Mensching: Das ging schon "irgendwie an die Seele"

Steffen Mensching im Gespräch mit Katrin Heise · 04.11.2009
Die Großdemonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 sei nicht nur durch Freiheits- und Äußerungswillen geprägt gewesen, sondern auch durch "Illusion und Blauäugigkeit", sagt der Autor und Schauspieler Steffen Mensching, der bei der Demonstration im Kulturprogramm aufgetreten ist.
Katrin Heise: Jetzt begrüße ich Steffen Mensching. Er ist Kulturwissenschaftler, Autor, Schauspieler, Regisseur und seit letztem Jahr auch Intendant des Thüringer Landestheaters Rudolstadt. Am 4. November 1989, da trat er auf dem Berliner Alexanderplatz auf im Kulturprogramm vor den Reden. Ich grüße Sie, Herr Mensching!

Steffen Mensching: Hallo!

Heise: Mit welchen Gefühlen sind Sie damals aufgetreten?

Mensching: Na ja, mit welchen Gefühlen? Man war schon sehr aufgeregt. Wir wussten natürlich alle, dass das irgendwie ein relativ großer Auftritt werden wird – dass dann so viele Leute kommen würden, hat wahrscheinlich keiner geahnt. Ich erinnere mich nur noch, dass man hinter der Bühne eigentlich sehr in Erregung war, dass immer mehr Menschen kamen und man überhaupt nicht der Lage eigentlich Herr wurde. Deswegen sind wir damals – mein Kollege Wenzel und ich – auch eingesprungen und haben vor Beginn der Veranstaltung angefangen zu singen. Wir waren eigentlich in der Mitte der ganzen Angelegenheit geplant …

Heise: Einfach, um dem Ganzen Rahmen zu geben, um einfach den Leuten zu sagen…?

Mensching: Nein, es war eigentlich mehr ein Deeskalationsversuch. Die Veranstalter waren in Sorge, dass die Zigtausenden, die da schon auf dem Platz versammelt waren, einfach unruhig werden könnten. Man wusste ja nicht, was passiert, wenn irgendwie eine Provokation entsteht oder die Leute irgendwie aufmüpfig werden. Man wollte da ein bisschen die Luft rausnehmen, die ja irgendwo drin war. Und deswegen hat man gesagt, könnt ihr nicht irgendwas singen? Da, wo man singt, da soll man sich ruhig niederlassen, ja, böse Menschen singen nicht, die haben keine Lieder. Deswegen haben wir also drei Lieder gesungen, um …

Heise: Wissen Sie noch, was Sie gesungen haben? Sie waren Kabarettist, ich meine, das ging dann ja gleich, glaube ich, ziemlich kritisch los, oder?

Mensching: Es ging kritisch los, aber das waren auch sehr amüsante Lieder. Also ich weiß nur, wir haben zwei gesungen oder zwei Lieder, das eine war ein Dankchoral, in dem unser Land bedankt wurde: Dank für diesen großen Dankchoral, hier in diesem Freudental, wo wir abgesichert eben täglich unseren Geist abgeben. So ein Chanson, was ich mit meinem Kollegen gemacht habe. Und dann hatten wir ein Lied gemacht, das hieß "Sicher einmal irgendwann kommt ein neuer Mann an das große Ruder ran, ob er aber Egon oder Hans, Eckard, Uli oder Franz oder ganz anders heißt, ist noch nicht raus", also auch so ein lustiges Chanson auf die ja verschiedenen Möglichkeiten der Veränderung an der Spitze der Regierung.

Heise: Da war ja auch gerade eine gewesen, paar Tage oder paar Wochen vorher. Hat Ihnen Heym eigentlich aus dem Herzen gesprochen? Ich meine, Fenster aufstoßen, das klingt so nach Befreiung.

Mensching: Na gut, es gab einige Äußerungen, die einem schon irgendwie an die Seele gingen und andere, wo man eher irritiert war, was da und wer da auch sprach. Also die Auftretenden waren ja sehr unterschiedlich. Also da redete Schabowski, zu dem hatte ich schon meine Meinung, den hatte ich vorher noch ganz anders erlebt in einer Versammlung der Schriftsteller von Berlin. Der sprach, und ja, viele Autorenkollegen sprachen, Christa Wolf sprach, Heiner Müller hat geredet, Christoph Hein.

Heise: Markus Wolf sprach auch.

Mensching: Auch, ja klar. Ich meine, gut, man stand mit denen allen hinter der Bühne, viele kannten sich auch untereinander. Das war ja in der DDR doch schon ein bisschen so, dass sich gerade die Kulturschaffenden natürlich kannten. Und man kommentierte dann auch, wer antrat und wer redete und von dem man das vielleicht nicht erwartet hätte beziehungsweise wo man auch ein bisschen die Ahnung hatte, dass da mancher eben auf einen Zug aufspringt, der aus dem Bahnhof rollte.

Heise: Wollte man den eigentlich gar nicht auf dem Zug haben?

Mensching: Na ja, es war, glaube ich, ein gemischtes Gefühl. Einerseits war man so offen, dass wirklich jedermann angehört werden sollte, andererseits war man auch nicht so naiv, dass man alles vergaß. Ich meine, zu einer Aussprache gehört dann eben auch, dass die andere Meinung zumindest angehört wird, die Chance hat, sich zu äußern. Also man wollte, glaube ich, nicht schon wieder in den Fehler verfallen, nach einer Zensur eine neue aufzubauen. Und insofern war das auch völlig richtig, dass die die Chance hatten, sich zu positionieren. Und sie haben natürlich auch ihre Quittung bekommen. Also die Leute – das hört man ja auch bei der Rede von Heym – die Leute da auf dem Platz haben sehr spontan reagiert.

