Menschheit in der Genfalle

Die einzigartige genetische Entwicklung des Menschen ermöglichte seinen Aufstieg zum Herrscher über die Natur und seine Verbreitung über die ganze Erde. Nun wird ihm sein biologisches Erbe zum Verhängnis. Denn sein angeborenes Konkurrenzstreben treibt ihn und seinen Planeten Richtung Untergang.
Zu diesem erschreckenden Fazit kommt der belgische Biochemiker und Nobelpreisträger Christian de Duve. Bevor der renommierte Forscher jedoch sein Zukunftsbild entwirft, versorgt er seine Leser mit vielen, anschaulich präsentierten Informationen zum aktuellen Wissensstand in der Biologie. Im Schnelldurchlauf führt er durch die Evolution des Lebens und vermittelt allerlei naturwissenschaftliche Einzelheiten, die vielfach allerdings mit seiner in diesem Buch dargelegten Theorie gar nichts zu tun haben. Erst nach 150 von 250 Seiten erreicht er sein Hauptthema: Die Wirkung der biologischen Selektion.
Durch die genetische Auswahl haben sich bei unseren Vorfahren stets solche Gene durchgesetzt, die ihnen einen kurzfristigen Vorteil über ihre jeweiligen Konkurrenten verschafften. Egoistisches Streben für die eigene Sippe und gegen die "anderen" führte in der Evolution zum Erfolg. Die daraus resultierende Veranlagung zum egoistischen Gegeneinander ist für Christian de Duve: die Ursünde der Menschen, eine vererbte Belastung, vergleichbar mit der "Erbsünde" im Christentum.

Als Folge dieser Entwicklung sitzt die Menschheit nun in der Genfalle. Was dem einzelnen, seiner Sippe oder seiner Nation nützte, schadet letztlich dem Planeten und stellt die Zukunft der ganzen Menschheit in Frage. Um dem Untergang zu entgehen, hilft nach Ansicht des Autors nur die Vernunft. Das menschliche Gehirn kann Einsichten erlangen, die weit über die Information der Gene hinausgehen. So sind Klimaschutz und Geburtenkontrolle unverzichtbar, wenn die Menschheit dauerhaft überleben will.

Seine Forderung zur Einsicht richtet Christian de Duve insbesondere an Religionsgemeinschaften und Umweltschützer, denn sie setzen in unseren Gesellschaften dem menschlichen Egoismus altruistische Werte entgegen. Sein Vertrauen in beide ist jedoch begrenzt, denn sowohl Kirchen als auch Umweltschützer verhalten sich seiner Einschätzung nach mehrheitlich fortschrittsfeindlich. Statt Vernunft herrschten dort oft Dogmen und Denkverbote. So zeichnet der 93-jährige Nobelpreisträger ein insgesamt pessimistisches Bild unserer Zukunft.

Entdeckungen und Theorien der letzten Jahre, die auch das Miteinander und den Altruismus als Folge der biologischen Evolution erachten, erwähnt er nicht. Auch das Argument, dass in vielen reichen Ländern der Welt das Bevölkerungswachstum bereits gebremst und teilweise sogar rückgängig gemacht werden konnten, blendet er aus. Dennoch liefert sein Buch wichtige Anregungen und ist ein fachkundiger Diskussionsbeitrag, der zur Lösung unserer Probleme beitragen könnte.

Besprochen von Michael Lange

Christian de Duve: Die Genetik der Ursünde – Die Auswirkung der natürlichen Selektion auf die Zukunft der Menschheit
Spektrum – Akademischer Verlag, Heidelberg 2010
250 Seiten, 17,95 Euro