Gouges bis zu Moses Mendelssohn und Humboldt – jene Stränge und die sie umgebenden Diskursnetze, die sich schließlich im 18. Jahrhundert zur epochalen Mentalität verdichteten.

Es ist die Phase zwischen den beiden Revolutionen: der englischen 1688/89 und der französischen ein Jahrhundert später - "in denen die absolute Vormachtstellung von Kirche und Staat gebrochen worden ist". Dass auch die Deutschen entscheidend mitwirkten, betont Geier wiederholt: "Weniger erfahrungsorientiert als die Engländer und weniger religions- und staatskritisch als die Franzosen und weniger politisch als beide" streiten die Deutschen "äußerst risikofreudig für kritische Vernunft und lebenspraktisches Glück".

Es sind keine neuen Entdeckungen, nicht einmal neue Interpretationen, aber in Geiers luzider und pointierter Rekapitulation wird eine geschichtliche Dynamik sichtbar, die ab einem gewissen Punkt, sozusagen ab einer kritischen Masse, nicht mehr aufzuhalten war. Es war ein Zusammenspiel aus intellektuellen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen – und vielleicht aus Binsenweisheiten, die zuvor nur niemand in Praxis übersetzt hatte. Nichts anderes war ja Kants Aufforderung, sich des eigenen Verstandes zu bedienen: Hör nicht auf Andere, schon gar nicht auf irgendeinen Popanz!

Dass aus dieser Selbstermächtigung ein Autoritätsverlust der herrschenden Mächte folgen musste, war jedem klar – und ebenso, dass daraus andere Gesellschaftsformen erwachsen mussten. Die Gewaltenteilung, von der englischen Revolution teilweise durchgesetzt, war womöglich der "point of no return". Wenn Macht und Autorität nunmehr legitimationspflichtig waren, konnten sie sich weder auf Blut, noch auf Tradition oder Gottesgnadentum berufen. Gesetz war nicht mehr das Herrscherwort, sondern das Argument: Humboldts Bildungsprogramm, obwohl der gerade mal eineinhalb Jahre das Ressort leitete, war die logische Konsequenz.

Geschickt verwebt Geier immer wieder Biografien, Politik, Persönlichkeitsprofile und historische Kontingenzen zu einer Art Mentalitätsgeschichte der Moderne – und einer noch heute umstrittenen Leitkultur.

Besprochen von Eike Gebhardt

Manfred Geier: Aufklärung – Das europäische Projekt
Rowohlt Verlag, Reinbek 2012
415 Seiten., 24,95 Euro
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