Menschenrechte für alle

Angesichts der sozialen Unsicherheiten, die die Wirtschaftskrise weltweit aufwirft, liegt die Rückbesinnung auf die Menschenrechte nahe. Die amerikanische Sozialphilosophin Seyla Benhabib deutet sie in ihrem Essay als Bezugsrahmen, der die ungleiche Verteilung von Rechten zwischen Nationen und Individuen aufheben und die Bedingungen für eine kosmopolitische Staatenordnung schaffen soll.
In Zeiten einbrechender Börsenkurse steigt der Marktwert moralischer Werte. Angesichts der sozialen Unsicherheiten, die die Wirtschaftskrise weltweit aufwirft, liegt die Rückbesinnung auf die Menschenrechte nahe. Die amerikanische Sozialphilosophin Seyla Benhabib deutet sie als universellen Bezugsrahmen, der die ungleiche Verteilung von Rechten zwischen Nationen und Individuen aufheben und die Bedingungen für eine kosmopolitische Staatenordnung schaffen soll.

Der universelle Anspruch, den die Menschenrechte in ihrer allgemeinen Erklärung von 1948 formulieren, führt laut Seyla Benhabib in ein Dilemma. Zwar sollen diese Rechte für alle Menschen egal welcher Herkunft gelten, in Anbetracht der andrängenden Flüchtlinsströme vor den Toren Europas wird aber deutlich, dass ihre Anerkennung immer noch an bestimmte Staatszugehörigkeiten gebunden ist. Besonders jene Migranten, die auf der Flucht ihre Staatsangehörigkeit verloren haben, laufen Gefahr, – wie es Seyla Benhabib mit Hannah Arendt formuliert – das „Recht auf Rechte“ zu verlieren, da sie keinerlei institutionellen Schutz mehr genießen.

In ihrem über weite Strecken brillant argumentierenden Essay zieht die renommierte amerikanische Sozialphilosophin normative Konsequenzen aus diesem Dilemma. Welche konkreten Rechte, so ihre Frage, müssen wir den Anderen einräumen, wenn wir nicht in Widerspruch zu den allgemeinen Menschenrechten geraten wollen? Benhabib zitiert zunächst Immanuel Kant, der an die Republik den moralischen Anspruch formulierte, Reisenden und Flüchtlingen Gastrecht zu gewähren.

Benhabib hält unter heutigen Bedingungen Kants Idee des Gastrechts für unzureichend. Aus ihrer Sicht müssen wir Migranten, die in unser Land kommen, die Menschenrechte uneingeschränkt einräumen, und deshalb können wir ihnen auf lange Sicht auch die Bürgerrechte nicht vorenthalten.

Benhabibs Vorschlag eines universellen Rechts auf Einbürgerung geht markant über die UN-Erklärung hinaus, die in Artikel 15 nur von einem Recht auf eine Staatsangehörigkeit spricht. In ihrer Argumentation stützt sie sich auf diskursethische Überlegungen ihres Lehrers Jürgen Habermas und kommt zu dem radikalen Schluss, dass es in einer idealen Gesprächsituation zwischen Bürgern und Nichtbürgern keine guten Gründe geben kann, ein Einbürgerungsgesuch zu verwehren.

Im Hintergrund steht dabei ihre Überzeugung, dass Staatsbürgerschaften zufällige Eigenschaften wie Geschlecht oder Hautfarbe sind, aufgrund derer ein Individuum nicht diskriminiert oder ausgeschlossen werden darf. Was wir als privilegierte Mitglieder demokratischer Länder für uns beanspruchen, dürfen wir Verfolgten nicht vorenthalten.
Dieses Argument überzeugt auf der moralischen Ebene, es führt jedoch in erhebliche Schwierigkeiten, sobald die rechtliche und politische Rolle der Menschenrechte zur Diskussion steht. Wenn man sie mit Benhabib als kategorische Moralgesetze versteht, verliert man nämlich tendenziell aus dem Blick, dass es sich bei den Menschenrechten im Kern um Schutzrechte handelt. Würdepostulat, Diskriminierungsverbot, Recht auf Leben und Freiheit, dass alles sind Schutzrechte, die die Einzelnen vor Übergriffen einer totalitären Staatsmacht schützen sollen.

Zum Schutz gehört aber ein Schützender. Nur derjenige wird seine Würde und Freiheit als geschützt wahrnehmen, der sich durch demokratische Gerichte fair und unparteilich vertreten weiß. Aber übernationale Gerichtshöfe wie der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag und der Europäische Menschengerichtshof in Straßburg sind ihrerseits an wehrhafte Demokratien gebunden, die im Namen transnationaler Normen gefällte Urteile durchsetzen und vollziehen können. Es führt deshalb in die Irre, wenn Seyla Benhabib einen grundsätzlichen Widerspruch zwischen allgemeinen Menschenrechten und spezifischen Nationalstaaten behauptet. Denn demokratische Staaten sind seit nunmehr 60 Jahren die entscheidenden Garanten für die Universalität der Menschenrechte.

Rezensiert von Ralf Müller-Schmid

Seyla Benhabib, Die Rechte der Anderen,
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 225 Seiten, 24,80 EUR
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