Menschelnde Maschinen
Michael Cunninghams neuester Roman "Helle Tage" besteht aus drei Teilen, die zu drei unterschiedlichen Zeiten spielen. In allen drei Teilen verhandelt Cunningham das Verhältnis von Menschen zur Natur und von Maschinen zum Menschen. Im letzten Teil, der eine Art Anti-Utopie ist, kämpft ein Androide um Liebe und wirft so die Frage der Humanität aus einem anderen Blickwinkel neu auf.
Michael Cunningham wurde berühmt mit seinem 1998 erschienenen Roman "Die Stunden", der sich um Virginia Woolf, ihre Romanfigur Mrs. Dalloway und um eine Leserin des Romans dreht. Dessen Verfilmung mit Meryl Streep und Nicole Kidman wurde mit einem Oscar prämiert. Sein nachfolgendes Buch "Land's End" war ein erzählender Essay über das Leben in dem vor allem unter Schwulen berühmten Badeort Provincetown. Nun ist der nächste Roman von Michael Cunningham erschienen.
"Helle Tage" besteht aus drei Teilen, die zu drei unterschiedlichen Zeiten spielen und unterschiedliche Protagonisten haben. Die Geschichten scheinen auf den ersten Blick kaum aufeinander bezogen, bei näherem Hinsehen indessen sind sie sehr eng verwoben. Das ist eine deutliche strukturelle Ähnlichkeit mit "Die Stunden". Hier hören die Ähnlichkeiten jedoch auch schon auf.
Die drei Teile aus "Helle Tage" spielen am gleichen Ort, New York; sie haben Protagonisten, die nicht zufällig die gleichen Namen tragen; und sie haben ein ähnliches Thema: die Bedrohung des Menschen durch den Menschen und die Vernichtung der Natur durch den Menschen. Dagegen gesetzt wird die teilweise hymnische Feier der Natur und des Lebens (und Amerikas) durch den nordamerikanischen Dichter Walt Whitman in dessen großem Gedichtband "Grashalme", der in allen drei Teilen eine zentrale Rolle spielt und ausgiebig zitiert wird.
Der erste Teil, "In der Maschine", spielt im industriellen New York der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der verwachsene und als zurückgeblieben geltende Knabe Lucas arbeitet in einer Fabrik, in der sein Bruder Simon umgekommen ist. Lucas nimmt die Welt völlig außerhalb der üblichen pragmatischen Realität auf individuell-mystische Weise wahr, die niemand versteht. Er ist beeinflusst von den "Grashalmen", dem einzigen Buch, das er kennt und das er ständig zitiert, ohne es wirklich zu "verstehen".
Sein ganzes Denken spitzt sich zu auf die Frage, ob die Seelen der Toten nicht nur, wie Walt Whitman schreibt, in das Gras und die Bäume eingehen, sondern auch in die Maschinen. Und ob Maschinen Seelen haben und die Menschen, die an ihnen arbeiten, so sehr lieben, dass sie sie verschlingen wollen. Daraus entwickeln sich dramatische Ereignisse.
Der zweite Teil, "Der Kinderkreuzzug", spielt in der Zeit des neuen und unberechenbaren Terrors und der Terrorangst nach dem 11. September. Die in der Prävention tätige Polizeipsychologin Cat hat ein Kind am Telefon, das mit einem Bombenanschlag droht. Sie hält das für Gerede. Aber das Kind führt ein Selbstmordattentat durch. Das wiederholt sich. Die Opfer sind völlig willkürlich gewählt. Und ein weiteres Kind taucht auf, das sie persönlich bedroht, mit Namen Luke, ebenso verwachsen wie Lucas und ebenso Whitman-geprägt, aber in diesem Fall auf durch und durch mörderische Weise.
Der dritte Teil, "Wie Schönheit", spielt weitere 150 Jahre später, in einem New York nach der atomaren Verseuchung. Hier befinden wir uns im klassischen Genre der Anti-Utopie oder der Dystopie, einer Variante der Science Fiction, die aufgrund ihres politischen Anliegens und ihrer Düsternis auch bei Autoren von Mainstream-Literatur nicht unbeliebt ist.
Simon, ein Androide, kämpft seinen ganz persönlichen Kampf um Menschwerdung und Humanität. Er trifft nicht nur auf eine Frau, die einer außerirdischen echsenhaften Spezies angehört, sondern auch auf einen verwachsenen Knaben namens Luke, der erstaunlich viel weiß, aber keinerlei unheimliche Züge mehr trägt. Alle brechen in eine offene Zukunft auf ...
Der in allen drei Teilen wie ein Wiedergänger auftauchende Knabe trägt nicht zufällig den Namen Luke: das spielt ganz offensichtlich auf Luke Skywalker aus der Trilogie "Star Wars" an. Ein deutlicher Hinweis auf diesen Prätext wird von einer Nebenfigur geliefert, die als Obi-Wan Kenobi verkleidet ist. Wie in "Star Wars" geht es um den mythischen Kampf zwischen Gut und Böse und darum, dass die Rollen sich verkehren und die Maßstäbe sich ändern können.
Während "Star Wars" jedoch in einer mythischen Welt spielt, ist Cunninghams Roman in einer identifizierbaren Vergangenheit und Gegenwart unserer eigenen Welt sowie in einer klar aus dieser abgeleiteten Zukunft angesiedelt und verhandelt das Thema an konkreten Beispielen wie die Ausbeutung und Zerstörung der natürlichen Umwelt und aller Lebewesen einschließlich des Menschen durch den Menschen.
