Menschen, die ihren Körper verlassen haben

Eine typische Nahtod-erfahrung: Während eines Unfalls sieht jemand, wie ein Körper irgendwo auf der Straße liegt.
Eine typische Nahtod-erfahrung: Während eines Unfalls sieht jemand, wie ein Körper irgendwo auf der Straße liegt. © Unsplash / Ram Mindrofram
Markolf Niemz im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 26.01.2011
Menschen, die nach einer Nahtoderfahrung ins Leben zurückkehren, setzen danach ganz neue Schwerpunkte. Sie werden sozialer und wollen unbedingt Neues lernen. Das sagt der Physiker und Medizintechniker Markolf Niemz, der sich intensiv mit dem Phänomen beschäftigt.
Liane von Billerbeck: Plötzlich scheint das Leben rückwärts zu laufen, man sieht einzelne Bilder, schaut sich möglicherweise von oben zu oder erlebt den eigenen Tod mit. Von derlei Nahtoderfahrungen können einige Menschen berichten, auch und gerade solche, die nicht unbedingt esoterisch veranlagt oder sehr aufs Jenseits gepolt sind, Erfahrungen, wie sie auch Clint Eastwoods Helden in seinem neuen Film "Hereafter" machen, einem Film, der morgen in die Kinos kommt. Bevor wir darüber den renommierten Physiker Markolf Niemz ausfragen und von ihm erfahren, was dran ist an solchen Nahtoderfahrungen, ein paar Eindrücke aus Eastwoods Film von Anke Leweke.

Wie sich ein Wissenschaftler derlei Phänomene erklärt, das wollen wir jetzt diskutieren und erfahren von dem Heidelberger Physiker und Medizintechniker Markolf Niemz, der sich mit Nahtoderfahrungen beschäftigt hat und ein Buch wie "Lucy im Licht" darüber geschrieben hat. Herr Niemz, ich grüße Sie!

Markolf Niemz: Ja, guten Tag!

von Billerbeck: Jenseitserfahrungen von Bewusstlosen – sind solche Szenarien, wie wir sie eben aus dem Film im Ausschnitt gehört haben, realistisch? Kennen Sie die auch?

Niemz: Ja, also ich denke, sie sind … ja und nein würde ich die Frage beantworten, ich denke, Nahtoderfahrungen – ich persönlich halte die für sehr realistisch. Dank der modernen Medizintechnik gibt es ja heute schon sehr viele solche Nahtodberichte, wesentlich mehr als zum Beispiel noch vor 50 Jahren, und es existieren heute sogar sehr viele bezeugte Berichte, in denen Menschen etwas erlebt haben, was sich tatsächlich zugetragen hat, aber eben an einem ganz anderen Ort oder zu einer ganz anderen Zeit. Bei solchen Erlebnissen kann es sich mit Sicherheit nicht um Halluzinationen oder um Hirngespinste handeln. Deshalb denke ich, dass Nahtoderfahrungen tatsächlich real sind. Aber, dann kommt das große Aber, ich glaube nicht, dass es möglich ist, Kontakt mit Verstorbenen aufzunehmen, wie das gerade in dem Beitrag angeklungen ist. Meiner Meinung nach gibt es kein Leben nach dem Tod. Ich glaube zwar an ein Jenseits, aber es umfasst eben keine Personen, sondern es umfasst eher so etwas wie unsere Liebe und unser Wissen.

von Billerbeck: Nun haben Sie eben gesagt, das sind Erfahrungen, die bezeugt wurden. Wer hat denn da Zeugnis abgelegt? Da gibt es doch nur eine Person, die hat diese Erfahrungen gemacht und die spricht darüber. Dafür gibt es ja keinen Zeugen.

