Mensch, ärgere dich

Von Günter Franzen |
In ihrem allseits gerühmten Buch über das "Älter werden" lädt die Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen den Leser zur reflexiven Teilhabe an einer sechs Jahrzehnte umfassenden kollektiven Verlust- und Gewinnrechnung ein: "Sie verschwanden so langsam und schleichend aus dem Straßenbild, dass mir ihr Verschwinden erst viel später auffiel, als es sie schon lange nicht mehr gab: die Gezeichneten, die Versehrten, die Krüppel, wie man damals noch sagte, Männer an Krücken, ein leere Hosenbein hochgebunden, ein inhaltsloser Jackenärmel schlaff herunterhängend, die starre hölzerne Hand im schwarzen Handschuh, schlecht geflickte Gesichter. Das waren die Kriegsverletzten. Blinde, Kaputtgeschossene, von Bränden Gezeichnete. Aber auch jene Entstellungen durch das, was humorvolle Leute gern als ‚Laune der Natur’ bezeichnen, sah man zur Zeit meiner Kindheit in großer Zahl…"
Lässt man als Alters- und Zeitgenosse der Autorin die Schicksale der durch Krieg und Krankheit beschädigten Menschen in sich nachklingen, wird man der Leistung der auf den pharmazeutischen, biotechnischen und chirurgischen Bausstellen der Menschheitssanierung tätigen Experten nicht nur uneingeschränkte Bewunderung zollen, sondern auch an den Traum der Perfektibilität erinnert, der den aus Frankreich kommenden Aufklärern vorschwebte, als sie in der Mitte des 18. Jahrhunderts auf die Idee kamen, sich den Menschen in körperlicher, intellektueller und sittlicher Hinsicht als ein Wesen vorzustellen, das es bei günstigen Rahmenbedingungen nicht weniger als bis zur Vollkommenheit bringen könnte.

Wer sich fragt, warum mit es mit Ausnahme der von Berufs wegen zur Begeisterung verpflichteten, mit dem Musterköfferchen von Praxis zu Praxis eilenden Pharmavertreter, in unserem wirtschaftlich und wissenschaftlich prosperierenden, mit allen Segnungen eines 60-jährigen Friedens beschenkten Gemeinwesen kaum jemanden gibt, der sich dazu hinreißen lässt, die Vielzahl der mit dieser Entwicklung einhergehenden Errungenschaften zu genießen oder gar zu bejubeln, kommt um den Begriff des Nullsummenspiels nicht herum.

Nach der Spieltheorie beschreibt das Nullsummenspiel eine Situation, in der bei einer konstanten Summe von Punkten, Geld oder anderen Messgrößen, dem Sieg der einen die Niederlage der anderen Partei gegenübersteht. Das Geheimnis des hierzulande eher lustlos betriebenen Spiels des Lebens, bei dem das subjektiv erfahrene Glück oder Unglück als gültige Währung gilt, besteht wohl darin, dass sich die Teilnehmer das Spiel andauernd vermiesen, indem sie die Rolle des Gewinners und die Rolle des Verlierers mühelos in einer Brust vereinigen.

Der in seinem sexuellen Begehren eingeschränkte, in die Jahre gekommene Mann könnte mit der Frau an seiner Seite das in Pillenform verabreichte, am eigenen Leib erlebte kleine blaue Wunder bestaunen - statt dessen bejammert er, dass die einschlägigen Präparate den Blutdruck in die Höhe treiben. Der Fortschritt der Transplantationsmedizin ist atemberaubend, aber die Empfänger von Nieren und Lebern werden nicht müde, die Nebenwirkung der Medikamente zu beklagen, welche die Abstoßungsreaktionen des Körpers dämpfen. Natürlich ist es eine schöne Sache, von nahezu jedem Punkt der Erde aus mit den Lieben daheim in Verbindung treten zu können, aber wer von den ahnungslos drauflos Plaudernden weiß um die Gefahren des Elektrosmogs? " Das Leben", so lässt sich mit dem Zitat eines deutschen Philosophen resümieren", stellt sich dar als ein fortgesetzter Betrug, im Kleinen, wie im Großen. Hat es versprochen, so hält es nicht; es sei denn, um zu zeigen wie wenig Wünschenswert das Gewünschte war: so täuscht uns bald die Hoffnung, bald das Gehoffte. Hat es gegeben, so war es um zu nehmen. Der Zauber der Entfernung zeigt uns Paradiese, welche wie optische Täuschungen verschwinden, wenn wir uns haben hinäffen lassen. Das Glück liegt demgemäß stets in der Zukunft, oder auch in der Vergangenheit, und die Gegenwart ist einer kleinen Wolke zu vergleichen, welche der Wind über die besonnte Fläche treibt: vor und hinter ihr ist alles hell, nur sie selbst wirft stets einen Schatten."

Das Zitat stammt von Arthur Schopenhauer, dem ungeselligen König des philosophischen Pessimismus, der bis zu seinem Tod im Jahre 1860 mit seinem Pudel in Frankfurt lebte. Das Spiel stammt aus Deutschland und heißt: Mensch, ärgere Dich! Wir beherrschen es perfekt. Oder sollte ich sagen: es beherrscht uns?


Günter Franzen, Jahrgang 1947, lebt als freier Schriftsteller und Gruppenanalytiker in Frankfurt/Main. Buchveröffentlichungen u. a.: "Der Mann, der auf Frauen flog", Hamburg 1988. Komm zurück, Schimmi!", Hamburg 1992. "Ein Fenster zur Welt. Über Folter, Trauma und Gewalt", Frankfurt/Main 2000.