Menschen ohne Krankenversicherung

Wenn das soziale Netz nicht mehr hält

07:37 Minuten
Ärztliche Untersuchung: eine Hand mit Stethoskop. (Symbolbild)
Einige Krankenhäuser und Praxen bieten Behandlungen für Menschen ohne Krankenversicherung an. (Symbolbild) © imago images/Westend61
Von Thyra Veyder-Malberg · 22.03.2021
Audio herunterladen
Etwa 61.000 Menschen in Deutschland haben nach Angaben des Statistischen Bundesamtes keine Krankenversicherung. Und durch Corona dürfte die Anzahl steigen. In Thüringen und Leipzig gibt es Anlaufstellen, die weiterhelfen.
Es ist Dana schwergefallen, sich Hilfe zu suchen. So schwer, dass sie ihren richtigen Namen lieber nicht nennen möchte.
"Ich hab mich einfach geschämt. Ich habe mich einfach geschämt, dass ich nicht in der Lage bin, nach so vielen Jahren meine Krankenkasse weiter zu zahlen."

Kaum Einkommen wegen der Coronakrise

Dana ist Anfang 40, lebt irgendwo im ländlichen Thüringen und betreibt dort ein Kosmetikstudio. Doch das hatte wegen der Coronakrise in den vergangenen Monaten nur selten offen.
"Es war vor Corona schon schwierig, die hohen Summen zu zahlen. Ich lag bei weit über 400 Euro, und seit Corona, als ich schließen musste, ging gar nichts mehr. Ich habe zwar die Förderung bekommen, aber damit musste ich erst einmal die Kosten decken, damit ich weiterarbeiten konnte, und da war erst einmal Krankenversicherung nicht mehr drin."
Seitdem schiebt die Kosmetikerin einen stetig wachsenden Schuldenberg vor sich her, von dem sie nicht weiß, wie sie ihn abtragen soll. Wer aber seine Beiträge nicht zahlt, ist zwar noch versichert, bekommt aber nur noch Behandlungen für akute Erkrankungen und Schmerzzustände bezahlt. Als Dana im Mai des vergangenen Jahres Zahnprobleme bekam, hat sie im Internet nach Hilfe gesucht – und Glück gehabt, dass sie in Thüringen lebt.

Denn es gibt zwar bundesweit zahlreiche, meist ehrenamtlich getragene Anlaufstellen für Menschen ohne Krankenversicherung, aber nirgendwo sonst in Deutschland ist die Hilfe flächendeckend organisiert und staatlich finanziert wie durch den Anonymen Krankenschein Thüringen (AKST).

Medizinische Versorgung als staatliche Aufgabe

Der Weg zu Hilfe führt erst einmal abwärts: Die Geschäfts- und Beratungsstelle des AKST liegt etwas versteckt im Souterrain einer ehemaligen Hautklinik in Jena, genauer: in der alten Hausmeisterwohnung. In der kleinen Küche, die gleichzeitig auch als Besprechungsraum dient, sitzt Projektkoordinatorin Carola Wlodarski-Simsek. Sie erklärt, warum es ein Projekt wie den AKST geben muss:
"Weil es immer Leute geben wird, die aus einem System rausfallen. Und wir sind der Meinung, dass der Zugang zu medizinischer Versorgung eine staatliche Aufgabe ist. Das ist ja auch in der Menschenrechtscharta festgelegt, dass der Zugang zu medizinischer Versorgung ein Grundrecht ist. Und das muss eben auch staatlich umgesetzt werden."
Rechtlich gesehen ist der AKST ein Verein, dessen Arbeit vom Land finanziert wird. Er will möglichst viele Menschen wieder in ein reguläres Krankenversicherungsverhältnis bringen. Und wo das nicht möglich ist, eine – wenn nötig anonyme – medizinische Behandlung ermöglichen.
"Wir haben ein Netz aus Kooperationspartnern und -partnerinnen, über ganz Thüringen circa 40 Stück, das sind in der Regel niedergelassene Praxen, und wer keine Krankenversicherung hat, kann in eine dieser Stellen gehen, und sagen: Ich brauche einen anonymen Krankenschein, bekommt den dann ausgestellt mit einem Pseudonym und kann dann zu einem Arzt oder Ärztin der eigenen Wahl gehen; In ganz Thüringen."