Er stellt die Fragen: Wohin entwickelt sich die Menschheit? Was ist Humanität? und verhandelt diese Fragen auf anschauliche, phantasievolle und streckenweise sehr poetische Weise. Ein ungewöhnlicher, ein unbedingt lesenswerter Roman.
Michael Cunningham: Helle Tage
Aus dem Amerikanischen von Georg Schmidt.
München (Luchterhand) 2006
382 Seiten, 21,95 Euro
"Helle Tage" besteht aus drei Teilen, die zu drei unterschiedlichen Zeiten spielen und unterschiedliche Protagonisten haben. Die Geschichten scheinen auf den ersten Blick kaum aufeinander bezogen, bei näherem Hinsehen indessen sind sie sehr eng verwoben. Das ist eine deutliche strukturelle Ähnlichkeit mit "Die Stunden". Hier hören die Ähnlichkeiten jedoch auch schon auf.
Die drei Teile aus "Helle Tage" spielen am gleichen Ort, New York; sie haben Protagonisten, die nicht zufällig die gleichen Namen tragen; und sie haben ein ähnliches Thema: die Bedrohung des Menschen durch den Menschen und die Vernichtung der Natur durch den Menschen. Dagegen gesetzt wird die teilweise hymnische Feier der Natur und des Lebens (und Amerikas) durch den nordamerikanischen Dichter Walt Whitman in dessen großem Gedichtband "Grashalme", der in allen drei Teilen eine zentrale Rolle spielt und ausgiebig zitiert wird.
Der erste Teil, "In der Maschine", spielt im industriellen New York der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der verwachsene und als zurückgeblieben geltende Knabe Lucas arbeitet in einer Fabrik, in der sein Bruder Simon umgekommen ist. Lucas nimmt die Welt völlig außerhalb der üblichen pragmatischen Realität auf individuell-mystische Weise wahr, die niemand versteht. Er ist beeinflusst von den "Grashalmen", dem einzigen Buch, das er kennt und das er ständig zitiert, ohne es wirklich zu "verstehen".
Sein ganzes Denken spitzt sich zu auf die Frage, ob die Seelen der Toten nicht nur, wie Walt Whitman schreibt, in das Gras und die Bäume eingehen, sondern auch in die Maschinen. Und ob Maschinen Seelen haben und die Menschen, die an ihnen arbeiten, so sehr lieben, dass sie sie verschlingen wollen. Daraus entwickeln sich dramatische Ereignisse.
Der zweite Teil, "Der Kinderkreuzzug", spielt in der Zeit des neuen und unberechenbaren Terrors und der Terrorangst nach dem 11. September. Die in der Prävention tätige Polizeipsychologin Cat hat ein Kind am Telefon, das mit einem Bombenanschlag droht. Sie hält das für Gerede. Aber das Kind führt ein Selbstmordattentat durch. Das wiederholt sich. Die Opfer sind völlig willkürlich gewählt. Und ein weiteres Kind taucht auf, das sie persönlich bedroht, mit Namen Luke, ebenso verwachsen wie Lucas und ebenso Whitman-geprägt, aber in diesem Fall auf durch und durch mörderische Weise.
Der dritte Teil, "Wie Schönheit", spielt weitere 150 Jahre später, in einem New York nach der atomaren Verseuchung. Hier befinden wir uns im klassischen Genre der Anti-Utopie oder der Dystopie, einer Variante der Science Fiction, die aufgrund ihres politischen Anliegens und ihrer Düsternis auch bei Autoren von Mainstream-Literatur nicht unbeliebt ist.
Simon, ein Androide, kämpft seinen ganz persönlichen Kampf um Menschwerdung und Humanität. Er trifft nicht nur auf eine Frau, die einer außerirdischen echsenhaften Spezies angehört, sondern auch auf einen verwachsenen Knaben namens Luke, der erstaunlich viel weiß, aber keinerlei unheimliche Züge mehr trägt. Alle brechen in eine offene Zukunft auf ...
Der in allen drei Teilen wie ein Wiedergänger auftauchende Knabe trägt nicht zufällig den Namen Luke: das spielt ganz offensichtlich auf Luke Skywalker aus der Trilogie "Star Wars" an. Ein deutlicher Hinweis auf diesen Prätext wird von einer Nebenfigur geliefert, die als Obi-Wan Kenobi verkleidet ist. Wie in "Star Wars" geht es um den mythischen Kampf zwischen Gut und Böse und darum, dass die Rollen sich verkehren und die Maßstäbe sich ändern können.
Während "Star Wars" jedoch in einer mythischen Welt spielt, ist Cunninghams Roman in einer identifizierbaren Vergangenheit und Gegenwart unserer eigenen Welt sowie in einer klar aus dieser abgeleiteten Zukunft angesiedelt und verhandelt das Thema an konkreten Beispielen wie die Ausbeutung und Zerstörung der natürlichen Umwelt und aller Lebewesen einschließlich des Menschen durch den Menschen.
Er stellt die Fragen: Wohin entwickelt sich die Menschheit? Was ist Humanität? und verhandelt diese Fragen auf anschauliche, phantasievolle und streckenweise sehr poetische Weise. Ein ungewöhnlicher, ein unbedingt lesenswerter Roman.
Michael Cunningham: Helle Tage
Aus dem Amerikanischen von Georg Schmidt.
München (Luchterhand) 2006
382 Seiten, 21,95 Euro