Niemz: Natürlich – die Erfahrung selber, die muss im Grunde jeder selber machen, aber es gibt zum Beispiel Fälle, … Ganz häufig finden ja solche Nahtoderfahrungen statt während eines Verkehrsunfalls oder in einem Krankenhaus, während einer schwierigen Operation. Und da sind natürlich schon Menschen in der Nähe. Diese Person, die ich jetzt zum Beispiel kenne, die ich kennengelernt habe aufgrund meiner Arbeit, ich kenne eine Mutter, die hatte zum Beispiel während einer Geburt ihres zweiten Kindes einen Herzstillstand und hatte dann tatsächlich etwas berichten können, was sich an einem ganz anderen Ort zugetragen hat. Sie hat zum Beispiel gesehen, was ihr älterer Sohn zur gleichen Zeit für ein Bild gemalt hat. Das Bild kam erst am nächsten Tag mit der Post, und sie konnte das vorher schon in allen Einzelheiten beschreiben, und die Ärzte und auch das Krankenpflegepersonal konnte das bezeugen, konnte das bestätigen.

von Billerbeck: Wie kommt es zu solchen Dingen, dass Menschen da solche Erfahrungen machen, die sie – nach allem, was wir bisher wissen – eigentlich nicht machen können?

Niemz: Ja, es sind sicherlich keine Erfahrungen in dem Sinne, dass man da mit Sinneswahrnehmungen jetzt etwas feststellt. Also es ist natürlich klar, wenn jemand klinisch tot ist, also wenn das Herz nicht mehr schlägt, kein Sauerstoff mehr ins Gehirn kommt, dann funktionieren unsere Sinnesorgane nicht mehr. Aber es scheint so zu sein, dass – das ist zumindest meine Theorie und auch die Theorie einiger anderer anerkannter Wissenschaftler –, dass es möglich ist, aufzunehmen, etwas aufzunehmen, was irgendwo in dieser Welt passiert, zuzugreifen auf zum Beispiel Erfahrungen, zuzugreifen auf Wissen, auf Gefühle von etwas. Und das wird irgendwo gespeichert, und wenn diese Person später wieder bei Bewusstsein ist, hat sie praktisch dieses zusätzliche Wissen in sich und kann dann darüber auch berichten.

von Billerbeck: Wie erklärt sich das ein Physiker wie Sie?

Niemz: Ja, das ist natürlich sehr ungewöhnlich, diese Konstellation, aber in meinem Fall erklärbar. Ich leite ja ein Institut für Medizintechnik an der Universität Heidelberg, und wir entwickeln dort unter anderem elektronische Überwachungsgeräte für Patienten, also zum Beispiel auch für Patienten, die auf Intensivstationen liegen, und dabei bin ich mit vielen Menschen ins Gespräch gekommen, Menschen, deren Leben auf der Kippe stand, Menschen, die zum Beispiel auch so eine Nahtoderfahrung gemacht haben. Und daraus habe ich dann eben mit den Erkenntnissen aus Physik, aber auch mit Erkenntnissen aus Religion letztendlich versucht, eine Theorie zu entwickeln, die in sich schlüssig ist.

von Billerbeck: Trifft das eigentlich nur bestimmte Leute, die solche Erfahrungen machen, also müssen die eine bestimmte Prägung haben, oder sind das ganz unterschiedliche Menschen, also die jetzt nicht besonders esoterisch oder nicht besonders übersinnlich oder nicht besonders religiös geprägt sind?

Niemz: Das Letztere, also es trifft im Grunde jede Art von Menschengruppe, und das macht es für mich sehr glaubwürdig. Wir finden also diese Nahtoderfahrungen, wir könnten auch genereller sagen, spirituellen Erfahrungen, nicht nur hier in unserer westlichen Welt. Wir finden sie genauso in Asien, in Afrika, es ist völlig unabhängig von Religion, von Kultur. Es gab sogar schon vor 1000 Jahren Berichte, die auch aufgeschrieben worden sind, das tibetische Totenbuch zum Beispiel beruht auch auf solchen Nahtodberichten.