Das Netzwerk Anonymer Krankenschein hilft weiter

Rund 200 Krankenscheine hat der AKST im Jahr 2020 ausgegeben und Behandlungen im Wert von 150.000 Euro finanziert. Darunter Schwangerschaften und Geburten, zahlreiche Verletzungen, aber auch Krebsbehandlungen. Auch einige Corona-Tests waren dabei. Große Operationen und lange stationäre Behandlungen sind allerdings nicht drin, dafür fehlt das Geld.
Den anonymen Krankenschein hat auch Sebastian schon bekommen. Der 51-jährige ist Jazzmusiker und hat schon seit 2003 keine Krankenversicherung mehr. Die gesetzliche Krankenversicherung wollte ihn nicht versichern, erzählt er, weil er als freier Musiker über die Künstlersozialkasse pflichtversichert ist. Doch die teilte ihm mit, er verdiene über seine künstlerische Tätigkeit zu wenig, und wies seinen Antrag ab. Nach einigem Hin und Her gab Sebastian frustriert auf – und zahlte seine Behandlungen einfach selbst.
"Ich habe noch nie Ärger gehabt, in irgendeiner Form. Ich bin zum Arzt gegangen und habe gesagt: Ich bin Selbstzahler – und dann hat mich jeder Arzt behandelt. Zumal ich auch nicht das Gefühl hatte, dass die Krankenkassen einen haben wollen. Und irgendwann ist man es leid, als Bittsteller dazustehen und sagt sich: Okay, wenn ihr mich nicht wollt, dann wollt ihr mich nicht."
In den vergangenen zehn Jahren waren die sporadischen Arztrechnungen für den studierten Musiker kein Problem. Doch mit Corona brachen seine Einnahmen schlagartig weg. Als er dann auch noch rapide an Gewicht verlor, musste etwas geschehen.
"Das war ein Zufall, dass ich jetzt den Anonymen Krankenschein Thüringens gefunden habe, wo ich auch mal mit jemandem ein Beratungsgespräch führen kann, der mir sagt: Hier, das und das müsstest du machen, damit du wieder in die Bahn kommst, damit du wieder in geregelte Verhältnisse kommst."

Menschen ohne legalen Aufenthalt scheuen den Gang zum Arzt

Doch nicht allen steht der Weg in die Krankenversicherung offen. Carola Wlodarski-Simsek unterscheidet drei große Patientinnengruppen:
"Das sind einmal Deutsche Staatsbürgerinnen und Bürger, die aus verschiedensten Gründen ihre Krankenversicherung verloren haben, dann haben wir EU-Bürgerinnen und Bürger, die sich hier in Deutschland aufhalten zum Arbeiten und oft nicht ausreichend krankenversichert sind, vor allem aufgrund von prekären Arbeitsbedingungen. Und dann haben wir die Gruppe der sogenannten Drittstaatlerinnen, die sehr heterogen ist. Das geht von der internationalen Studentin bis hin zur Person, die ohne Papiere und ohne legalen Aufenthaltstitel sich in Deutschland aufhält und deswegen natürlich auch keine Krankenversicherung haben kann."
Gerade Menschen ohne legalen Aufenthalt in Deutschland scheuen den Gang zum Arzt, weil sie Angst haben, gemeldet und abgeschoben zu werden – deshalb ist der Krankenschein anonym. Dazu kommen seit Corona Menschen, die aufgrund der Reisebeschränkungen nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können – und deren Versicherungsschutz ausgelaufen ist.

Wegen Coronakrise in Deutschland gestrandet

Inzwischen hat das Thüringer Modell Schule gemacht: Seit November 2019 gibt es in Leipzig die Clearingstelle anonymer Behandlungsschein (Cabl) die von der Stadt finanziert wird.
Der Bedarf ist enorm: 2020 hat Cabl 420 Behandlungsscheine und rund 80.000 Euro für Behandlungen ausgegeben. In der Großstadt Leipzig gibt es mehr Obdachlose als im ländlich geprägten Thüringen, ansonsten sind die Patientengruppen ähnlich. Auch hier hat die Corona-Pandemie Spuren hinterlassen. Etwa, wenn Menschen wegen der Reisebeschränkungen auf einmal ohne lebenswichtige Medikamente dastehen, sagt Cabl-Sozialarbeiterin Annemarie Saß:
"Im Rahmen der Coronakrise sind einige Menschen quasi hier gestrandet. Die holen sich normalerweise ihre HIV-Medikamente im Ausland, und hier in Deutschland können die sich das dann nicht mehr leisten. Also: 1000 Euro im Monat muss man erst einmal haben".
61.000 Menschen in Deutschland hatten 2019 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes keine Krankenversicherung. Doch die Dunkelziffer ist hoch. Und das Problem dürfte sich durch die Corona-Pandemie noch verschärft haben. Diesen Menschen müssen wir helfen, sagt Annemarie Saß.
"Die gehen anders mit sich um. Die ertragen vieles sehr, sehr, sehr lange, bis sie dann tatsächlich mal Hilfe suchen, und dann ist es oft schon chronifiziert oder viel schlimmer, als es hätte sein müssen."
Mehr zum Thema