Menschheitsgeschichte als Folge von Wanderungen
Karl Schlögel zeigt in "Planet der Nomaden", dass Bewegung durch den Raum das charakteristische Zeichen gesellschaftlichen Lebens ist und die ganze Menschheitsgeschichte als eine Folge von Wanderungen zu begreifen ist. Demzufolge ist die Globalisierung ohne Migration undenkbar.
Die zahlreichen Flüchtlinge in überladenen Booten, die nach einer lebensgefährlichen Überfahrt in Ceuta und Melilla, auf Teneriffa und Lampedusa stranden, sind nur die Spitze des Eisbergs. Die meisten Menschen auf Wanderung tauchen, sofern sie die Grenze nicht ordnungsgemäß am Kontrollpunkt überquert haben, weder in den Nachrichten noch vor den Augen ihrer künftigen Nachbarn auf - sie tauchen gleich unter und beginnen ein neues Leben.
Die Illegalen sind in den USA so zahlreich geworden, dass sich ausgerechnet ein Law-and-Order-Präsident wie George W. Bush zu ihrer Legalisierung entschlossen hat. Migration ist ein weltweites Phänomen, und sie erregt bei den Bewohnern der wohlhabenden Staaten vor allem Ängste. Es ist daher eine richtige Entscheidung von Karl Schlögel, seinen Essay "Planet der Nomaden" zu nennen. Denn dank dieser Prise globaler Wüstenromantik könnte seine Lobpreisung des legalen wie des illegalen Grenzüberwinders die habituellen Abwehrreaktionen unterlaufen.
"Globalisierung ohne Migration gibt es nicht", stellt Schlögel kurz und bündig fest: "Capital flow ohne migration flow ist sinnlos." Zu dieser nüchternen Feststellung gehört die Überzeugung, dass die Städte - Flüchtlinge ziehen nicht aufs Dorf - sich wie bisher als "Schulen und Laboratorien der Zivilisierung" beweisen. Wenn die Welt in den letzten 150 Jahren 50 Millionen Europäer aufnehmen konnte, so Schlögel, dann sollten Europa und die USA mit einer deutlich geringeren Zahl von Flüchtlingen zurechtkommen.
Solch gelassenes Vertrauen auf die Belastungsfähigkeit vorhandener Strukturen und gewachsener Mentalitäten verdankt sich der berufsspezifischen Weitsicht eines Historikers: Schlögel lehrt an der Frankfurter Viadrina Universität osteuropäische Geschichte. Als Historiker, der die Gegenwart beschaut, neigt Schlögel nicht zur Kritik, sondern zur Phänomenologie, und zwar zu einer historisch unterfütterten Breitwand-Phänomenologie. Der Essay lässt kaum einen Aspekt der Migration aus: Gründe, Motive, Mentalitäten, kriminelle Helfershelfer, Konjunkturen der Völkerverschiebung im entfesselten Nationalismus des 20. Jahrhunderts, wissenschaftliche Erklärungen aller Art, dazu Zahlen, Zahlen, Zahlen. Wanderarbeiter, Flüchtling, Asylbewerber, Asylant, displaced person, Staatenloser, Transnationaler, Apatride, non documented, Exilant, Migrant, Emigrant oder Immigrant – sie alle werden erwähnt.
Schlögel zeigt, dass Bewegung durch den Raum das charakteristische Zeichen gesellschaftlichen Lebens ist und die ganze Menschheitsgeschichte als eine Folge von Wanderungen zu begreifen ist, beginnt sie doch mit der Ausbreitung des Menschen über die ganze Erde. Die Wanderungen heute führen, so Schlögel, zur "Rückgewinnung von Komplexität, Konfliktfähigkeit, Weltläufigkeit", wie sie vor den Weltkriegen schon einmal existierte. Die Flüchtlinge seien eine Bereicherung: sie sind wagemutig, improvisationsfreudig, anpassungsfähig und nicht zuletzt vielsprachig. Doch die Auffassung, man müsse jedermann ins Land lassen, hält Schlögel für ebenso naiv wie die Abschottung: Die Aufnahmefähigkeit von Gesellschaften sei begrenzt.
So bewundernswert Schlögels enzyklopädische Eloquenz ist – sie lässt seinen Essay zuweilen ausfransen und führt zu Wiederholungen. Dass der ursprünglich für eine Stiftung geschriebene Text für die Einzelveröffentlichung lediglich an einzelnen Stellen erweitert wurde, verstärkt diesen Eindruck noch. Lieber hätte Schlögel die im ganzen Text verstreuten Zahlen aus den Neunziger Jahren aktualisieren sollen. Doch mit diesen kleinen Schwächen versöhnt das Vorwort, in denen sich Schlögel einmal mehr als aufmerksamer Zeitdiagnostiker erweist: Er liest die Unruhen in der Pariser Banlieue als Äußerungen einer Diaspora, die kein Provisorium mehr ist, sondern ein Dauerzustand. In Europa lösten sich derzeit beherrschende kulturelle Überzeugungen der Mittelschicht auf, darunter die Hoffnung auf quasi automatische Integration der Zuwanderer. Unaufgeregt verabschiedet Schlögel den Multikulturalismus und hält in der nun eintretenden Unübersichtlichkeit die Augen offen. Es lohnt, ihm darin zu folgen.
