Menschen am Abgrund

Die kanadische Schriftstellerin Alex Ohlin entwirft ein ehrgeiziges Beziehungspanorama rund um eine Therapeutin mit Helfersyndrom. Doch trotz der fraglosen Spannung, in die man sich gern hineinliest, verblüfft der oft allzu harmlose Ton, in dem hier von Seelenqualen erzählt wird.
Die 1972 in Montreal geborene kanadische Schriftstellerin Alix Ohlin hat in ihrer Heimat viele Preise und Stipendien gewonnen. Und wird von dem so berühmten wie grandiosen südafrikanischen Autor J.M. Coetzee als „eine begnadete Autorin“ gepriesen.

Jetzt liegt zum ersten Mal ein Roman von Ohlin auf Deutsch vor. Die Autorin entwirft darin ein ehrgeiziges Beziehungspanorama. Im Mittelpunkt steht Grace, die Therapeutin mit dem Helfersyndrom. Eine der gefährlichen Retterinnen, denen man tunlichst aus dem Weg gehen sollte. Doch der Selbstmordkandidat Tug hat keine Wahl. Er hat auf einem einsamen Skihang versucht, sich umzubringen, als Grace ihn findet, ins Krankenhaus bringen lässt und selber gleich mitfährt. Man weiß nicht genau, warum sie das tut. Weil Retter Siege brauchen?

Auch als Tug längst entlassen ist, lässt sie ihn noch lange nicht gehen. Ruft ihn an, sucht ihn auf, verliebt sich in ihn. Die beiden werden ein Paar. Und nach und nach lernen wir seine und ihre Vergangenheit kennen. Er ist zerbrochen an Ruanda, wo er im Bürgerkrieg Entsetzliches gesehen und erlebt hat. Er trägt Bilder in sich, die ihn verfolgen, seinen Alltag vergiften, seine Lebenskraft aushöhlen. Oder gähnte die schwarze Leere längst in seiner Seele und suchte in Kigala ihren Platz? Weil er zu den Menschen gehört, die sich erst dann fühlen können, wenn der Schmerz grausam wird?

So wie bei Annie. Einst Patientin von Grace. Ein junges Mädchen mit heißer Seelenwüste, die sich in ihrem Elend Bauch und Arme ritzt und schneidet. Auch ihr Leben wird erzählt. Das Leben einer inzwischen so schönen wie scheinbar gefühlskargen und ziemlich erfolglosen Schauspielerin, die zwischen New York und Los Angeles pendelt und eiskalt auch ihren einst misshandelten Körper einsetzt, um an Rollen zu kommen. Und auf einmal ein obdachloses Mädchen bei sich wohnen lässt, sich um das Ausreißerkind kümmert und nicht begreift, warum sie das tut.

Grace, die Tug aufgelesen und Annie behandelt hat, war schon einmal verheiratet. Mit Mitch. Auch er Psychotherapeut. Auch er kein strahlender Held. Eher ein sympathischer Kerl, der unter Versagensängsten leidet. Und sich extreme Herausforderungen sucht. Er flieht in die Arktis, um verhaltensgestörten Inuit zu helfen. Als einer der Jungen sich umbringt, kehrt er nach Kanada zurück. Beladen von Schuldgefühlen.

Menschen am Abgrund hat Ohlin zusammengesammelt für ihren Roman. Und es hätte ein abgründiges Buch werden können. Ein filigranes Psychodrama.

Doch trotz der fraglosen Spannung, in die man sich gern hineinliest, verblüfft der oft allzu harmlose Ton, in dem hier von Seelenqualen erzählt wird. Vielleicht ist die Autorin zu unerfahren oder auch einfach nicht mutig genug, sich in die Bedrängnis und Angst ihrer Figuren hineinzuschreiben. Sie selber zu spüren, um sie den Leser spüren zu lassen.

Nein, eine begnadete Autorin ist Ohlin nicht. Und ein Übersetzer, der uns Worte wie „Beziehungsabhängigkeiten“ zumutet, hat dem Buch gewiss auch nicht gut getan.

Besprochen von Gabriele v. Arnim

Alix Ohlin: In einer anderen Haut. Roman
Aus dem Englischen von Sky Nonhoff
C.H.Beck, München 2013
350 Seiten, 19,90 Euro