Menschen und der Umgang mit Zahlen

Der Mensch ist keine Rechenmaschine. Sein Denken und Handeln ist komplizierter und noch immer unverstanden. Lässt sich sein Verhalten trotzdem mit mathematischen Modellen einfangen? Und wie könnten diese Modelle aussehen? Fragen, auf die André Frank Zimpel in seinem Buch "Der zählende Mensch" Antworten sucht.
Die Schul- oder, wie Zimpel sie nennt, die Ingenieursmathematik beschreibt die Welt so sachlich, das darin kein Platz mehr bleibt für Menschliches. Dadurch klammert sie einen wichtigen Teil der Welt aus: uns selbst.

Dem Konzept der klassischen Wissenschaft setzt der Autor deshalb die Idee einer romantischen Wissenschaft gegenüber. Diese versuche nicht, das Individuelle auszumerzen, um aus dem Rest eine allgemeingültige Aussage zu gewinnen, sondern sie versuche ganz im Gegenteil gerade, im individuellen Einzelfall das allgemein Menschliche zu entdecken.

Den individuellen Einzelfall präsentiert Zimpel in seinem Buch vor allem in Gestalt mathematischer Inselbegabungen: Autisten, die eine große Anzahl von Dingen auf einen Blick erfassen, oder Genies, die im Kopf zweistellige Wurzeln aus unvorstellbar großen Zahlen ziehen können. Lassen sich aus ihnen Rückschlüsse ziehen für die geistige Entwicklung des Menschen?

Als Erziehungswissenschaftler will der Autor zu einem Nachdenken über den Menschen anregen, das nicht die Sicht der Neurowissenschaften, der Robotik oder Kybernetik annimmt, die den Menschen als Objekt der Forschung betrachten. Er propagiert ein Denken, das die Perspektive des Menschen als handelndes Subjekt mit einbezieht, also auch seine Innenansicht mit einschließt. Nach mathematischem Vorbild regt Zimpel die Suche nach "Bewusstseinsformeln" an, die er beispielhaft bei Maria Montessori, Kurt Lewin und Jean Piaget entleiht. Mit ihrer Hilfe ließen sich Vorgänge wie menschliche Aufmerksamkeit, sein Verhalten oder seine geistige Entwicklung abbilden, ohne den Menschen dabei zu "verdinglichen", wie es die Ingenieursmathematik tue.

Diesen Bewusstseinsformeln wohnt als Faustregeln nicht die gleiche Strenge inne, wie ihren Vorbildern aus der Mathematik. Sie führen zu eher allgemeinen Erkenntnissen wie: Das Verhalten der gleichen Person kann je nach Umwelt sehr verschieden ausfallen. Oder: Die geistige Entwicklung des Menschen vollzieht sich in Kreisreaktionen durch ständigen Abgleich seiner subjektiven Vorstellungen von der Welt mit den Tatsachen der Wirklichkeit. Ihre Unschärfe begreift André Zimpel als Chance, menschliches Verhalten aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben, statt ausschließlich aus der Außenperspektive der klassischen Naturwissenschaften.

Zimpel selbst versteht sein Buch dabei nur als einen ersten Schritt, unserem technikorientierten Zeitgeist ein neues Nachdenken über den Menschen entgegen zu setzen. Ein Schritt, dem noch viele Schritte folgen müssen bis hin zu einer Humanmathematik.

Was der Autor fordert, hat ironischerweise wenig mit einer neuen Mathematik zu tun. Auch wenn der Klappentext orakelt, es wäre "Zeit für eine kopernikanische Wende bei der Betrachtung dieser in jeder Hinsicht grundlegenden Wissenschaft", geht es Zimpel bei seiner Betrachtung des menschlichen Faktors weniger um Mathematik als um eine Lebensphilosophie nach antikem Vorbild.

Das liest sich stellen weise recht flott, doch leider fehlt dem Buch eine kompakte, verständliche Einführung zum Thema. Auch die dargestellten Fallbeispiele und Exkurse sind für sich genommen interessant zu lesen, werden aber oft nur flüchtig eingeordnet.
Nichtsdestotrotz wagt André Zimpel mit seinem Versuch, mittels der ausgerufenen Humanmathematik eine neue Handlungswissenschaft zwischen Geist- und Naturwissenschaft anzudenken, einen mutigen Vorstoß. Leser auf der Suche nach intellektuellen Herausforderungen werden es ihm danken.

Rezensiert von Gerrit Stratmann

André Frank Zimpel: Der zählende Mensch. Was Emotionen mit Mathematik zu tun haben,
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2008,
191 Seiten, 19,90 Euro