Also diese Erfahrungen sind übergreifend, und das Erstaunliche ist, dass die Menschen immer wieder ähnliche Dinge berichten, ähnliche Elemente, so wie das auch in dem Beitrag gerade angeklungen war, wo also erst gesagt wurde, dass es doch kein Zufall sein kann, dass Menschen immer wieder berichten zum Beispiel, sie hätten ihren Körper verlassen. So fängt das meistens an, ein außerkörperliches Erlebnis. Während eines Verkehrsunfalls zum Beispiel beobachtet jemand, wie ein Körper unten irgendwo auf der Straße liegt. Meistens erkennen die Personen sich zunächst mal gar nicht selbst, ihnen wird dann erst im Laufe des Erlebnisses bewusst, dass sie das ja selber sind. Dann, in einer zweiten Phase, wird häufig geschildert, wird eine Art dunkler Tunnel oder ein dunkler Raum erlebt, und irgendwo ganz weit in der Ferne taucht ein kleiner Lichtpunkt auf. Dann kommt dieses doch relativ bekannte Bild, dass also jemand mit einer hohen Geschwindigkeit durch diesen Tunnel hindurchfliegt auf das Licht zu. Da gibt es verschiedene Modelle, das zu erklären, ich selber favorisiere im Moment etwas, man kann tatsächlich aus der Physik sich etwas überlegen, in der Relativitätstheorie von Albert Einstein gibt es nämlich genau einen Effekt, der so etwas beschreibt, das ist der sogenannte Searchlight-Effekt: Wenn jemand fast mit Lichtgeschwindigkeit sich bewegt, sieht er tatsächlich einen solchen Tunnel mit einem Licht an dessen Ende.

von Billerbeck: Es gibt auch biologische Erklärungen, glaube ich, dass bestimmte Hormone ausgeschüttet werden und dass die deshalb zu diesem Lichtblitz führen.

Niemz: Das ist richtig, ja, also die Schulmediziner zum Beispiel sagen, wenn eben das Herz stillsteht, dass dann kein Sauerstoff mehr ins Gehirn kommt, und wenn dann die Gehirnzellen absterben, auch unser Auge, die Netzhaut am Auge ist ein Teil letztendlich des Gehirns, wenn dort kein Sauerstoff mehr vorhanden ist, können auch dort solche Lichtgefühle registriert werden. Das Problem nur bei diesen Erklärungen ist: Sie können damit ja eine Halluzination vielleicht erklären, aber Sie können nicht erklären, wie jemand dann etwas erlebt hat, was real war, also wie jemand tatsächlich etwas nachher berichten kann, was irgendwo in der Welt geschehen ist. Und genau solche Berichte gibt es ja. Ich berufe mich ja jetzt nicht auf irgendwelche Geschichten, sondern auf Menschen, die ich persönlich kenne, oder eben auf solche bezeugten Berichte, wo tatsächlich etwas Wahres registriert wurde, obwohl die Menschen wirklich klinisch tot waren, obwohl sie eigentlich keine Hirnfunktion mehr hatten.

von Billerbeck: Wie lassen sich denn solche, wie Sie sagen, bezeugten Erlebnisse von den vielen, die es ja auch gibt, die sehr esoterisch sind, abgrenzen? Wer ist die Instanz dafür, oder wo ist die Grenze?

Niemz: Das ist natürlich sehr schwer, und daran erkennen Sie auch: Es sind Glaubensfragen. Also ich betone auch immer in meinen Vorträgen, in meinen Büchern: Ich beweise nichts, und auch in diesem Film wird nichts bewiesen. Letztendlich muss das jeder für sich ausmachen, ob er daran glaubt oder nicht.

von Billerbeck: Glaubensfragen von einem Physiker?

Niemz: Oh ja, also da muss ich Ihnen sagen, in der Physik wird sehr viel geglaubt. Jede Theorie, die wir ja in der Physik haben, ist insofern nicht bewiesen. Wir können sie zwar mit Versuchen, mit Experimenten nachzuweisen, wir können also Experimente machen, um das zu überprüfen, aber einen echten Beweis gibt es in der Physik eigentlich nicht, denn jede Theorie gilt immer nur so lange, bis sie irgendwann mal widerlegt ist. Also ich könnte Ihnen jetzt jede Menge Naturgesetze nennen, wo die Physiker glauben, dass das so ist, aber dass es tatsächlich im gesamten Universum so ist, wie das in diesem Naturgesetz steht, das lässt sich im Grunde nicht beweisen.

von Billerbeck: Sie erschüttern jetzt meinen Glauben in die Physik, um Sie mal zu zitieren.