Karl Schlögel:
Planet der Nomaden. Essay.
wjs-Verlag. Berlin 2006.150 S., 16 Euro.
Die Illegalen sind in den USA so zahlreich geworden, dass sich ausgerechnet ein Law-and-Order-Präsident wie George W. Bush zu ihrer Legalisierung entschlossen hat. Migration ist ein weltweites Phänomen, und sie erregt bei den Bewohnern der wohlhabenden Staaten vor allem Ängste. Es ist daher eine richtige Entscheidung von Karl Schlögel, seinen Essay "Planet der Nomaden" zu nennen. Denn dank dieser Prise globaler Wüstenromantik könnte seine Lobpreisung des legalen wie des illegalen Grenzüberwinders die habituellen Abwehrreaktionen unterlaufen.
"Globalisierung ohne Migration gibt es nicht", stellt Schlögel kurz und bündig fest: "Capital flow ohne migration flow ist sinnlos." Zu dieser nüchternen Feststellung gehört die Überzeugung, dass die Städte - Flüchtlinge ziehen nicht aufs Dorf - sich wie bisher als "Schulen und Laboratorien der Zivilisierung" beweisen. Wenn die Welt in den letzten 150 Jahren 50 Millionen Europäer aufnehmen konnte, so Schlögel, dann sollten Europa und die USA mit einer deutlich geringeren Zahl von Flüchtlingen zurechtkommen.
Solch gelassenes Vertrauen auf die Belastungsfähigkeit vorhandener Strukturen und gewachsener Mentalitäten verdankt sich der berufsspezifischen Weitsicht eines Historikers: Schlögel lehrt an der Frankfurter Viadrina Universität osteuropäische Geschichte. Als Historiker, der die Gegenwart beschaut, neigt Schlögel nicht zur Kritik, sondern zur Phänomenologie, und zwar zu einer historisch unterfütterten Breitwand-Phänomenologie. Der Essay lässt kaum einen Aspekt der Migration aus: Gründe, Motive, Mentalitäten, kriminelle Helfershelfer, Konjunkturen der Völkerverschiebung im entfesselten Nationalismus des 20. Jahrhunderts, wissenschaftliche Erklärungen aller Art, dazu Zahlen, Zahlen, Zahlen. Wanderarbeiter, Flüchtling, Asylbewerber, Asylant, displaced person, Staatenloser, Transnationaler, Apatride, non documented, Exilant, Migrant, Emigrant oder Immigrant – sie alle werden erwähnt.
Schlögel zeigt, dass Bewegung durch den Raum das charakteristische Zeichen gesellschaftlichen Lebens ist und die ganze Menschheitsgeschichte als eine Folge von Wanderungen zu begreifen ist, beginnt sie doch mit der Ausbreitung des Menschen über die ganze Erde. Die Wanderungen heute führen, so Schlögel, zur "Rückgewinnung von Komplexität, Konfliktfähigkeit, Weltläufigkeit", wie sie vor den Weltkriegen schon einmal existierte. Die Flüchtlinge seien eine Bereicherung: sie sind wagemutig, improvisationsfreudig, anpassungsfähig und nicht zuletzt vielsprachig. Doch die Auffassung, man müsse jedermann ins Land lassen, hält Schlögel für ebenso naiv wie die Abschottung: Die Aufnahmefähigkeit von Gesellschaften sei begrenzt.
So bewundernswert Schlögels enzyklopädische Eloquenz ist – sie lässt seinen Essay zuweilen ausfransen und führt zu Wiederholungen. Dass der ursprünglich für eine Stiftung geschriebene Text für die Einzelveröffentlichung lediglich an einzelnen Stellen erweitert wurde, verstärkt diesen Eindruck noch. Lieber hätte Schlögel die im ganzen Text verstreuten Zahlen aus den Neunziger Jahren aktualisieren sollen. Doch mit diesen kleinen Schwächen versöhnt das Vorwort, in denen sich Schlögel einmal mehr als aufmerksamer Zeitdiagnostiker erweist: Er liest die Unruhen in der Pariser Banlieue als Äußerungen einer Diaspora, die kein Provisorium mehr ist, sondern ein Dauerzustand. In Europa lösten sich derzeit beherrschende kulturelle Überzeugungen der Mittelschicht auf, darunter die Hoffnung auf quasi automatische Integration der Zuwanderer. Unaufgeregt verabschiedet Schlögel den Multikulturalismus und hält in der nun eintretenden Unübersichtlichkeit die Augen offen. Es lohnt, ihm darin zu folgen.
Karl Schlögel:
Planet der Nomaden. Essay.
wjs-Verlag. Berlin 2006.150 S., 16 Euro.