Heise: Bei Markus Wolf haben sie gepfiffen.

Mensching: Sie haben auch bei Heiner Müller gepfiffen, und da haben sie gepfiffen aus Blauäugigkeit, weil sie nicht ahnten, was der gute Heiner da prognostizierte, dass sie das bald betreffen würde, nämlich die Frage nach freien Gewerkschaften. Also es war viel Freiheitswille und auch Äußerungswille da, und es war aber, glaube ich – und das ist für so eine Situation nicht ganz untypisch –, es war auch Illusion und Blauäugigkeit.

Heise: Im Deutschlandradio Kultur hören Sie Steffen Mensching, Schauspieler, Autor, Regisseur, über den 4. November vor 20 Jahren. Herr Mensching, im Mai 89, da war noch die Kommunalwahl abgehalten worden mit den üblichen Ergebnissen, die hat zwar keiner mehr so ganz glauben wollen. Im Juni hatte dann die DDR-Führung sich für das chinesische Vorgehen auf dem Tian'anmen-Platz ausgesprochen. Wenn Sie die Zeit so rekapitulieren und dann an den 4. November denken, hätten Sie sich jemals vorher so eine Demonstration, kein halbes Jahr nach dem, was ich gerade gesagt habe, vorstellen können?

Mensching: Ich glaube, in dieser Zeit von Mai bis November 89 ist sehr viel in kürzester Zeit passiert. Man hat sicherlich Ende August noch nicht geahnt, was im September in dem Land passieren würde, und im September noch nicht, was im Oktober stattfand. In diesen wenigen Tagen, von Tag zu Tag sind neue Entscheidungen gefallen und haben sich Veränderungen vollzogen. Mein Kollege und ich waren eigentlich den ganzen September auf Tournee mit einem Clownsprogramm, das wir damals gespielt haben, und wir haben auch vor jeder Vorstellung die Resolution verlesen – es gab damals eine Resolution der Unterhaltungskünstler der DDR, die sich für Reformen, Zulassung des neuen Forums und Demokratisierung der Gesellschaft ausgesprochen hatten. Und alle Schlagersänger, Rocker, Chansonniers, die da unterschrieben hatten, hatten sich verpflichtet, diese Resolution vor ihren Auftritten zu verlesen. Und es gab da regelmäßig Schwierigkeiten mit den Behörden, die versucht haben, das zu unterbinden. Aufträge wurden abgesagt und so weiter.

Heise: Welche politischen Vorstellungen hatten Sie eigentlich, welche Erwartungen, also wie sollte es für Sie weitergehen?

Mensching: Ich war, glaube ich, in den Jahren, also mindestens ab Mitte der 80er-Jahre, sehr kritisch zu dem, was in der DDR vor sich ging, was politische Entscheidungen anging, was demokratische Fragen anging, was Reisefreiheit betraf. Ich habe mich immer dazu bekannt, dieses Land DDR und auch den Sozialismus irgendwo zu akzeptieren und zu schätzen. Ich glaubte, ein reformierter Sozialismus wäre ein erstrebenswertes Ziel. Insofern habe ich mich, was mitunter auch jetzt formuliert wird, eigentlich nie in Opposition zum System befunden, das würde ich nicht sagen. Ich wollte dieses System reformieren und verändern, wie viele andere auch. Das ist heute eigentlich nicht mehr so ganz chic, sich daran zu erinnern, aber viele der Forderungen im Herbst 89 gingen in eine reformierte Gesellschaft, eine antikapitalistische Gesellschaft, einen dritten Weg. Das war möglicherweise naiv, aber es war die damalige Forderung und für viele Leute auch eine Herzenssache, glaube ich.

Heise: Sie haben gerade gesagt, das ist heutzutage, sich daran zu erinnern, nicht mehr so ganz chic, es wird irgendwie auch nicht mehr so richtig ernst genommen, was da so an politischen Visionen entstanden ist. Zu Recht Ihrer Meinung nach jetzt aus dem Rückblick?

Mensching: Das ist eine deutsche Untugend, die Geschichte immer von ihrem Ende her zu interpretieren, als ob der Weltgeist sozusagen sich da realisiert hat, was dort rausgekommen ist. Das hat mich zu DDR-Zeiten nicht interessiert und interessiert mich heute eigentlich auch nicht. Die Geschichte ist natürlich immer offen und lässt andere Varianten zu. Und dass es sich so entwickelt hat, hat auch mit Bedürfnissen und mit realen Verhältnissen zu tun. Also dass wir heute in einem geeinten Deutschland mit einem bestimmten Wirtschaftssystem existieren, da gab es Bestrebungen, und die haben sich letztendlich durchgesetzt. Und das muss man erst mal akzeptieren. Dass es nicht das Ende der Geschichte ist, davon bin ich überzeugt, ja.

Heise: Der 4. November 1989, die größte Demonstration der DDR auf dem Berliner Alexanderplatz. Im "Radiofeuilleton" erinnerte sich Steffen Mensching. Vielen Dank, Herr Mensching!