Kommentar

Ist die Würde des Menschen antastbar oder nicht?

04:52 Minuten
Schriftzug mit Artikel eins des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland "Die Würde des Menschen ist unantastbar" an der Fassade der Staatsanwaltschaft im Justizzentrum in Frankfurt am Main
Wie kann die Menschenwürde unantastbar sein, wenn sie täglich verletzt wird? © imago images / Ralph Peters
Ein Kommentar von Arnd Pollmann |
Audio herunterladen
Die abgesagte Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin entfacht eine wichtige Diskussion neu: Was ist die Würde des Menschen? Und was soll ihre Unantastbarkeit bedeuten?
Das Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde ist in aller Munde. Doch aus juristischer Sicht sorgt Artikel 1 der Verfassung oft für Verwirrung. Denn dort folgt unmittelbar ein zweiter Satz, der gern unter den Tisch fällt: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Dieser Zusatz wirkt zwingend, ergibt aber bei genauerem Hinsehen einen offenen Widerspruch: Warum muss man die Würde unter Schutz stellen, wenn sie doch ohnehin unantastbar ist? Schützen muss man doch nur das, was sehr wohl antastbar ist, oder?

Nützliche Illusion

Auch im Alltag wird der Unantastbarkeit widersprochen: „Das ist eine Verletzung der Menschenwürde“ oder „Man hat mir meine Würde genommen“. Die Rechtswissenschaft behilft sich mit dem Hinweis, die besagte Unantastbarkeit sei nicht deskriptiv als Tatsache gemeint, sondern normativ im Sinne starken Sollens: Die Würde darf unter keinen Umständen angetastet werden! Doch warum steht das da so nicht? Gibt es vielleicht eine Interpretation, die plausibler ist?
Beim Philosophen David Hume findet sich eine provokante Randnotiz: Die Würde des Menschen sei nichts Reales, von Natur aus Gegebenes, sondern eine nützliche Erfindung; eine Illusion zwar, aber eine moralisch lebensdienliche. Denkt der Mensch derart „vorteilhaft“ von sich und anderen, wird er auch sein Handeln an diesem hohen Maßstab ausrichten. Und es vermeiden, auf unmoralische oder gar grausame Weise unter das ihm selbst gesetzte Niveau herabzusinken. Anders gesagt: Die Menschenwürde ist eine für zivile Humanität sorgende Leitvorstellung, ein Ideal achtungswürdigen Daseins und Miteinanders.

Säkulare Sakrilege

Was aber hat das mit dem Grundgesetz zu tun? Als der Parlamentarische Rat ab Herbst 1948 die zukünftige Verfassung beriet, kam es in Bezug auf Artikel 1 zu einer spannenden Debatte. Anfangs sollte es statt „unantastbar“ „unverletzlich“ heißen, und fast wäre im zweiten Satz von einer „heiligen“ Pflicht zum Würdeschutz die Rede gewesen. Man entschied sich um, da man aus Artikel 1 kein religiöses Bekenntnis machen wollte. Und der Begriff der Unantastbarkeit bot sich als Kompromiss an: zwischen der religiösen Sehnsucht nach Transzendenz und der weltlichen Dringlichkeit einer Beschränkung staatlicher Willkür.
Aber diese Reminiszenz an das Sakrale ist aufschlussreich. Denken wir an heilige Gegenstände in Gotteshäusern; zum Beispiel an Ikonen, Schriftstücke, Reliquien. Auch sie sind auf bestimmte Weise unantastbar: Man kann sie sehr wohl anfassen, aber geschieht dies unbefugt, sind sie entweiht und „profan“. Vielleicht sind Würdeverletzungen säkulare Sakrilege: Akte einer schändlichen Übergriffigkeit.

Umkämpfte Menschlichkeit

Diese Analogie kann leicht missverstanden werden: Die Würde selbst ist nichts Gegenständliches. Trotzdem ist es oft typisch für Würdeverletzungen, dass diese handfest an der menschlichen Hülle, dem fragilen Körper ansetzen; etwa in Fällen von Missbrauch, Vergewaltigung, Folter. Zudem darf die Analogie der Schändung nicht vergessen machen, dass die Würde tatkräftig verteidigt, oft auch wiederhergestellt oder gar geheilt werden kann – wie eben eine entweihte Ikone, die in einem aufwendigen Verfahren gereinigt und neu geweiht wird.
Der Schriftsteller Jean Améry schreibt in Erinnerung an Auschwitz: „Ich sehe vor mir den Häftlingsvorarbeiter Juszek (…). Der schlug mich einmal (…) einer Bagatelle wegen ins Gesicht, so war er es gewohnt zu verfahren mit allen Juden (...). Ich schlug in offener Revolte den Vorarbeiter Juszek meinerseits ins Gesicht: meine Würde saß als Faustschlag an seinem Kiefer“. Vielleicht ist das die zentrale Botschaft der Unantastbarkeit: Der nach 1945 verabredete Würdeschutz ist ein Protest in Stellvertretung der Schwachen, Erniedrigten, Ausgestoßenen. Wenn die Würde des Menschen eine nützliche Erfindung ist, ein Maßstab für zivile Humanität, dann muss sie sich tagtäglich am Umgang mit diesen Menschen beweisen.
Mehr zu Menschenwürde und -rechten