Mental Health in der Independent-Branche

Wenn Touren krank machen

05:46 Minuten
Eine junge Frau mit Kopfhörern blickt gedankenverloren aus einem Autofenster.
Eine Studie sagt, dass Musiker dreimal häufiger an Angststörungen und Depressionen leiden als Personen anderer Berufsgruppen. © imago/Panthermedia/Antonio Guillem
Von Christoph Reimann · 04.07.2019
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Wenn Justin Bieber psychische Probleme hat, lässt er die besten Therapeuten einfliegen. Doch bei weitem nicht alle Musiker haben diese Möglichkeiten. In der Szene wird dieser Druck mehr und mehr öffentlich benannt. Hilfsangebote nehmen zu.
Wenn Superstars öffentlich bekennen, dass es ihnen psychisch nicht gut geht, zeugt das von einem Wandel in der Szene. Immer mehr Musikerinnen und Musiker trauen sich, offen über ihre Probleme zu sprechen. Das ist insofern besonders, als gerade Hip-Hopper lange den starken Mann markiert haben. Und noch viel älter ist der Dreiklang aus Sex, Drugs und Rock’n’Roll, der das ausschweifende Partyleben geradezu heroisiert hat.

Das Leben auf Tour ist schwierig

Das Problem ist auch im Independent-Bereich hinlänglich verbreitet. Sängerin Ava Trilling zum Beispiel hatte stark zu kämpfen: "Ich brauchte einen geregelten Tagesablauf, Komfort, wenn man so will. Das hat uns in der Band gespalten, für die vier bis fünf Jahre, die kommen sollten."
Sie erzählt ihre Geschichte am Rande einer Podiumsdiskussion. Mit 16 spielt sie in der Band "The Forth Wanderers". Heute hat die Gruppe einen Vertrag mit dem großen Independent-Label Sub Pop. Damals, in den Anfängen, müssen die Musiker alles allein organisieren. Das bedeutet auch: Nicht immer reicht das Geld auf Tour für ein Hotel. Eigentlich schweißt so etwas zusammen. Bei den vier Männern ihrer Band, bei den "Forth Wanderers" war es ja auch so.
Trilling allerdings war da außen vor. "Sie waren die ganze Zeit zusammen. Die hatten nicht ihre Eltern oder Freundinnen dabei, die sie unterstützen mussten. Sie waren allein in einem Auto unterwegs. Für sie war es vollkommen okay, bei Fremden zu übernachten, wenn es sein musste."

Angststörungen lassen Tourpläne platzen

Sie hat schon mit Angstzuständen zu kämpfen, als sie noch nicht in der Band ist. Freunde und Familie mit auf Tour zu nehmen – den Rat nimmt sie damals aus ihrer Therapie mit. Trotzdem: Die psychischen Probleme belasten die Gruppe.
"Meine Angststörung hat sich stark auf die Band ausgewirkt: Wenn ich die nicht hätte, wären wir jetzt wahrscheinlich auf Tour durch das ganze Land. Die Angstzustände haben dazu geführt, dass ich mich von meinen Bandmitgliedern distanziert habe. Ich konnte nicht lange mit ihnen zusammen in einem Auto sein, ich konnte dreckige Schlafplätze nicht aushalten. Ich brauchte meinen Schlaf, meine Ruhe. Das hat die Beziehungen in der Band auf jeden Fall belastet."
Seit Kurzem sprechen auch Größen wie Kanye West oder Justin Bieber öffentlich über psychische Probleme. Die Superstars können sich die besten Therapeuten der Welt leisten.

Erfolgsdruck bremst

Die vielen Musikerinnen und Musiker im Independent-Bereich haben diese Möglichkeit nicht. Und das bei ganz und gar nicht weniger kritischen Rahmenbedingungen, erzählt Jennifer Leff, und zählt häufige Probleme auf: "Finanzielle Kämpfe, Beziehungspflege, Belästigung, Diskriminierung. Burn-out, Drogenmissbrauch, psychische Störungen, Suizid. Das unstete Leben. Fremd- versus Selbstwahrnehmung. Soziale Medien und das Bild, das man glaubt, darin abgeben zu müssen."
Jennifer Leff arbeitet für "MusiCares". Die gemeinnützige Einrichtung gehört zur Recording Academy, die auch die Grammys vergibt. Die Aufgabe von "MusiCares" besteht darin, Musikerinnen und Musikern in Not zu helfen.
Leff bestätigt: "Das Wichtigste ist es für Betroffene, Hilfe zu finden. Damit sie sich weniger isoliert fühlen, nicht alles mit sich selbst ausmachen müssen. Nicht jeder kann es sich leisten, einen Therapeuten mit auf Tour zu nehmen oder sechs Monate Pause zu machen. Betroffene müssen sich Leuten anvertrauen."

Hilfsangebote steigen

"MusiCares" gibt es seit 1998. In den vergangenen Jahren sei das Interesse an der Non-Profit-Organisation spürbar gestiegen, erzählt Leff. Sie werde häufiger zu Podiumsdiskussionen eingeladen, und entscheidende Personen in der Musikindustrie hätten erkannt, wie wichtig Mental Health für die Arbeit und die Musik sei. Ein Fortschritt. Auch, weil es inzwischen belastbare Zahlen gibt: Eine Studie in Großbritannien hat ergeben, dass Musikerinnen und Musiker dreimal häufiger an Angststörungen und Depressionen leiden als Personen anderer Berufsgruppen.
Ava Trilling spricht mit ihren Bandmitgliedern über ihre Probleme. Aber als Sub Pop die "Forth Wanderers" unter Vertrag nimmt, kommt es zur Krise. Der Grund: Das Label will die Band auf Tour schicken. "Die Tour sollte uns groß rausbringen. Wir sollten unsere Musik vor Leuten spielen, die sie noch nie gehört hatten. Eigentlich war das eine großartige Chance. Aber ein paar Tage, bevor es losgehen sollte, bin ich zusammengebrochen. Ich hatte mich selbst unter Druck gesetzt. Ich konnte einfach nicht mehr. Also habe ich die Tour abgesagt."

Probleme benennen

Bis heute ist Ava Trilling nicht mehr auf Tour gegangen. Das Label Sub Pop und ihre Band tragen die Entscheidung mit, obwohl im Live-Sektor das meiste Geld steckt. Vielleicht ist das ein seltener Glücksfall, vielleicht aber auch ein Rollenmodell für eine Industrie, die erkannt hat, dass die wilden Jahre von Sex, Drugs und Rock’n’Roll zu vielen traurigen Schicksalen geführt haben. Ava Trilling verarbeitet ihre Geschichte auch in ihren Songs.
"Ich habe unter Depressionen gelitten und mit Angstzuständen gekämpft. Viele meiner Songs drehen sich um diese Themen. Es ist schon einfacher, einen Song zu schreiben, wenn es dir nicht gut geht. Man ist verletzlicher, die Songs sind dichter dran, die Gefühle sind rauer. Viele Leute hören so etwas gerne. Aber ich glaube nicht, dass wir das romantisieren sollten."
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