Niemz: Ja, na gut, ich meine, wir haben natürlich die Möglichkeit, etwas zu überprüfen, das ist ja das, worauf die Physik letztendlich sich begründet, eben auf Experimente, und das ist natürlich hier schwierig. Bei solchen Sterbeerfahrungen können wir keinen Versuch durchführen, können wir kein Experiment machen, und deswegen spreche ich eben von einer Glaubensfrage. Ich persönlich bin immer wieder fasziniert, wenn ich solchen Menschen begegne, mit welcher Gewissheit diese Menschen sagen, dass da noch etwas ist nach dem Tod. Das kann mir nicht mal ein Pfarrer oder so was vermitteln. Manchmal läuft das sogar darauf hinaus, dass mir jemand sagt: "Herr Niemz, wir brauchen eigentlich gar nicht darüber diskutieren, es ist so." Das zeigt mir also, diese Menschen sind so verwurzelt darin, und diesen Menschen glaube ich.

Aber Sie haben recht, es gibt sicherlich auch schwarze Schafe, die sich vielleicht solche Geschichten ausdenken. Aber jetzt muss man wiederum sagen, anhand der Vielzahl von solchen Berichten, die wir heute haben, halte ich es für sehr unwahrscheinlich, dass so viele Menschen praktisch lügen, dass so viele Menschen sich das alles ausgedacht haben sollen. Nein, ich denke, wenn es so viele Berichte gibt, dann ist da auch ein wahrer Kern dran.

von Billerbeck: Nun haben Sie viele Menschen kennengelernt, die solche Erlebnisse und Erfahrungen gemacht haben, diesen Nahtod erlebt haben. Besteht da die Gefahr, sich in dieses Erlebnis fallen zu lassen, oder wie geht man danach damit um? Das spielt ja in dem Film eben auch eine Rolle.

Niemz: Fallen lassen nicht, also die meisten Menschen, Betroffenen, die so ein Erlebnis hatten, die ändern ihr Leben, und das ist für mich auch noch mal so ein Zeichen, weshalb ich das für glaubwürdig halte. Jemand, der sich so was ausdenkt, der wird es am nächsten Tag vielleicht wieder vergessen haben, aber wenn jemand sein Leben bewusst umstellt, … Häufig zum Beispiel leben die Menschen viel intensiver, sie werden sozialer, sie gehen auf andere Menschen zu. Das heißt, die Liebe spielt eine viel größere Rolle in ihrem Leben. Und was mir auch auffällt: Diese Menschen haben häufig ein sehr hohes Bedürfnis, etwas zu lernen, neues Wissen zu erwerben. Also Liebe und Wissen, das sind so zwei zentrale Dinge, was man mitnehmen kann aus einer solchen Erfahrung. Und das Schöne ist ja, dass wir … wir müssen ja diese Erfahrung im Grunde nicht selber machen, sondern wenn wir glauben, dass da was dran ist, dann ist das zum Beispiel auch für mich eine wichtige Botschaft, mein Leben entsprechend zu gestalten, dass auch ich eben diese beiden Werte Liebe und Wissen, dass ich die nach ganz oben setze in meinem Leben, und dadurch meinem Leben vielleicht auch einen tieferen Sinn geben kann.

von Billerbeck: Der Heidelberger Physiker und Medizintechniker Markolf Niemz, der sich in Büchern und Vorträgen mit Nahtoderfahrungen von Menschen befasst hat. Ich danke Ihnen!

Niemz: Danke schön, ja!

von Billerbeck: Und für Sie noch ein Hinweis: Sein Buch, das Buch von Markolf Niemz, heißt "Lucy im Licht", wenn Sie sich mit dem Thema noch mal befassen wollen.